Die Ausstellung im Bochumer Kubus ist bis zum 3. Dezember 2017 zu sehen. Der 254-seitige Katalog "Wege zur Metropole Ruhr – Heimat im Wandel" ist im Klartext-Verlag erschienen und kostet 19,95 Euro.
"Das Ruhrgebiet hat seine alte Identität völlig verloren"
Kaum eine andere Region Deutschlands hat sich in den letzten Jahrzehnten so stark verändert wie das Ruhrgebiet. Eine Ausstellung in Bochum zeigt über 600 Bilder von Fabriken, Kreuzungen und Trinkhallen – und wie sich die Orte in den letzten 45 Jahren verändert haben.
Schon 1972 parkten Autos die Wege vor den Mietskasernen zu. Vor allem VW Käfer und Opel Kadett. Dazu hingen die Wäscheleinen voll und es gab Gemüseanbau in den Vorgärten. Ihr Grün ist oft der einzige Farbtupfer auf den kleinen Fotos, geschossen 1972 zwischen Duisburg und Dortmund. Der Soziologe Günter Fuderholz hat nun die damals ausgesuchten Orte wieder besucht und erneut abfotografiert:
"Der alte Grauputz ist verschwunden. Es hat viel Wärmedämmung stattgefunden. Viele alte Fassaden sind auch wieder hergestellt worden. Man hat sich halt bemüht, das zeitgemäß zu gestalten. Ob das jetzt immer besser ist, das will ich nicht beurteilen. Es ist auf jeden Fall anders."
Das belegt jedes, wirklich jedes der mehr als 600 Bilderpaare. Kein einziges Motiv konnte Günter Fuderholz genau so wieder ablichten wie zuerst im Jahr 1972. Der Wandel ist die einzige Konstante, wenn man die Bildausschnitte betrachtet - von den Wohngebieten, Einkaufsstraßen und Fabrikarealen des Ruhrgebiets. Geblieben sind die Macher des Fotoprojekts. Sie stellen die Bilder ohne Wertung nebeneinander, hierarchiefrei und heute wie damals: ungeschminkt. Günter Fuderholz nennt das notarielle Fotografie.
Graues Einerlei
"Wir waren damals als Forscher im ganzen Ruhrgebiet unterwegs. Und wir haben uns ein bisschen an offiziellen Fotobänden gestört. Ich karikier das jetzt mal ein bisschen. Wo da immer abgelichtet war: Rathaus, Stadttheater, Stadtpark, noch eine Kirche, Hochofen im Abendlicht und eine pittoreske Arbeitersiedlung. Da haben wir gesagt: Nein, so ist die Realität ja hier nicht. Wir wollten deshalb die tatsächliche Umwelt der mehreren Millionen Leute in der Breite darstellen. Das war der Ursprungsgedanke dieses Projektes."
Auf den nur 7 mal 10 Zentimeter großen Bildern von damals herrscht graues Einerlei. Umso wichtiger für die Erinnerung sind da die Ausnahmen. Wie bei dieser Ausstellungsbesucherin aus Bochum-Weitmar:
"Wenn die Hochöfen abgestochen wurden, dann war der Himmel rot. Und wir gingen dann raus, wir hatten ja kein Fernsehen. Und erfreuten uns, wenn das Christkind einen Kuchen oder Plätzchen gebacken hat. Heute ist manches für mich nicht besser geworden. Das muss ich leider sagen. Weil alles sehr beengt ist. Früher hatte man mehr Freiheit."
Früher gab es mehr Freiheit
Nach der Analyse der Bildinhalte kann der Fotograf und Soziologe Günter Fuderholz nachvollziehen, was mit dem Eindruck gemeint ist: Früher mehr Freiheit, heute alles sehr beengt:
"Die Straßen sind ja viel stärker kanalisiert als früher. Die Bordsteinkanten sind höher. Es gibt Gitter, wo es früher keine gab. Es gibt viel mehr Schilder als es früher gab. Alles ist regelhafter geworden, physisch gelenkter. In den Wohngebieten ist das teilweise auch so. Vor allem in den Einfamilienhausgebieten ist das auffällig: Wo früher niedrige Zäune waren oder gar keine Zäune, sind heute hohe Hecken. Man kann die Häuser häufig gar nicht mehr erkennen. Das heißt: Es hat eine Abkapselung der privaten Sphäre gegenüber dem öffentlichen Raum stattgefunden. Das ist auf einer Menge Fotos zu sehen."
Auch Joachim Scharioth ist Soziologe. Gemeinsam mit Günter Fuderholz hat er 1972 das Konzept für die Motivauswahl entwickelt. Heute steht er vor der großen Wand aus Fotos - und kann sie als repräsentative Quelle für weitergehende Analysen nutzen.
Die Güterzüge sind weg
"Dadurch, dass wir die Fotos behandelt haben, als ob sie Interviews waren, konnten wir auch Statistiken erstellen, was sich im Ruhrgebiet verändert hat."
Zum Beispiel wuchs der Anteil der Fotos mit Fahrradwegen von ein auf sechs Prozent. Dafür verschwanden die Güterzüge fast komplett. Außerdem hat Joachim Scharioth heute einen Farbvergleich, der ins Auge springt - wenn er ein paar Schritte nach hinten tritt:
"Wir haben das hier an die Wand geklebt: Das man deutlich sehen kann, dass das Ruhrgebiet 1972 zwar schon grün war. Aber von Schwarz und Grau beherrscht war. Heute ist es nochmal grüner geworden. Und außerdem ist das Ruhrgebiet so farbig wie jede andere Stadt in Deutschland. Man kann also sagen: Das Ruhrgebiet hat eigentlich seine alte Identität völlig verloren."
Reihenhäuser statt Schwimmbad
Seine Langezeitbeobachter kratzen auch am neuen Ruhrgebiets-Image: Das Motto "staubiges Fabrikgelände wird Naherholungspark mit tollen Radwegen" stimmt höchstens punktuell. So zeigt ein Fotopaar triste Reihenhäuser heute dort, wo früher ein großes Freibad mit riesiger Wiese war. Damit ist neben dem Wandel auch die Not der Stadträte dokumentiert, die mit dem Freibad eine schöne Errungenschaft opferten, um durch den Baulandverkauf einmal Geld in der Stadtkasse zu haben.