Ausufernder Monolog
Die Hauptfigur in Claudio Magris' Roman "Blindlings", ein Italiener namens Salvatore Cippico, erzählt in einem Sanatorium seine Lebensgeschichte und von einem beinahe unbekannten Detail der kommunistischen Diktatur in Jugoslawien: Dort sollte er 1949 "Bruderhilfe" leisten und wurde nach dem Bruch Titos mit Stalin interniert auf der Gefängnisinsel Goli Otok vor der Küste Istriens. Cippico bleibt als Figur seltsam blaß, die Handlung nur schemenhaft, Salvatores Monolog ist in Wahrheit ein Langgedicht in Prosa.
Blindlings schreitet die Geschichte voran. Sie macht es wie Admiral Nelson, der sein Fernrohr in einer berühmten Seeschlacht bewusst an sein blindes Auge hielt: "I'm damned if I see it."
Claudio Magris hat einen Roman geschrieben (einen Roman?), der Blinde sehend machen will. Die reichhaltige Schreckensgeschichte des 20. Jahrhunderts wird aufgerufen. Der Ich-Erzähler, ein Italiener namens Salvatore Cippico, hat sie am eigenen geschundenen Leib erfahren. Am Ende seines Lebens ist er Patient in einer Triestiner Heilanstalt und vertraut seine Geschichte dem Computer oder auch einem Tonband an, auf dass seinem behandelnden Arzt Cogoi die Augen aufgehen.
Es ist die Geschichte eines vormals gläubigen Kommunisten, dessen Herz in heftiger politischer Romantik für die "internationale Menschheit der Zukunft" schlug. Geboren als Sohn von Australien-Auswanderern, hatte er sich schon in den Arbeiterkämpfen der Südhalbkugel engagiert, bevor er in den Dreißiger Jahren nach Europa zurückkehrte. Er überlebte Dachau und wurde schließlich von den italienischen Genossen in Titos neugegründetes Jugoslawien geschickt: Tätige Bruderhilfe sollte er leisten beim Aufbau des Sozialismus. Als es 1949 jedoch zum spektakulären Bruch zwischen Tito und Stalin kam, standen die italienischen Kommunisten unvermittelt auf der falschen Seite - und wurden interniert auf der Gefängnisinsel Goli Otok.
Diese fast völlig kahle Steininsel vor der Küste Istriens, die heute um sonnenhungrige Adria-Touristen wirbt, ist ein wenig bekannter Ort des Terrors, an dem das Scheitern der Utopie besonders sinnfällig wird. Denn hier war der Genosse dem Genossen ein Wolf, hier marterten sich Glaubensbrüder gegenseitig, während sie in Dachau immerhin den Vorzug genossen (wie es an einer makabren Stelle des Buches heißt), von den wirklichen Feinden hingeschlachtet zu werden. Auf Goli Otok muss Salvatore Gulag-Arbeit leisten: Mitten im Winter, vom schaurigen Bora-Wind gepeinigt, stehen die Gefangenen im klammen Meerwasser, sammeln Steine und schaufeln Sand.
Es ist eine Ästhetik des gescheiterten Widerstands, die Magris in einem kataraktartigen Monolog zelebriert. An Peter Weiss erinnert die Parteilichkeit (viel ist von der "Partei" die Rede), die dem Buch denn auch einen etwas altbackenen Nachgeschmack verleiht - es hätte eher zum Zeitgeist der Siebziger Jahre gepasst. Ganz anders als bei Peter Weiss gestaltet sich die Erzähltechnik: Fern liegt Magris der detailgesättigte Realismus; die Leidensgeschichte der Genossen wird in ihren Stationen aufgerufen wie ein Märtyrerdrama, dessen christologische Substanz bei den Zuschauern längst vorausgesetzt werden kann.
Die Darstellung Goli Otoks hat deshalb wenig gemein mit jenen erschütternden Überlebensberichten von KZ- und Gulaghäftlingen, wie sie längst zum Kanon der Literatur des 20. Jahrhunderts gehören. Es handelt sich vielmehr um wortmächtige, aber wenig anschauliche Beschwörungen, die sich mit der Wiederholung einiger suggestiver Momente begnügen.
Dasselbe gilt überhaupt für die Biographie Salvatore Cippicos. Sie wird nur umrissen, wenig erfährt man über Eltern, Freunde oder Geliebte - letztere verdichten sich zu einer geradezu mythischen Frau namens Maria, die allein einen Lichtschimmer der Hoffnung und Liebe in das düstere Panorama bringt, ungeachtet ihres tragisches Todes.
Während der Figur des Ich-Erzählers auf der einen Seite realistische Konkretion fehlt, erfährt sie auf der anderen Seite eine phantasmagorische Erweiterung. Andere Stimmen lagern sich an und machen das "Ich" zum Chor. Vor allem identifiziert sich Salvatore (klinisch könnte man von einer Schizophrenie sprechen) mit einem dänischen Abenteurer der napoleonischen Zeit, Jorgen Jorgensen, dessen pralles Leben - Kindheit am Königshof, Ozeanreisen, Walfang, Teilnahme an legendären Schlachten, einige Wochen selbsternannter König von Island und schließlich Strafgefangener auf Tasmanien - die politische Biographie überlagert, durchdringt, zum Echoraum wird, in dem die Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts im neunzehnten widerhallen.
Wer dieses Buch des renommierten Gelehrten und Essayisten Claudio Magris als Roman liest, wird enttäuscht sein. Die Figuren (sofern es überhaupt welche gibt) bleiben blass, die Handlung schematisch, Salvatore ist eher ein Kollektivsubjekt als ein Individuum. Das Scheitern der sozialistischen Hoffnungen mag noch manchen schwer betroffen machen (solche Gefühlslage ist wohl eine Voraussetzung involvierter Lektüre), ein neues Thema ist es gewiss nicht. Wenig Originelles hat Claudio Magris hierzu zu sagen.
Der Reiz des Buches - und das ist vielleicht zu wenig - ist seine kraftvolle, rhapsodische Sprache. Salvatores ausufernder Monolog ist in Wahrheit ein Langgedicht in Prosa, ein Gesang, der sich über 414 geduldige Seiten erstreckt. Es gibt großartige Beschreibungen des Meeres und zahlreiche mythologische Anspielungen, vor allem auf die antike Argonautensage. Das Goldene Vlies wird zum Utopie-Symbol: Es ist die Rote Fahne, die traurig über diesem wortmächtigen Abgesang weht.
Rezensiert von Wolfgang Schneider
Claudio Magris: Blindlings
Roman. Aus dem Italienischen von Ragni Maria Gschwend.
Carl Hanser Verlag, München 2007.
414 Seiten, 24,90 Euro.
Claudio Magris hat einen Roman geschrieben (einen Roman?), der Blinde sehend machen will. Die reichhaltige Schreckensgeschichte des 20. Jahrhunderts wird aufgerufen. Der Ich-Erzähler, ein Italiener namens Salvatore Cippico, hat sie am eigenen geschundenen Leib erfahren. Am Ende seines Lebens ist er Patient in einer Triestiner Heilanstalt und vertraut seine Geschichte dem Computer oder auch einem Tonband an, auf dass seinem behandelnden Arzt Cogoi die Augen aufgehen.
Es ist die Geschichte eines vormals gläubigen Kommunisten, dessen Herz in heftiger politischer Romantik für die "internationale Menschheit der Zukunft" schlug. Geboren als Sohn von Australien-Auswanderern, hatte er sich schon in den Arbeiterkämpfen der Südhalbkugel engagiert, bevor er in den Dreißiger Jahren nach Europa zurückkehrte. Er überlebte Dachau und wurde schließlich von den italienischen Genossen in Titos neugegründetes Jugoslawien geschickt: Tätige Bruderhilfe sollte er leisten beim Aufbau des Sozialismus. Als es 1949 jedoch zum spektakulären Bruch zwischen Tito und Stalin kam, standen die italienischen Kommunisten unvermittelt auf der falschen Seite - und wurden interniert auf der Gefängnisinsel Goli Otok.
Diese fast völlig kahle Steininsel vor der Küste Istriens, die heute um sonnenhungrige Adria-Touristen wirbt, ist ein wenig bekannter Ort des Terrors, an dem das Scheitern der Utopie besonders sinnfällig wird. Denn hier war der Genosse dem Genossen ein Wolf, hier marterten sich Glaubensbrüder gegenseitig, während sie in Dachau immerhin den Vorzug genossen (wie es an einer makabren Stelle des Buches heißt), von den wirklichen Feinden hingeschlachtet zu werden. Auf Goli Otok muss Salvatore Gulag-Arbeit leisten: Mitten im Winter, vom schaurigen Bora-Wind gepeinigt, stehen die Gefangenen im klammen Meerwasser, sammeln Steine und schaufeln Sand.
Es ist eine Ästhetik des gescheiterten Widerstands, die Magris in einem kataraktartigen Monolog zelebriert. An Peter Weiss erinnert die Parteilichkeit (viel ist von der "Partei" die Rede), die dem Buch denn auch einen etwas altbackenen Nachgeschmack verleiht - es hätte eher zum Zeitgeist der Siebziger Jahre gepasst. Ganz anders als bei Peter Weiss gestaltet sich die Erzähltechnik: Fern liegt Magris der detailgesättigte Realismus; die Leidensgeschichte der Genossen wird in ihren Stationen aufgerufen wie ein Märtyrerdrama, dessen christologische Substanz bei den Zuschauern längst vorausgesetzt werden kann.
Die Darstellung Goli Otoks hat deshalb wenig gemein mit jenen erschütternden Überlebensberichten von KZ- und Gulaghäftlingen, wie sie längst zum Kanon der Literatur des 20. Jahrhunderts gehören. Es handelt sich vielmehr um wortmächtige, aber wenig anschauliche Beschwörungen, die sich mit der Wiederholung einiger suggestiver Momente begnügen.
Dasselbe gilt überhaupt für die Biographie Salvatore Cippicos. Sie wird nur umrissen, wenig erfährt man über Eltern, Freunde oder Geliebte - letztere verdichten sich zu einer geradezu mythischen Frau namens Maria, die allein einen Lichtschimmer der Hoffnung und Liebe in das düstere Panorama bringt, ungeachtet ihres tragisches Todes.
Während der Figur des Ich-Erzählers auf der einen Seite realistische Konkretion fehlt, erfährt sie auf der anderen Seite eine phantasmagorische Erweiterung. Andere Stimmen lagern sich an und machen das "Ich" zum Chor. Vor allem identifiziert sich Salvatore (klinisch könnte man von einer Schizophrenie sprechen) mit einem dänischen Abenteurer der napoleonischen Zeit, Jorgen Jorgensen, dessen pralles Leben - Kindheit am Königshof, Ozeanreisen, Walfang, Teilnahme an legendären Schlachten, einige Wochen selbsternannter König von Island und schließlich Strafgefangener auf Tasmanien - die politische Biographie überlagert, durchdringt, zum Echoraum wird, in dem die Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts im neunzehnten widerhallen.
Wer dieses Buch des renommierten Gelehrten und Essayisten Claudio Magris als Roman liest, wird enttäuscht sein. Die Figuren (sofern es überhaupt welche gibt) bleiben blass, die Handlung schematisch, Salvatore ist eher ein Kollektivsubjekt als ein Individuum. Das Scheitern der sozialistischen Hoffnungen mag noch manchen schwer betroffen machen (solche Gefühlslage ist wohl eine Voraussetzung involvierter Lektüre), ein neues Thema ist es gewiss nicht. Wenig Originelles hat Claudio Magris hierzu zu sagen.
Der Reiz des Buches - und das ist vielleicht zu wenig - ist seine kraftvolle, rhapsodische Sprache. Salvatores ausufernder Monolog ist in Wahrheit ein Langgedicht in Prosa, ein Gesang, der sich über 414 geduldige Seiten erstreckt. Es gibt großartige Beschreibungen des Meeres und zahlreiche mythologische Anspielungen, vor allem auf die antike Argonautensage. Das Goldene Vlies wird zum Utopie-Symbol: Es ist die Rote Fahne, die traurig über diesem wortmächtigen Abgesang weht.
Rezensiert von Wolfgang Schneider
Claudio Magris: Blindlings
Roman. Aus dem Italienischen von Ragni Maria Gschwend.
Carl Hanser Verlag, München 2007.
414 Seiten, 24,90 Euro.