Vorfreude berechtigter denn je
Die Auswahl für das diesjährige Theatertreffen hat - anders als sonst - nur gedämpfte Kritik hervorgerufen. Die deutlich verjüngte Jury hat dieses Mal auf prominente Namen verzichtet. Theaterfreunde können so gespannt sein wie schon lange nicht mehr, meint André Mumot.
Eigentlich ist es doch immer dasselbe: Kaum hat die amtierende Jury verkündet, welche zehn Inszenierungen angeblich die bemerkenswertesten des vergangenen Jahrgangs gewesen sind, geht es los: Das große Stöhnen, Ächzen und Kopfschütteln. Schon wieder keine Produktionen der freien Szene? Warum, fragt man, werden immer wieder dieselben Häuser, dieselben Regisseurinnen und Regisseure eingeladen? Hat der deutsche Osten wirklich nichts zu bieten? Kann es noch langweiliger, noch weniger repräsentativ werden?
Kein Burgtheater, kein Martin Wuttke
In diesem Jahr jedoch ist scheinbar alles anders. Es herrscht eine verdächtige Ruhe. Kritik gibt es durchaus, wie immer, doch fällt sie sehr gedämpft und zögerlich aus. Eine neue Jury hat gewählt, eine jüngere, unverbrauchtere, weiblichere, die sich aus vier Frauen und drei Männern zusammensetzt, nur Till Briegleb und Stephan Reuter sind aus dem ursprünglichen Team geblieben. Diese sieben Kritikerinnen und Kritiker haben offensichtlich genau gespürt, wie hoch die Erwartungen an sie gewesen sind. Vor allem eins hat man sich gewünscht: Dass sie die deutschsprachige Theaterlandschaft in ihrer Vielfalt anerkennen und sich nicht allzu sehr von großen Namen becircen lassen. Und tatsächlich: Es wird ein wenig abgespeckt in Sachen Promi-Glamour: Kein Burgtheater diesmal, kein Martin Wuttke, keine Birgit Minichmayr. Edgar Selge darf seine von Karin Baier inszenierte und viel gerühmte Hamburger Solo-Show nach Houellebcqs "Unterwerfung" nicht in Berlin zeigen, und Marthalers letzter Volksbühnenabend ist ebenfalls nicht eingeladen. Dafür aber Herbert Fritsch, mit dem man bekanntlich immer auf Nummer Sicher geht. Dass seine musikalisch schrille "Pfusch"-Akrobatik lediglich ein virtuoser Flickenteppich bleibt, ist dabei ziemlich egal: Schließlich muss ja auch mal gelacht werden beim Theatertreffen.
Kunstvolle Anspielungen und Assoziationen
Es wird auch 2017 das ein oder andere Wiedersehen geben, jedoch vor allem mit den Vertretern einer neuen Regietheatergeneration: Simon Stone ist dabei mit seiner Baseler Tschechow-Überschreibung der "Drei Schwestern", Tom Luz mit seinem "Traurigen Zauber" aus Mainz, und Ersan Mondtag führt in seiner Berner Inszenierung von "Vernichtung" Marionettenmenschen in gewohnt ausgefeilten Bühnenbildsettings vor. Was wirklich auffällt, ist die Lust an der Theaterkunst, die die Jury angetrieben zu haben scheint. In Zeiten des ganz realen politischen Wahnsinns, setzt die Auswahl eher auf kunstvolle Anspielungen und Assoziationen, weniger auf Thesen- und Argumentationstheater. Bildgewaltig und verstiegen soll es werden in diesem Jahr, und das ist ganz gewiss ein Grund zur Freude: Ulrich Rasches Räuber-Inszenierung aus dem Residenztheater München macht den Klassiker zum vierstündigen Überwältigungstheater auf Laufbändern, und Kay Voges Dortmunder "Borderline-Prozession" bespielt gleich ein ganzes Haus mit einem zitatenreichen Gesamtkunstwerk.
Nur eine Frau im Rennen
Es wird durchaus traditionelle Großbühnen-Momente geben, nicht zuletzt, wenn Johan Simons seinen Hamburger "Schimmelreiter" galoppieren lässt, selten aber war soviel konsequent Experimentelles zu sehen. Nicht nur die Ästhetik der freien Szene ist mit von der Partie, diesmal haben es auch tatsächlich freie Produktionen geschafft: Die Gruppe "Forced Entertainment" gibt ihr überfälliges Theatertreffen-Debüt mit der Performance-Quizshow "Real Magic". Und für die hitzigsten Diskussionen dürfte Milo Rau sorgen – mit seinem in internationaler Koproduktion entstandenen Abend über den belgischen Kindermörder Marc Dutroux – schließlich ist er ausschließlich mit Kindern besetzt.
Ach ja, ein wenig rumort es doch in den Diskussionen und Kommentarspalten. Nur eine Frau geht ins Rennen? Dafür ist dann allerdings Claudia Bauers Leipziger Adaption von Peter Richters Wenderoman "89/90" eine Inszenierung, die Vergangenheit und Gegenwart verbindet, Musik, Theater, Witz und Literatur. Und die zeigt, dass im deutschen Osten eben doch großes Theater entsteht. Alles richtig gemacht also? Im Mai wird sich herausstellen, wie all das zusammenfindet, sich gegenseitig abstößt und befruchtet, wieviel Begeisterung und wie viel Kopfschütteln die zehn Inszenierungen provozieren, wenn sie so dicht zusammenrücken und sagen: "Wir sind’s, das deutschsprachige Gegenwartstheater!" So gespannt sein wie in diesem Jahr konnten wir darauf jedenfalls schon lange nicht mehr.