Auswanderung ins Bordell

Von Alice Lanzke |
Millionen Menschen suchten in den Jahrzehnten um 1900 ihr Glück in der Fremde. Für Zehntausende der ausgewanderten Frauen, darunter viele Jüdinnen, führte der Weg direkt in die Prostitution. Eine Doppelausstellung in Berlin und Bremerhaven begibt sich auf ihre Spuren.
Der Brief, den die Eltern von Olga Koprivec 1912 von ihrer Tochter erhalten, ist schockierend: Sie werde im "Schwarzen Kaffeehaus" in Zagreb fest gehalten, schreibt sie in die slowenische Heimat. In dem Haus würden Mädchen "wie Kühe und Kälber" verkauft und gezwungen, ein bis zwei Jahre zu bleiben. "Das Übrige müsst Ihr Euch selbst denken", schließt sie.

Der entsetzte Vater geht mit dem Brief zur Polizei – tatsächlich werden Ermittlungen aufgenommen und Koprivec in Zagreb ausfindig gemacht. Doch bei der Vernehmung gibt die junge Frau etwas ganz anderes an: Sie wohne freiwillig in dem Haus. "Ich will jetzt absolut nicht aus dem Bordell treten, da ich hier ganz zufrieden bin", sagt sie. Ob sie zu dieser Aussage gezwungen und bedroht wurde, ist nicht mehr herauszufinden - die Polizei schließt die Akte.

Fälle wie diesen gab es in den Jahrzehnten um 1900 zu Zehntausenden. Mädchen und junge Frauen, die fernab der Heimat eine neue Existenz suchten – und in der Prostitution landeten. Von ihrem Schicksal erzählt die Doppelausstellung "Der Gelbe Schein. Mädchenhandel 1860 bis 1930", die derzeit im Berliner Centrum Judaicum und dem Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven zu sehen ist. Bei so vielen Fällen gebe es doch eine Gemeinsamkeit, erklärt Kuratorin Irene Stratenwerth:

"Es ist natürlich jede Lebensgeschichte anders und man sollte die Lebensgeschichten auch in ihrer Komplexität sehen. Aber ich muss sagen, wir sind in unseren Recherchen auf keine Frau gestoßen, die jetzt wirklich die Wahl hatte. Es sind eben immer Frauen, die aus armen Verhältnissen kommen, die aus vielen Gründen chancenlos waren, die wenig Zugang zu Bildung hatten oder die auch in eine Zwangslage geraten sind."

Manche der Frauen wurden mit Gewalt verschleppt, andere glaubten märchenhaften Versprechungen. So wie Paula Waismann. Die junge polnische Jüdin lernt bei der Beerdigung ihres Großvaters einen 20 Jahre älteren, angeblichen Geschäftsmann kennen. Shulim Babki umwirbt das Mädchen und verspricht, sie nach Paris zu bringen. Von einem Tag auf den anderen beschließt Paula, alles hinter sich zu lassen und Babki zu folgen – obwohl sie seit einer Woche verheiratet ist.

Kurze Zeit später wird das Paar bei Danzig verhaftet – und Paula ist entsetzt zu erfahren, dass ihr Begleiter als "internationaler Mädchenhändler" gesucht wird. Sogar einen gefälschten Pass hat er schon für sie besorgt und ein Visum für Mexiko eintragen lassen – damals ein beliebtes Ziel für den Mädchenhandel. Nach sechs Monaten in einem jüdischen Heim darf Paula zu ihrer Familie zurückkehren – angeblich schwanger von Babki.

Mädchenhandel und Prostitution – beileibe keine originär jüdischen Probleme. Aber unter den Opfern und den Tätern befanden sich eben auch Juden. So herrschte in den jüdischen Gemeinden Angst vor altbekannten Vorurteilen, wie Kuratorin Stratenwerth erklärt:

"Es gibt natürlich dieses alte, viel benutzte Klischee des "entsittlichten Juden". Es gab schon Ende des 19. Jahrhunderts Schriften, die hießen "Judenbordelle" und ähnliches. Und es gab eben in der Jüdischen Gemeinde große Furcht davor, dass wenn bekannt wird, dass jüdische Mädchen in der Prostitution sind und jüdische Zuhälter da auch tätig sind, dass sofort wieder gesagt wird: Ach, da sieht man ja, wie die Juden sind."

In der Folge ist über den Mädchenhandel um die Jahrhundertwende und vor allem über den jüdischen Mädchenhandel nur wenig bekannt. Doch nicht nur die Angst vor antisemitischen Ressentiments erschwerte die offene Aufarbeitung. Auch das Thema Prostitution als solches ist traditionell eher mit Scham behaftet. Das merkten die Ausstellungsmacher, als sie sich auf die Suche nach einem der für die Schau titelgebenden Gelben Scheine machten. So sagt Hermann Simon, Direktor des Centrum Judaicum:

"Was da natürlich so ein wenig schambehaftet ist: Wir haben die Ausstellung ja genannt "Der Gelbe Schein", der sozusagen als Symbol für das ganze Thema steht. Es war schwierig, einen gelben Schein zu finden. Wo sucht man? Das war ein medizinischer Ausweis, den seit den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts in Russland Frauen bekommen haben, die dafür aber ihr Personaldokument abgeben mussten. Das heißt: 99,9 Prozent dieser so genannten gelben Scheine befinden sich heute in Familienbesitz. Und wer sagt denn: Ich habe so was hier zu Hause von meiner Oma?"

Auch, wenn das Thema in der Rückschau tabuisiert wirkt, versuchten doch schon damals, jüdische und nicht-jüdische Organisationen, den Frauen zu helfen. Selbst auf der Rabbinerversammlung 1902 in Frankfurt am Main wurde deren Notlage in einem Vortrag angesprochen. Das ist allerdings nicht der Fokus der Doppelausstellung, wie Hermann Simon betont:

"Wir wollten nicht - so wichtig und so interessant es auch ist - den Kampf der jüdischen und anderer Organisationen dagegen zeigen, sondern wir haben uns die Frage gestellt: Finden wir denn irgend welche Aussagen zu Einzelschicksalen? Und wir haben gefunden."

Vor allem Jüdinnen aus Osteuropa fielen den Mädchenhändlern zum Opfer: Armut, Chancenlosigkeit und Antisemitismus trieben viele von ihnen dazu, fernab der Heimat ihr Glück zu suchen. Gingen die Auswanderungswege dabei zunächst vor allem gen Russland, veränderte die Industrialisierung um 1900 die Routen. Per Dampfschiff wurden immer mehr Frauen in die Neue Welt geschickt.

Eines der Hauptziele des internationalen Mädchenhandels war Lateinamerika. So waren zu jener Zeit etwa allein in Buenos Aires mehr als 4.000 Jüdinnen als Prostituierte registriert. Briefe, Fotos, Polizeiakten und Botschaftsdokumente erzählen vom Schicksal der Frauen. Sie lassen erahnen, wie ihr Leben in der Prostitution aussah: am Rand der Gesellschaft, einsam und krank.

Eindrucksvoller als diese Momentaufnahmen sind aber die übergroßen Porträts der vorgestellten Frauen. Es sind Fotos, die von einer hoffnungslosen Enttäuschung erzählen, manchmal gepaart mit überraschender und überraschter Naivität – als wüssten die Abgelichteten selbst nicht so genau, wie sie in ihre Lage gelangen konnten. So hat Hermann Simon Recht, wenn er sagt:

"Diese Schicksale sind alle berührend - und gucken Sie sich einfach mal diese Bilder der Frauen an: Die sprechen."