Auswirkungen der TV-Serie "Holocaust"

Dieses Mitleid mit den Opfern war neu

Filmszene: Nackte Männer, davor Wehrmachtssoldaten an Maschinengewehren
Szene aus dem dritten Teil der Serie "Holocaust" © WDR/Worldvision Enterprises Inc.
Von Christian Berndt |
Die US-Serie "Holocaust" über den Leidensweg einer jüdischen Familie wurde als "Seifenoper" und als Beleidigung der Opfer kritisiert. Aber die Serie erreichte ungeahnte Einschaltquoten und brach in vielen Familien das Schweigen über die NS-Verbrechen.
An diese Szene kann ich mich gut erinnern: Deutsche Soldaten treiben Juden in eine Synagoge und zünden das hölzerne Gebäude an. Als ich jetzt nach 40 Jahren die amerikanische Fernsehserie "Holocaust" zum ersten Mal wiedergesehen habe, kamen mir einige Szenen überraschend bekannt vor. Als der erste der vier Teile am 22. Januar 1979 ausgestrahlt wurde, war ich zehn Jahre alt. Damals saß unsere ganze Familie vor dem Fernseher, und meine Schwester schrieb ins Tagebuch:
"Eben sah ich den Film ´Holocaust`. Er handelt von Juden und entspricht der Wahrheit. Was waren die Deutschen so grausam. Der Film handelt hauptsächlich von der Familie Weiss. Die beiden Söhne sind nicht gut dran. Der eine ist in so einem Lager und muss Steine klopfen. Der andere Sohn, Rudi, ist geflüchtet."

Kritik an der Ausstrahlung in der Bundesrepublik

Die Ausstrahlung in der Bundesrepublik war hoch umstritten. Der amerikanische Fernsehsender NBC hatte "Holocaust" produziert, um an den Erfolg der ABC-Sklaverei-Serie "Roots" anzuknüpfen – mit Erfolg. "Holocaust" wurde 1978 nach "Roots" zum zweitgrößten Erfolg der amerikanischen Fernsehgeschichte. Aber es gab auch Kritik an der Serie, die parallel am Beispiel einer fiktiven jüdischen Familie und eines SS-Mannes die Entwicklung der Shoah von 1935 bis 1945 erzählt. Der Holocaustüberlebende Elie Wiesel sprach von einer Seifenoper, die eine Beleidigung für die Opfer sei. Als es um eine Ausstrahlung in der Bundesrepublik ging, waren viele Kommentare ablehnend:
"Es gab eine negative Tendenz in der Fernsehkritik, im Feuilleton: Das Thema ist wichtig, das sollte man schon machen, aber das ist eigentlich der Sache nicht angemessen, diese Serie. Das ist eine Soap Opera mit Klischees und Dramatisierungen amerikanischer Art, und das sollte man gerade bei diesem Thema nicht machen."
So der Medienhistoriker Christoph Classen. Der Spiegel schrieb:
"´Holocaust` vertreibt Geschichte im Format eines Familienalbums, der Völkermord schrumpft auf Bonanza-Maße."
Hinter der oft hämischen Kritik standen aber auch andere Motive:
"Auf der konservativen Seite der Politik gab es, glaube ich, eine Doppelmoral nach dem Motto, wir schieben dieses ästhetische Argument vor, weil wir es im Kern als Nestbeschmutzung empfinden. Franz Josef Strauß ist wahrscheinlich so ein Beispiel, der sich ja sehr negativ geäußert hat."


Strauß meinte, wenn man "Holocaust" zeige, müsse man auch die Vertreibung thematisieren. Die Entscheidung der ARD-Programmdirektoren fiel knapp zugunsten der Serie aus. Weil der Bayerische Rundfunk drohte auszusteigen, sendete man zeitgleich ab 21 Uhr in allen dritten Programmen. Der Historiker Wolfgang Benz erinnert sich:
"Ich war vor der Ausstrahlung häufig beim WDR – der federführenden Anstalt – tätig und habe deshalb die große Sorge und Angst der Fernsehschaffenden mitbekommen. Die zitterten wie Espenlaub, weil sie fürchteten, das könnte zu einem Aufstand der Rechtsextremen führen."
Die Schauspielerin Meryl Streep in einer Szene der US-amerikanischen Fernsehserie "Holocaust"
Die Schauspielerin Meryl Streep als Inga Helms Weiss in einer Szene der US-amerikanischen Fernsehserie "Holocaust".© picture alliance/dpa

Serie erreichte ungeahnte Einschaltquoten

Es gab tatsächlich Anschläge auf Sendemasten. Aber die Serie erreichte ungeahnte Einschaltquoten, die sich von Folge zu Folge auf 41 Prozent steigerten. Im Anschluss an jede Folge lief bis 0.30 Uhr eine Diskussion mit Wissenschaftlern, Zeitzeugen und Holocaustüberlebenden, die Zuschauerfragen beantworteten. Der Historiker Julius H. Schoeps wertete damals die Anrufe aus:
"Mit diesem Erfolg hatten wir nicht gerechnet. Die Telefone beim WDR waren überlastet, es führte sogar dazu, dass die Leute Taxi-Telefone angerufen und dort hineingesprochen haben. Und ich muss sagen, das hat uns alle sehr bewegt – die emotionale Aufregung, die diese Filmserie hervorgerufen hat."
Ausschnitt "Anruf erwünscht": "Wir haben im Studio seit Montagabend 6900 Anrufe, nicht gezählt Hunderte von Zuschriften, Telegrammen, Briefen und Postkarten. Aber auch von Dokumenten. Das ist neu. Es haben viele ehemalige Wehrmachtsangehörige Briefe geschickt, Fotos geschickt, haben gesagt, es war wirklich so."
"Eine unglaubliche Quelle zur Mentalitätsgeschichte der Deutschen hat sich da eröffnet durch die Briefe, in denen die Menschen ihre Herzen öffneten und überwiegend zum allerersten Mal davon sprachen, was sie gesehen und erlebt hatten."
Es gab aber auch andere Anrufe:
"Ein Drittel der Anrufer erklärte: Was da in dem Film gezeigt wird, das ist doch alles erfunden."

Ausschnitt "Anruf erwünscht": "Es gibt eine Reihe von Anrufen, die sagen, in unserer Familie passiert eine Katastrophe, wenn Sie nicht klarstellen den Unterschied zwischen Erschießungskommandos und der SS. Eine Hamburgerin hat durchtelefoniert: Mein Mann war bei der SS. Ich frage ihn unentwegt: warst Du dabei? Und er beteuert immer wieder, er hat nichts gemacht."


Der Holocaust drang ins deutsche Wohnzimmer. Vielleicht erinnere ich mich deshalb so gut, weil zu spüren war, dass es auch die eigene Familie anging. Meine Mutter warf meiner Oma immer wieder vor, dass sie ihr als Kind gesagt habe, sie solle die Straßenseite wechseln, wenn sie Leuten mit einem gelben Stern begegne. Auch die nachfolgende Diskussionssendung durfte ich anschauen. Eine Zuschauerreaktion habe ich bis heute nicht vergessen:
Das Bild zeigt eine Szene aus der US-amerikanischen Fernsehserie "Holocaust", in der deportierte Juden auf dem Weg ins Konzentrationslager durch den Schnee gehen.
Deportation ins Konzentrationslager: Eine Szene aus der US-Fernsehserie "Holocaust" von Marvin Chomsky© picture-alliance / dpa
Ausschnitt "Anruf erwünscht": "Und schließlich die vielleicht radikalste Stellungnahme von einer anonym bleibenden Zuschauerin ohne Orts- und Altersangabe, heute um 21.20 Uhr: Man hätte alle Juden umbringen sollen."
Aber zwei Drittel der Zuschauer zeigten sich erschüttert. Dabei war die Serie in ihrer Darstellung noch zurückhaltend. Das Warschauer Ghetto wirkt im Vergleich zu den wahren Zuständen, die dort herrschten, fast harmlos. Aber von Soap Opera konnte keine Rede ein: Sehr nachvollziehbar und ohne übertriebene Dramatik lässt die Serie die wachsende Isolation der jüdischen Familie erfahrbar werden. Und anschaulich wird beschrieben, wie früh schon die Planungen für den Massenmord begannen. Auch Marcel Reich-Ranicki verteidigte damals den Film:
"Der Kunstwert dieser Produktion ist minimal, im Wesentlichen wird aber dadurch nichts geändert an dem außerordentlichen Wert des Films. Die Wirkungen, die Holocaust jetzt schon gezeitigt hat, sind nicht mehr rückgängig zu machen, und das ist positiv."

Schilderung persönlicher Leidenswege weckte Empathie

Gerade Holocaustüberlebende sprachen sich für die Serie aus. Die Schilderung persönlicher Leidenswege bis hin in die Gaskammer weckte Empathie für die Opfer, an denen die deutsche Öffentlichkeit bis in die 70er-Jahre kein Interesse gezeigt hatte:
Schoeps: "Ich behaupte bis zum heutigen Tag, die Aufarbeitung der NS-Verbrechen fängt im Grunde mit diesem Film erst richtig an. Damals habe ich mit Studenten untersucht, was an deutschen Universitäten zu diesem Thema angeboten wird, und da gab es zu dieser Zeit kaum Veranstaltungen."
Für Christoph Classen war der Boden allerdings schon bereitet:
"Es gibt in den 70er-Jahren schon eine Tendenz, sich stärker mit den jüdischen Opfern zu beschäftigen. Das merkt man schon im Vorjahr, 1978, als es erstmals größere Gedenkveranstaltungen zum Novemberpogrom gibt, sehr stark initiiert von der evangelischen Kirche. Und Holocaust ist dann ein Anlass, der diesen Wandel in der Öffentlichkeit sehr stark markiert.
Wolfgang Benz erinnert sich, dass es noch Jahre dauerte, bis sich die Einstellungen wandelten.
"So bis 1985 hat sich niemand für Opfer interessiert. Die Stellen der ehemaligen Konzentrationslager waren mit einem winzigen Etat ausgestattet, und die alten Häftlinge haben sich darum gekümmert. Die Zeit – nicht zuletzt wegen des Films ´Holocaust` – der Zeitzeugen ist erst dann heraufgedämmert."
In den Medien änderte sich etwas. Der "Spiegel" schrieb plötzlich von einer historischen Woche, der Begriff Holocaust wurde zum Wort des Jahres. Die Häme verschwand, weil eine amerikanische Serie erreicht hatte, was bislang nicht gelungen war – die bundesdeutsche Gesellschaft in ein Gespräch über die Grausamkeiten der NS-Zeit zu bringen.
Bei uns zuhause wurde schon vor der Serie darüber gesprochen, aber was das alles konkret bedeutete, habe ich in einer der für mich damals schlimmsten Szenen der Serie erfahren. Die Tochter wird von SA-Leuten vergewaltigt, und die Familie kann nichts unternehmen, weil sie Jüdin ist. Dieses Unrecht hat sich mir so tief eingeprägt, dass ich bis heute Hemmungen hatte, die Serie wieder anzuschauen.
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