Auszeiten im Profi-Sport

Erst Silber, dann Gold, dann ausgebrannt

Die Spieler vom Fußball-Zweitligisten TSV 1860 München posieren am 26.08.2015 in München (Bayern) für ein Mannschaftsfoto.
Mannschaftsfoto © picture alliance / dpa / Sven Hoppe
Von Hanns Ostermann |
Zu viel Sport kann krank machen. Ein zu umfangreicher Wettkampfkalender, übersteigerter Ehrgeiz, die Ansprüche von Gesellschaft und Sponsoren sorgen nicht selten dafür, dass Athleten oder Trainer ausbrennen. Doch allmählich erkennt man in der Branche die Bedeutung der Pause.
Alle haben gut durchgehalten, Superleistung bisher, am Anfang etwas nervös, aber dann ging es, fand ich... keine Wechselfehler mehr, direkt abklatschen...
Kühl und regnerisch ist es an diesem Sonnabend Nachmittag Anfang September. In einem kleinen Berliner Stadion spielen Pfarrer gegen Imame. Ein besonderer Kick, bei dem nicht nur Tore fallen, sondern Vorurteile abgebaut werden sollen. In der Halbzeitpause erklärt Mark Pockrandt, ein junger Theologe vom Prenzlauer Berg, was in der zweiten Halbzeit besser laufen sollte:
"Ansonsten müssen wir im Mittelfeld die Bälle viel mehr fordern von der Abwehr, die Abwehr hängt völlig in der Luft, ... da haben wir eine Riesenlücke. Und die müssen wir füllen. Und dafür ist das Mittelfeld da..."
Alle – ob Pfarrer oder Theologiestudent, leitender Kirchenmann oder Diakonie-Krisenhelfer – hören aufmerksam zu. In der Halbzeitpause. Der Körper kann sich da eine Erholungsphase nehmen. Christian Finke kennt sich aus mit Pausen. Der Rechtsaußen der Mannschaft ist im Hauptberuf Kirchenmusiker:
"Ich denke, dass Stille dafür notwendig ist, auch Kraft zu tanken und Energie zu schöpfen, um dann – sagen wir mal in der Musik – die nächste Phrase zu gestalten oder das Musikstück weiter zu führen. Für mich ist das eine Tankstelle... und ohne Stille, ohne Pausen kann keine Musik funktionieren. Denn wenn immer nur Geräusch und Musik ist, dann ist es auslaugend."
Spitzensportler sind nicht selten ausgelaugt: Sie hetzen von Termin zu Termin und unterliegen einem enormen Druck. Groß sind die Erwartungen an sich selbst. Hinzu kommen die Hoffnungen der Zuschauer, der Einfluss von Medien und Sponsoren. Fehlen bewusste Auszeiten und Pausen oder kommen andere Interessen zu kurz, dann kann es ein böses Erwachen geben:
Einen Herzinfarkt auf dem Golfplatz erlitten
Eine Auszeit der ganz besonderen Art erlebte Peter Neururer. Der heute 60-jährige Fußballlehrer arbeitete unter anderem in Köln, Hannover, Schalke, Berlin und in Bochum. Anfang Juni 2012 stand der leidenschaftliche Golfer auf einer Anlage in Gelsenkirchen. Dann passierte es:
"Ich habe einen Herzinfarkt erlitten an der 17 bei uns während eines Golfturniers und bin mehrfach wiederbelebt worden und habe eigentlich mehr Glück gehabt als man als Mensch überhaupt haben kann. Denn der Vorfall, wie er mir beschrieben wurde von meinem Freund, Vereinsarzt des VfL Bochum, sah so aus: Von 100 Fällen dieser Art enden 99 tödlich. Der eine überlebt mit großen Schäden. Die Schäden, die ich jetzt habe, hatte ich vorher auch schon. Von daher kann ich mich als glücklich schätzen."
Er sei zwar ein Hochleistungsraucher gewesen, erzählt Peter Neururer. Doch insgesamt habe er sich gesund gefühlt. Auch ein zu hoher Blutdruck sei ihm nicht aufgefallen. Allerdings erlebte er in dieser Zeit für sich unglaublichen Stress: Er hatte keinen laufenden Vertrag als Trainer:
"Arbeit ist bei mir Erholung! Und alles, was dazwischen liegt – wenn ich nichts zu tun habe, wenn ich mit meiner Harley rumfahre, wenn ich Golf spiele, wenn ich Freizeit genieße, ist das für mich kein Genuss – sondern ist das für mich purer Stress. Denn das, was ich so liebe, den Fußball, der hat leider wenig damit zu tun. Und in der Situation, so die Aussage des Arztes, wenn Du im Job gewesen wärest, wäre dir das nicht passiert."
Keinen Vertrag als Trainer zu haben – für Peter Neururer war und ist das ein schwer zu ertragender Zustand:
"Das Telefon ist in der Phase, wo du arbeitest, ich arbeite, oftmals ein störender Moment. Das Telefon, wenn du nicht im Job bist, ich nicht im Job bin, kann der große Rettungsanker sein. Und wenn ich dann auf einen Anruf von Berlusconi oder von wem auch immer gehofft habe, und plötzlich ist am anderen Ende meine Mutter, dann hat sie das große Pech gehabt, emotional wie ich halt bin, leck' mich doch einer am Huf."
Peter Neururer lag damals Anfang Juni 2012, vier Tage lang im Koma. Nachhaltig in Erinnerung sei ihm vor allem ein Erlebnis während der Reha; es war eine Übung mit einem leichten Gummiball:
"Diesen Ball sollte ich meinem gegenüber stehenden, herzinfarktgeschädigten 85-Jährigen zupritschen. Und das bitte über eine Minute. Darauf habe ich meine Therapeutin gefragt, ob sie nicht ganz dicht wäre. ... Als ich das dann eine Minute versucht habe, und dabei bei mir selbst festgestellt habe, als wäre ich drei Mal einen Marathon gelaufen, da habe ich gedacht: Moment mal, was ist mit dir los?"
Demütig sei er geworden, erzählt Peter Neururer. Von seinem Ziel aber lässt er sich bis heute nicht abbringen:
"Die schönsten Momente in meinem Leben – neben der Familie – hat mir der Fußball gegeben. Warum soll ich auf die schönsten Momente verzichten, zumal ich noch einen Traum habe – mein Traum ist, einmal die Schale in der Hand zu halten."
Und die Sorge seiner Frau, seiner Familie, dass noch einmal ähnliches passieren könnte? Wie geht er damit um?
"Ja, hat meine Frau gesagt. Meine Frau weiß aber ganz genau, so hat sie mich kennengelernt, dass ich ohne Fußball ein ganz anderer Mensch bin... Ich sage zum Beispiel, wenn ich nicht so ein wahnsinnig gutes Familienleben hätte mit meinen beiden Kindern und meiner Frau, hätte ich niemals die Möglichkeit, im Fußball das meinen Spielern rüberzubringen, was ich in den letzten Jahren immer versucht habe, rüberzubringen. Zusammengehörigkeitsgefühl, Spaß, gemeinsam Dinge auch im schlechten Bereich durchzustehen, ohne meine Familie ginge das gar nicht."
Peter Neururer bleibt sich und seiner Einstellung treu; er verlässt nicht das Hamsterrad, sondern hofft auf einen neuen Verein, eine neue Herausforderung im Fußball.
"Bin ratlos und verwirrt"
Eine Auszeit anderer Art erlebte Sven Hannawald. Vor rund 13 Jahren gelang ihm, was bislang noch keiner geschafft hat bei der Vierschanzen-Tournee:
"Er hat es geschafft... er ist unsterblich geworden, wenn Sie mir den Ausdruck gestatten, in der Springerwelt. Der erste Mensch, der es geschafft, in 50 Jahren Tourneegeschichte vier Springen hintereinander zu gewinnen!"
Sven Hannawald war damals 27 Jahre alt, in diesem Winter 2002 sprang er von Erfolg zu Erfolg: Neben der Vierschanzentournee gewann er auch noch Silber und Gold bei den anschließenden Olympischen Spielen. Nur wenig später allerdings fiel er in ein tiefes Loch, in eine Depression, die Hannes Wader in einem seiner Lieder so beschreibt:
"Hab mich in vielen Dingen
verschätzt und oft geirrt.
Zu viel will mir misslingen,
bin ratlos und verwirrt.
Ich habe meine Hände
nicht weniger gerührt
als andere, doch hat es am Ende,
scheint mir, zu nichts geführt."
"Der Tag war mir schon lang. Da habe ich mich mittags schon danach gesehnt, hoffentlich wird es bald dunkel, dass ich endlich wieder schlafen kann. Weil ich gemerkt habe, ich habe keine Energie, mit mir was anzufangen. Wenn man irgendwie nur rumhängt, ist man das als Leistungssportler nicht gewöhnt, weil man doch immer in seinem Trainingsalltag war. Das war so eine Pause, die für den Körper das Wichtigste war zu der Zeit damals, der Kopf aber gemerkt hat, das ist ganz schön langweilig."
Hannawald fand damals Hilfe in einer Allgäuer-Klinik. In vielen Gesprächen musste er lernen wie wichtig es ist, in sich hineinzuhören:
"Der Körper hat für mich entschieden, dass es keinen Sinn mehr macht. Der Kopf wollte noch. Ich hatte damals wissentlich die gesundheitlichen Probleme mit dem Burnout und dem Klinikaufenthalt und alles, was mich schnell wieder so einer allgemeinen körperlichen Fitness gebracht hat oder wo ich ein bisser'l normal im Leben stehen konnte; der Kopf hat gleich ein bisschen signalisiert, dass er gern zurückgehen würde, aber ich habe gemerkt, je mehr ich mich damit beschäftigt habe, kam wieder ein komisches körperliches Gefühl. Und das ist für mich das Zeichen gewesen, dass ich es sein lassen muss, auch wenn sich der Kopf seine tollen Geschichten zusammenreimt, wie es wäre, mal wieder bei der Tournee zu starten. Oder wieder einen weiten Flug zu haben."
"Und ich träumte, ich flog
Hoch über das Land und Meer, so leicht und weit
Für jetzt und alle Zeit
Von jeder Last befreit."
"Ich weiß auch, es wird wahrscheinlich nichts Schöneres als das Skispringen oder Skifliegen geben. Aber wenn man irgendwann aufhört, ist Schluss. Vielleicht war der Reiz, der Beste zu sein."
Für diesen Anspruch zahlte Sven Hannawald damals einen hohen Preis. Dank der Psychologen, seiner Familie und nicht zuletzt dank seiner Hunde scheint er inzwischen auf einem stabilen Weg zu sein:
"Ich war früher schon immer so ein Tierliebhaber und bin dann wieder dazu gekommen Und habe mir dann einen Hund zugelegt, der mir dann auch immer beiseite stand. Auch in der schweren Zeit, wo man allein ist, wo man noch nicht die Kraft hat, für die Leute drum herum, obwohl es einem gut tut, aber man meidet die Situation, und wenn man dann einen treuen Begleiter hat, war das für mich damals schon eines der wichtigen Dinge."
Schwer traf Sven Hannawald, dass sein letzter Hund mit 2 ½ Jahren eingeschläfert werden musste. Aber der ehemalige Skispringer schaut nach vorn, will in München eine Familie gründen. Und sich dann auch wieder einen Vierbeiner zulegen.
"Ich seh' die Welt von oben, der Rest verblasst im Blau"
Noch heute fasziniert ihn die Vierschanzen-Tournee, erzählt er – und wenigstens am Fernsehschirm ist er regelmäßig dabei. An den jeweiligen Schauplätzen aber muss er nicht mehr unbedingt sein:
"Mittlerweile, klar, bin ich so gereift, dass auch heute noch, wenn ich Termine habe oder es zu viel wird, dann habe ich so ein Gefühl, wo ich einfach sage, auch im Vorfeld von einem Termin, sage ihn lieber ab, lasse es, das bringt doch nichts, weil ich weiß, man hat nur ein Leben und dementsprechend lasse ich mich auch nicht von öffentlichen Dingen verleiten, wenn mein Inneres ein anderes Gefühl hat. Was mir auch in den meisten Fällen Recht gibt."
"Ich heb' ab, nichts hält mich am Boden, alles blass und grau
Bin zu lange nicht geflogen, wie ein Astronaut
Ich seh' die Welt von oben, der Rest verblasst im Blau
Ich hab' Zeit und Raum verloren, hier oben, wie ein Astronaut
Ich heb' ab, nichts hält mich am Boden, alles blass und grau
Bin zu lange nicht geflogen, wie ein Astronaut
Ich seh' die Welt von oben, der Rest verblasst im Blau
Ich hab' Zeit und Raum verloren, hier oben, wie ein Astronaut
Oh-oh-oh-oh-oh
Wie ein Astronaut
Oh-oh-oh-oh-oh"
Auch ein anderer Skispringer hob leidenschaftlich gern ab, etwa 20 Jahre vor Sven Hannawald. Sein größter Erfolg gelang ihm 1980 bei den Winterspielen von Lake Placid:
"Und wunderbar, das ist die Goldmedaille für Toni Innauer, wunderbarer Sprung auch jetzt im zweiten Durchgang, ja das war der alte Toni Innauer, der souverän die Schanzen beherrscht. 90 Meter, 266,3 – das ist ja nicht zu fassen Goldmedaille für Toni Innauer."
Toni Innauer gehörte zu einer Gruppe herausragender österreichischer Skispringer, die ihre Ausbildung am Skigymnasium in Stams (Tirol) erhalten hatten. Über Jahre hinweg dominierten die Schützlinge von Baldur Preiml die Wettbewerbe und galten als fast unschlagbar. Innauer selbst standen alle Türen offen: Er war der erste Skispringer der Geschichte, der für seinen Flug über 176 Meter von den Sprungrichtern in Oberstdorf fünfmal die Note 20 erhielt: 17 Jahre jung war er damals. Unbändig sein Ehrgeiz: Mit 18 verbesserte er gleich zwei Mal den Weltrekord im Skifliegen. 1980 stand er dann ganz oben auf dem Treppchen bei Olympia.
Kurz danach allerdings musste er körperlichen Problemen Tribut zollen:
"War schon ein bisschen vorbereitet auf diesen Pensionsschock. Mit 22, das, was man kann, wofür man sein ganzes Leben strukturiert, plötzlich nicht mehr ausüben zu dürfen, ist schon etwas sehr, sehr Gravierendes. Aber ich war irgendwie etwas vorbereitet, weil ich auch vorher Verletzungen hatte. Zwangspausen, die von mir verlangt haben, mein Leben doch ein bisschen anders zu strukturieren, andere Schwerpunkte zu setzen, mich wieder von hinten herantasten zu müssen."
Medial nicht vereinnahmen lassen
Innauer half damals vor allem die Familie, und hier nicht zuletzt die Mutter, die ihn geerdet hätte, wie er sagt. Freunde und kluge Ratgeber hätten ihm dann den Weg gewiesen. Er studierte Sport, Psychologie und Philosophie für das Lehramt. Warum nicht Forstwirtschaft, der Vater war doch wohl Jäger...
"...der Vater hat hohe Affinität zum Jagen gehabt, allerdings nie eine Jagdkarte in seiner Jugend. Ich hätte wirklich Lust gehabt, Förster zu werden, Jäger zu werden, das konnte man damals allerdings nur in Wien studieren. Da war mir dann doch der Sprung vom Bregenzer Wald nach Wien in die Großstadt etwas zu groß."
Toni Innauer arbeitete nach dem Studium – wieder sehr erfolgreich - zunächst als Trainer, dann sogar als österreichischer Rennsportdirektor für Sprunglauf und Nordische Kombination. 2010 allerdings stieg er endgültig aus dem Wintersport-Zirkus aus.
"Ich habe mich da an die Grenze eines Burnouts gearbeitet und wollte da komplett aus dem Spitzensport aussteigen, bin dann wieder – ein Jahr später, als Sportdirektor – zurückgekommen. Und die Frage ist, was hat mich dazu gebracht, doch auszusteigen: Vielleicht dieses Stakkato an immer wieder und jährlich wiederkommenden Aufbauarbeiten mit großen Hoffnungen, neuen Leuten, die es zu implementieren gilt, die natürlich ähnliche Fehler immer wieder machen, es hat sich wiederholt, auch die Erfolge haben sich wiederholt. Der Druck ist nie geringer geworden, man konnte wissen, das wird sich Jahr für Jahr wiederholen. In der Tiefe konnte ich für mich nicht mehr so wahnsinnig viel herausholen."
Heute arbeitet Toni Innauer als Unternehmer, der sich seine Aufträge aussuchen kann. Und beim ZDF begleitet er als Experte die Vierschanzen-Tournee. Die Leidenschaft für den Skisport ist geblieben. Eine Lektion aber hat er sehr früh gelernt und die gibt er gern weiter: Die jungen Stars sollten sich medial nicht vereinnahmen lassen.
"Vielleicht auch einmal ein Buch zu lesen, das habe ich meinen Athleten immer empfohlen, diese stille, aktive Auseinandersetzung mit einem Prozess, einem Thema zu suchen. Ich selbst bin gerne fischen gegangen, wo ich Natur, Meditation und 'zu mir kommen' sehr gut verbinden kann. Diese Dinge empfehle ich nach wie vor."
Professor Jens Kleinert ist Sportpsychologe und Prorektor an der Deutschen Sporthochschule in Köln. Woran liegt es, dass viele – trotz teilweise schwerer Krisen - den Kontakt zum Sport nicht abreißen lassen?
"Ich glaube, es ist völlig selbstverständlich, dass man sich nach schwersten Krisen, nach dramatischen Ereignissen daran zurückerinnert oder darauf besinnt, was man unheimlich gern tut, was man anstrebt. Sportler, die im Hochleistungssport arbeiten, hängen trotzdem am Sport. Natürlich ist das viel Geschäft, es ist Job, aber es steckt eine ganz intrinsische Motivation dahinter. Intrinsisch heißt, ich tue etwas, weil ich es gern tue. Und nicht, weil ich Geld verdienen will, in den Kader will, in der Öffentlichkeit stehen will. Also nicht, weil ich irgendwelche Konsequenzen anstrebe, sondern ich mache das, weil ich das gerne tue."
Mit Sucht habe dieses Verhalten nichts zu tun, so Jens Kleinert, auch wenn es manchmal danach aussieht.
"Aber die Psychologie dahinter ist eine ganz andere. Der eine macht es, weil er es genießt; ein sportsüchtiger Mensch fühlt sich gezwungen, von sich selbst gezwungen, das zu tun, er kann nicht davon lassen und das ist anders bei einem leidenschaftlichen Menschen."
Es gibt Anzeichen, die man objektivieren kann
Der Alltag von Spitzensportlern oder Trainern ist durchaus mit dem Berufsleben eines Managers vergleichbar. Neben Training und Wettkämpfen bleibt ihnen wenig Zeit, um soziale Kontakte jenseits der Szene zu knüpfen. Trainingspläne sind durchgetaktet, streng ist auf eine gewisse Ernährung zu achten. Allerdings warnt Jens Kleinert vor bestimmten Signalen:
"Es gibt Anzeichen, die man objektivieren kann. Dinge, die man hört, die der Mensch äußert, natürlich sind das häufig subjektive Dinge: Ein ständiges Missbefinden, ein schlechtes Gefühl, keine Freude mehr am Job, kein positives Gefühl mehr. Dann ist es im Sport so, dass man bestimmte Leistungen nicht mehr schafft, dass man, so wie im Hamsterrad, Leistungen hinterher rennt und das nicht mehr schafft. Teilweise ist auch sehr stark mit körperlichen Empfindungen gekoppelt und sogar mit körperlichen Schwächen, so dass auch diese psychische Gemengelage dazu führt, dass auch körperlich bestimmte Leistungen nicht mehr erreicht werden."
Sensibel sei besonders der Bereich der 16- ,bis 20-Jährigen, erzählt Sportpsychologe Lothar Linz, der in der Nähe von Köln seine Praxis hat und dort Spitzen-Athleten betreut.
"Nehmen wir als Beispiel einen Handballer: Der spielt in seiner Vereinsjugendmannschaft, spielt aber schon in der Auswahlmannschaft, spielt vielleicht schon in der Nationalmannschaft, spielt im Verein schon in der Mannschaft der Erwachsenen, weil er so gut ist, weil er ein Talent ist, das heißt, er ist sowohl vom Training wie von der Spielbelastung multifunktional unterwegs und das führt zu enormen Belastungen. Und wenn dann noch die Schule dazu kommt, die eine zusätzliche Belastung ist, dann ist das für solche Leute extrem schwierig, überhaupt noch einen Freiraum zu gewinnen, das heißt, es gibt nur noch Schule und Sport. Also diese Phase sehe ich als sehr sensibel an bei vielen Sportlern."
Interessant dabei, dass die Trainer in ihrer Ausbildung zwar sehr viel über die psychologischen, methodischen, biomechanischen oder physikalischen Aspekte ihrer Sportart lernen. Pausen und Auszeiten aber spielen nur eine eher untergeordnete Rolle. Lothar Linz kennt das Problem, beobachtet aber zugleich:
"Man kann das bei vielen Sportlern sehen, dass sie im Laufe der Zeit erst lernen, wie wichtig das ist. Sportler lernen das oft durch eine Verletzung, es verschiebt sich etwas in meinem Koordinatensystem, ich kriege andere Wertigkeiten, ich lerne mehr zu schätzen, dass ich auf meinen Körper achten muss, dass er nicht etwas ist, das ich beliebig ausbeuten und benutzen kann, was man als junger Sportler erst einmal macht. Ich halte das für extrem bedeutsam – im ganzen Leben wie im Sport. Ich sehe aber, dass das viele Leute erst lernen mit der Zeit und nicht dazu angeleitet werden, weil am Anfang geht ja alles. Wenn man jung ist, geht so viel."
Allerdings geht nicht alles – und vor allem nicht mit aller Macht. Für Jamilon Mülders, den Hockeybundestrainer der Frauen, gehören seit langem Auszeiten und Erholungsphasen zum Pflichtenkanon seiner Mannschaft:
"Bei meinem Amtsantritt im November 2012 habe ich meiner Mannschaft meine Ideen vorgestellt und unter anderem vehement darauf hingewiesen, dass nicht immer viel viel hilft. Also viel machen hilft nicht immer viel. Sondern es geht darum, das Bewusstsein zu schaffen für 'weniger ist mehr'. Also: Wann haben wir Pausen, muss man wirklich ein 365-Tage-Athlet sein? Oder muss man einfach nur aufgrund dessen, dass man weiß, dass man gut trainiert hat, sich bewusst eine Pause nehmen und gönnen, damit man einfach auch mal sich wieder neu orientieren kann."
Die Sportlerinnen zu Urlaub verpflichtet
Das gilt selbst für die Monate bis zu den kommenden Olympischen Spielen.
"Ja, ganz bewusst. Es gibt in dieser neumodischen Zeit die Möglichkeit, Kalender zu veröffentlichen, zu vervielfältigen. Da sind nicht nur die Lehrgangsmaßnahmen drin, sondern die Urlaubsphasen, das heißt, ich verpflichte meine Damen zu Urlaub zu bestimmten Zeitpunkten. Und ich habe ihnen klar mitgeteilt, ich erwarte, dass dort Urlaub genommen wird und ich erwarte, dass dann nicht studiert oder Prüfungen abgelegt werden zu diesen Zeitpunkten, weil, wenn sie nicht diese Pausen sich nehmen und nicht herunterfahren und nicht zur Ruhe kommen, werden sie das ganze Programm nicht durchstehen können. Sie werden irgendwann ermüden, und zwar eher geistig als körperlich."
Mülders stellt sich immer wieder die Frage: Muss trainiert werden, damit der Geist des Trainers befriedigt wird? Oder der des Leistungsdiagnostikers? Oder des Athletiktrainers? Macht die 500. Strafecke, das 10. Krafttraining wirklich Sinn? Man müsse einfach einmal in die Mannschaft hineinhorchen, so sein Rat. Gute Erfahrung habe er außerdem mit einer Yoga-Lehrerin gemacht, die die Auswahl seit einem Jahr begleitet:
"Und das Ergebnis ist faszinierend: Es ist präventiv, was die Verletzungsanfälligkeit angeht; es ist stabilisierend, was die grundsätzliche Konstitution angeht und es unglaublich entspannend. Es wird zweimal am Tag Yoga gemacht – morgens aktivierend, abends zur Entspannung und ich setze es freiwillig an. Und glauben Sie mal, dass die Abendveranstaltungen immer sehr gut besucht sind. Weil sie gehen mit einem Tag, den Sie abschließen können, vor allem geistig entspannt ins Bett und starten dann neu in den Tag."
Sind Auszeiten im Spitzensport, sind Ruhephasen nicht ein Widerspruch zu dem, was Wettkampfkalender und Saisonhöhepunkte diktieren? Wohl eher nicht, glaubt der Olympiapfarrer der Evangelischen Kirche in Deutschland, Thomas Weber.
"Das erzählen mir auch Ehemalige, mit denen ich ins Gespräch komme, wie sich ihre Sportarten auch im Verlauf der Jahre verändert haben. Früher gab es die Sommersportarten und die Wintersportarten. Und heute werden auf den Kontinenten die Wettbewerbe ausgetragen, wenn es im Sommer in Europa nicht möglich ist. Beim Wintersport genauso. Das heißt, die Sportlerinnen und Sportler und vor allem auch die Betreuer und all die Menschen im Hintergrund, die das Team begleiten, die sind eigentlich das ganze Jahr unterwegs. Und wenn ich dann mal frage, wann habt ihr denn mal freie Zeit und könnt euch mal ein bisschen erholen, dann beschränkt sich das auf ein, zwei Wochen im Jahr. Und ansonsten Dauerstress. Immer rund um die Uhr die beste Leistung bringen zu müssen, da merke ich schon, wie sich die Beanspruchungen im Sport in den letzten Jahren verschärft haben."
Thomas Weber mahnt auch, ähnlich wie Sportpsychologen oder der ehemalige Skispringer Toni Innauer, ein zweites Standbein jenseits der Karriere im Auge zu behalten:
"Die Frage muss sich jeder auch stellen, wie sieht mein Leben nach dem Sport aus? Und welche Ziele, Perspektiven habe ich dann? Gerade für junge Sportler, die sich die Frage stellen, der Hinweis mit dem zweiten Standbein bezieht sich dann darauf, das sich meinen Wert auch als Mensch nicht nur durch meine Resultate auf Grund meiner sportlichen Leistung für mich selbst ziehe. Sondern dass ich auch merke, mein Leben besteht aus viel, viel mehr Bereichen und welchen Plan habe ich, wenn es mit dem Sport mal vorbei ist?"
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