Auszubildende

Die vergessenen Opfer der Coronakrise

08:47 Minuten
Eine Auszubildende zur Einzelhandelskauffrau im 3. Lehrjahr räumt am Morgen vor Beginn der Ladenöffnung in einem Supermarkt Waren ein und trägt dabei eine Schutzmaske.
Wenn die Zukunft plötzlich vage wird: Viele Azubis müssen wegen der Coronakrise um ihren Abschluss bangen. © picture alliance/Robert Michael/dpa-Zentralbild/dpa
Stefan Sell im Gespräch mit Martin Mair |
Audio herunterladen
Viel wird über Probleme von Schülern, Kitakindern oder Studierenden in der Coronakrise geredet, aber nur wenig über die Lage der Auszubildenden. Dabei sind viele von der Krise hart getroffen. Dies hat Folgen für die ganze Gesellschaft, warnt der Sozialwissenschaftler Stefan Sell.
Eine gesellschaftliche Gruppe ist in der Diskussion über die Folgen der Coronakrise bisher weitgehend vergessen worden, und das sind die, die gerade eine Berufsausbildung machen oder die demnächst eine anfangen wollen, beklagt der Arbeitsmarktexperte Stefan Sell von der Hochschule Koblenz.
So sei ab Mitte März eigentlich die Zeit, in der zahlreiche Bewerbungsgespräche geführt und Ausbildungsverträge unterschrieben werden, sagt der Sozialwissenschaftler. Wegen des Lockdowns sei in diesem Jahr diesbezüglich aber gar nichts passiert.

25 Prozent der Unternehmen wollen keinen Azubi einstellen

Hinzu komme, dass gerade ausbildungsintensive Wirtschaftszweige wie Gastronomie, Hotelgewerbe oder Handwerk besonders stark von der Coronakrise betroffen seien. "Die werden jetzt natürlich, und das zeigen auch erste Zahlen, erst mal alles andere machen, als einen neuen Azubi an Bord zu holen", so Sell. "Wir wissen zum Beispiel aus dem Handwerk, wo ja sehr viel ausgebildet wird, dass dort etwa 25 Prozent der Unternehmen für dieses Jahr darauf verzichten wollen, einen Azubi einzustellen."

Wie erleben Auszubildende die Coronakrise? Wie gehen sie damit um, dass Termine verschoben und Prüfungen umgestaltet werden? Und dass ihre Zukunftsaussichten vage sind? Felicitas Boeselager hat sich bei jungen Auszubildenden umgehört. Den Beitrag können Sie hier nachhören: Audio Player

Dass Firmen, die Azubis übernehmen, deren eigentlicher Ausbildungsbetrieb pleite gegangen ist, jetzt eine Prämie erhalten sollen, hält der Arbeitsmarktexperte für einen "Tropfen auf den heißen Stein". Denn in der Coronakrise werde nur ein Trend fortgeschrieben und verschärft, der vorher schon da war: dass nämlich immer weniger Betriebe in Deutschland überhaupt ausbilden. Und man wisse, dass viele Betriebe nur schwer wieder zurückzuholen seien, wenn sie einmal aus dem Ausbilungsgeschehen ausgeschieden seien. "Das heißt, es kann dann auch möglicherweise - wir können nur spekulieren - sehr negative Folgewirkungen in den nächsten Jahren haben."

Fachkräftemangel droht vor allem in Ausbildungsberufen

Denn nach allen Befunden der Arbeitsmarktforschung werde der große Fachkräftemangel weniger im akademischen Bereich stattfinden, sondern "vor allem im sogenannten mittleren Qualifikationsbereich", betont Sell. "Heißt also auf gut Deutsch: vor allem im Bereich derjenigen mit einer normalen Berufsausbildung, also im Bereich der Handwerker, der Facharbeiter."
Vor diesem Hintergrund rät der Sozialwissenschaftler in der gegenwärtigen Situation zu klotzen statt zu kleckern. Vorstellbar wäre für ihn etwa, dass der Staat bis zum Ende des Jahres die Ausbildungsvergütung komplett übernimmt. Das sei zwar auf den ersten Blick vielleicht viel Geld, räumt er ein. Aber der entscheidende Punkt sei: "Wir müssen jetzt in dieser Situation, wenn es wirklich das Ziel sein sollte, einen massiven Einbruch der Ausbildungszahlen zu verhindern, ein starkes Signal setzen."
(uko)
Mehr zum Thema