Kulturelle Aneignung

Im Spannungsfeld von Authentizität und Diversität

Ein Transgender Fluid Mann im roten Kleid und rotem Lippenstift steht im Sonnenlicht an eine Wand gelehnt.
Identitäten sind heutzutage fluid, betont die Schriftstellerin Eva Lezzi. (Symbolbild) © imago / Westend61 / Tania Cervian
Gedanken von Eva Lezzi · 22.04.2022
Sollte nur ein homosexueller Schauspieler einen Homosexuellen spielen, ein Werk einer Afroamerikanerin nur eine Person of Color übersetzen? Nein, sagt die Autorin Eva Lezzi. Identität ist mehrschichtig und soll nicht auf eine Facette reduziert werden.
Die Forderung, kulturelle Sichtbarkeit für unterrepräsentierte Gruppen zu schaffen, ist berechtigt, ebenso wie der Vorsatz, Vertreter*innen entsprechender Gruppen auch finanziell angemessen an der Produktion von Kunst und Kultur zu beteiligen. Darüber hinaus geht es in der Debatte um die Annahme, dass durch die biografische Nähe von Figur und Schauspieler, von Autorin und Übersetzerin „Authentizität“ zu erzielen sei. 
Als Autorin von Kinder- und Jugendbüchern möchte ich gegen eine solche Politik der Übereinstimmung votieren. Dies tue ich aus einer ambivalenten Position heraus, denn als jüdische Autorin erhebe ich durchaus den Anspruch, jüdisches Leben in Deutschland aus einer sogenannten Innenperspektive darzustellen.
Ich versuche, literarische Bilder von Jüd*innen zu schaffen, die über Klischees und die nach wie vor gängige Reduzierung von Juden auf Shoah, Antisemitismus und Religion hinauszielen. Doch meine nicht-jüdischen Figuren und Themen sind mir ebenso wichtig!

Zugehörigkeiten sind wandelbar und mehrdeutig

Literatur ermöglicht Einfühlung gerade auch in nicht-eigene Lebenswelten. Literatur verdeutlicht zudem die Fluidität heutiger Identitäten. Denn Zugehörigkeiten sind wandelbar, mehrschichtig und widersprüchlich und sollten nicht zum Garanten einer (mittlerweile verkaufsfördernden) „Authentizität“ reduziert werden.
In der Paulskirchenrede, die Carolin Emcke 2016 bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hielt, plädiert die Philosophin und Journalistin für „analytische Offenheit und Einfühlung in die Vielfalt“ und hält zugleich fest: „Das ist die soziale Pathologie unserer Zeit, dass sie einteilt und aufteilt, in Identität und Differenz sortiert, nach Begriffen und Hautfarben, nach Herkunft und Glauben, nach Sexualität und Körperlichkeiten spaltet und damit ausgrenzt, um Gewalt zu rechtfertigen.“
Es kann also dem auch von mir unbedingt angestrebten Diversitätsbewusstsein ein Moment von Gewalt innewohnen. Das tut weh, weil es lieb gewordene Gewissheiten erschüttert.

Identitätspolitik ohne Essenzialisierung?

Welche Antworten finden wir als Kulturschaffende auf diese Ambivalenz zwischen erwünschter Diversität und gewalttätiger Reduzierung auf einzelne Identitätsfacetten? Wie lassen sich identitätspolitische Forderungen erheben, ohne Identitäten zu essenzialisieren und Möglichkeiten der Kunst zu schmälern?
Diese Fragen erinnern an die komplexen Debatten, die seit den 1990er-Jahren in den Gender Studies geführt werden: Wie können feministische Forderungen etwa nach Lohngleichheit gestellt werden, wenn zugleich im Sinne von Judith Butler die Binarität der Geschlechter dekonstruiert wird, um Offenheit für queere Modelle zu schaffen? Es gilt solche Widersprüche auszuhalten, mehr noch: genau in ihnen die notwendige politische Stoßrichtung zu sehen.

Vielfalt und Widersprüchlichkeit zeigen

Vielleicht gibt es so etwas wie eine europäische Alternative zur Inklusionspolitik von Amazon Studios, die Identitäten festschreibt. Hier in Europa sind Communities und Identitäten längst durchmischter als in der für Amerika behaupteten Situation. Nicht nur meine christlich-jüdische Familiengeschichte ist von Migrationsbewegungen und Brüchen geprägt, auch meine Freund*innen, die sich als People of Color verstehen, haben Biografien, die jede eindeutige „ethnische“ Zugehörigkeit infrage stellen.
Was mich an Kunst fasziniert, ist das Eintauchen in Diversitäten, die brüchig sind und bisweilen nur unterschwellig wirken, ohne äußerlich greifbar zu werden. Möge die europäische Filmindustrie Vielfalt in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit zeigen. 

Eva Lezzi ist Kinder- und Jugendbuchautorin sowie Literaturwissenschaftlerin. Geboren in New York, aufgewachsen in Zürich, lebt sie heute in Berlin. Zuletzt erschienen von ihr ist der Jugendroman "Kalter Hund" und die Beni-Kinderbuchreihe, in der Lezzi vom heutigen jüdischen Alltag in Deutschland erzählt.

Porträtaufnahme der Schriftstellerin Eva Lezzi.
© Thorsten Heideck
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