Echtheit als Erfolgsformel
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Vor Wahlen mischen sich Politikerinnen und Politiker täglich unters Wahlvolk. Das verlangt Authentizität und Nahbarkeit, doch beides geht nicht unbedingt Hand in Hand. Und was passiert, wenn der Politiker gar keine Kinderköpfe streicheln will?
Currywurst und Bier, dicke Zigarren, ein Genosse mit gutem Kontakt zu den Bossen: Wer Gerhard Schröder war, glaubten die Deutschen zu wissen. Schröder, der den Aufstieg durch alle Instanzen bis zum Kanzler schaffte, war als Politiker vielleicht nicht jedermanns Fall, aber er war immer authentisch, volksnah. Einer zum Anfassen, einer von der Hannover-96-Tribüne.
Gerade in der Demokratie sei die Volkstümlichkeit für Politiker wichtig, sagt der Publizist Alexander Grau. Das Wahlvolk verlange zugleich Authentizität – soll heißen, der Politiker oder die Politikerin sollten bitte "echt" sein. Doch was, wenn sie oder er die unmittelbare Nähe zum Wahlvolk gar nicht so schätzt? Nur im Idealfall kämen Volkstümlichkeit und Authentizität zur Deckung, sagt Grau. Schröder sei das gelungen.
Doch für die aktuelle Politikergeneration sei das alles viel schwieriger als noch für den letzten SPD-Kanzler. Denn die zunehmend pluralistische Gesellschaft bringt nach Grau Milieus hervor, die Authentizität plötzlich anders definieren als früher oder gar nicht mehr honorieren. "Es gibt nicht mehr diese eine Volkstümlichkeit", sagt Grau. Das sei ein Dilemma.
Ist nicht alles einfach Heuchelei?
Authentizität werde, weil sie einen solch guten Ruf hat, auch inszeniert, also im Grunde geheuchelt, betont der Publizist. Und die Wähler erwarteten diese Heuchelei auch, sagt Grau: "Und wehe, einer spielt nicht mit." Es werde Authentizität verlangt, aber wenn der Politiker dann anders authentisch sei als erwünscht, sei das wiederum auch nicht gut. So müssten Politiker Kinderköpfe streicheln – das "lächerlich" zu finden, gehe nicht.
Zugleich unterliege das politische Personal "einer ganz anderen medialen Überwachung als früher", gibt Grau zu bedenken. Einmal irgendwo an der falschen Stelle lachen oder ins falsche Brötchen beißen, und die Bilder verbreiten sich über alle Kanäle und werden tagelang diskutiert und hämisch kommentiert.
Der Literaturwissenschaftler Erik Schilling hat die "Authentizität" in einem Buch seziert, und bei ihm bleibt nur wenig von der positiven Konnotation des Begriffs übrig (AUDIO).
Der große Drang nach Authentizität ist für Schilling nichts anderes als eine "Ersatzreligion": Die Menschen glaubten nicht mehr an Gott, also verlagerten sie ihre Sehnsucht auf andere Dinge und Personen, die dann auf ewig echt und wahr sein sollen.
Authentizität als Zuschreibung von außen
Authentizität, meint er, sei erst einmal nur eine Zuschreibung von außen, eine Erwartungshaltung, die bedient werde oder nicht. Wird sie erfüllt, gilt die betreffende Person als authentisch.
So schlingern Politikerinnen und Politiker im öffentlichen Raum hin und her: Wie sie sich geben und wirken, ist das Ergebnis eines Wechselspiels von eigener Persönlichkeit und der Erwartungshaltung des Publikums. Dabei dann richtig "echt" zu sein, ist eine echte Leistung.
(ahe)