Autisten als Experten

Von Susanne Arlt |
Autismus ist eine Entwicklungsstörung, die die Kommunikation mit anderen Menschen erschwert. Viele Autisten finden auf dem ersten Arbeitsmarkt keinen Platz. Das Berliner Unternehmen Auicon nutzt diese Begabungen: Acht Mitarbeiter testen die Software von großen Unternehmen. Das Geschäftsmodell gibt es bereits in Dänemark und Belgien.
Das neue Bürogebäude von Auticon liegt an einer dicht befahrenen Straße, direkt gegenüber vom Bahnhof Zoo. Im Sekundentakt rauschen hier unten Autos und Lkw vorbei.

Mit dem Fahrstuhl gelangt der Besucher nach oben in den fünften Stock und betritt eine andere Welt. Statt Straßenlärm, praktisch Stille. Statt bunter Werbeplakate, kahle, weiße Wände. Der Flur, auch die angrenzenden Räume, wirken steril. Die Einrichtung - spartanisch. Stühle, Schreibtische, darauf stehen Flachbildschirme. Gleich hinter der Eingangstür liegt das Büro von Dirk Müller-Remus. An seiner Wand hängt zumindest ein buntes Plakat. Doch ansonsten …

Dirk Müller-Remus: "Alles schön weiß! Ja, das ist halt wirklich das Grundprinzip. Ich denke auch manchmal, mir fehlt auch an der einen oder anderen Stelle einfach mal was Buntes. Aber das ist bei uns ganz bewusst so."

Kein Nippes lenkt ab
Denn bei Auticon arbeiten fast nur Autisten. Acht Männer und eine Frau testen hier Software. Bunte Bilder an den Wänden oder Nippes auf dem Schreibtisch lenken sie nur von ihrer Konzentration ab, erklärt der Geschäftsführer.

Dirk Müller-Remus: "Unsere Mitarbeiter sind eher konditioniert, sequentiell Arbeitsaufträge abzuarbeiten. Und da konzentrieren die sich zu 100 Prozent auf ein Thema und wenn nun eine Ablenkung kommt, sind sie raus aus dem Thema. Und das wollen wir vermeiden."

Dirk Müller-Remus bietet einen Rundgang durch die Büroräume an, erzählt dabei, dass bei seinem eigenen Sohn wurde vor acht Jahren das Asperger-Syndrom diagnostiziert wurde. Nach dem ersten Schrecken wächst in ihm das Interesse und schließlich die Geschäftsidee, Autisten den Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt zu erleichtern. Müller-Remus macht Halt vor einem zehn Quadratmeter großen Raum. Über dem grauen Teppichboden liegt ein flauschig weißer Teppich. Ein weißes Sofa lädt zum Entspannen ein.

Dirk Müller-Remus: "Ja das ist unser Ruheraum. Der ist einfach deshalb wichtig, weil, diese Reizüberflutung kann man eben nicht immer verhindern. Und dann ist das einfach eine Notwendigkeit, dass wir hier einen Raum zur Verfügung stellen, wo die Leute auch mal entspannen können, wo sie nichts sehen."

Kein Smalltalk, nur Arbeit
Asperger-Autisten gelten als schwerbehindert. Viele von ihnen sind Hartz-IV-Empfänger oder schon früh verrentet. Dabei sind sie oft sehr begabt, sagt Remus. Nur lassen sich ihre Fähigkeiten schwer in unseren Alltag integrieren. Sie haben in der Regel ein bis zwei spezielle Interessen. Für andere Dinge haben sie weniger übrig: zum Beispiel Miete zahlen, Termine koordinieren, Smalltalk machen. Dafür sind sie in ihren Spezialinteressen anderen oft weit überlegen.

Dirk Müller-Remus: "Wenn das Spezialinteresse im IT-Bereich liegt, dann haben wir schon Leute, die ein hohes Fach-Know-how mitbringen. Und dann kommt noch etwas dazu, dass die Asperger-Autisten unserer Meinung nach wie so eine eingebaute Qualitätssicherungsdisposition mit sich bringen. Das heißt, es macht ihnen unheimlich Spaß, Fehler zu finden."

Im letzten Raum hat Martin Drucks seinen Arbeitsplatz. Der groß gewachsene Mann sitzt vor einem Computerbildschirm, schaut konzentriert durch seine dicken Brillengläser. Der studierte Informatiker und gelernte Kaufmann soll überprüfen, ob man auf der deutsch- und englischsprachigen Website richtig weitergeleitet wird.

Martin Drucks: "Wo ist denn jetzt die Maus, ah hier. Also, hier kann ich zum Beispiel sagen, ich bin ein englischer Benutzer. Gehe jetzt hier rein, kriege das Fenster, möchte hier was machen, dann gibt es einen Schalter zurück. Hier sieht man schon, da baut sich eine deutsche Seite auf."

Martin Drucks protokolliert den Fehler in einer Excel-Tabelle, klickt sich dann weiter durch. Seit vier Monaten arbeitet er für Auticon. Davor hat er sieben Jahre lang einen Job gesucht. Trotz seines Studiums und seiner Ausbildung. Weil er dem Staat nicht auf der Tasche sitzen möchte, schlägt er sich mit Nebenjobs durch. Schickt parallel immer wieder Bewerbungen los. In seinem Briefkasten landen immer nur Absagen.

Martin Drucks: "Für manche Jobs wäre ich sogar überqualifiziert gewesen oder zumindest gut qualifiziert. Ja und trotzdem kam da nichts raus und man kriegt natürlich nie gesagt, woran es lag. Vielleicht an der Art der Selbstdarstellung?"

Der 44-Jährige knetet angestrengt seine Finger, schaut im direkten Gespräch selten sein Gegenüber an. Das blaue Paar Augen konzentriert sich lieber auf den Fleck auf dem Schreibtisch. Er kann am Computer Abläufe leicht nachvollziehen.

Ein Bewerbungstest nur mit Logik und Sprachverständnis
Aber Fragen, die sich nicht mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten lassen, bereiten ihm Schwierigkeiten. Noch schlimmer ist für ihn Smalltalk. Vermutlich hat es daran in den Bewerbungsgesprächen gehapert. Bei Auticon hat es dagegen geklappt.

Martin Drucks: "Es gab einen Bewerbungstest, einen sehr gründlichen mit Logik und Sprachverständnis, wo es halt dann nur darum geht, was kann ich. Und nicht, wie gut kann ich übers Wetter reden oder sonstige Sachen, die beim Vorstellungsgespräch unterbewusst mit abgecheckt werden. Und dann kam halt dieses Gespräch, wo es mehr darum ging, was ist, wenn wir sie einstellen."

Denn nach seiner sechsmonatigen Probezeit soll Martin Drucks auch Kunden kontaktieren. Angst hat er nicht davor, vielleicht ein bisschen Muffensausen.

Darum arbeiten bei Auticon auch zwei Jobcoaches. Sie trainieren die Mitarbeiter, bereiten auf den sozialen Umgang vor. Wenn es soweit ist, wird Martin Drucks gemeinsam mit einer Betreuerin zu seinem ersten Firmenkunden gehen.

Dirk Müller-Remus: "Klar ist es manchmal schwierig mit unseren Mitarbeitern. Aber es ist auf der anderen Seite auch extrem bereichernd."