Gerhard Henschel: Bildungsroman
Die Welt im Tunnelblick
Seit 2002 arbeitet der Autor Gerhard Henschel an seiner Schlosser-Saga, einem autobiografischen Großprojekt. Nun ist der fünfte Band erschienen. Ein komischer, wenngleich doch sehr selbstbezogener Roman.
Mit dem "Bildungsroman" liegt der fünfte Band der Schlosser-Saga vor. Fast dreitausend Seiten umfasst sie nun bereits. Vergleiche mit Prousts "Recherche" und anderen Großwerken des literarischen Erinnerns verfehlen jedoch die Eigenart des Projekts. Es ist kein ausgetüfteltes Romanlabyrinth, sondern eine eher stur voranschreitende Chronik, ohne Plot und Dramaturgie, ohne zusätzliche Aromastoffe der Erfindung. Wenn berichtet wird, dass Martins Mutter fünf Richtige im Lotto hat, kann man davon ausgehen, dass selbst die Zusatzzahl archivalisch korrekt ist.
Berlin ein zweites Bielefeld
Der "Bildungsroman" beginnt 1983. Martin Schlosser fängt nach dem Zivildienst ein Studium an: Germanistik in Bielefeld. Das ist so aufregend, wie es klingt. Das meiste, was die Professoren offerieren, ödet ihn nur an. Mehr interessiert ihn die private Frauenforschung, aber da fehlt es ihm womöglich an Drittmitteln – er kommt bei seinen Angebeteten einfach nicht hinaus über das prekäre Stadium des "sehr guten Freundes", bis gegen Ende eine gewisse Andrea endlich Träume wahr werden lässt. Zwischendrin reist Martin viel herum, zu Freunden und immer wieder ins Elternhaus nach Meppen. Die Mutter ist an Krebs erkrankt, schickt aber weiter unverdrossen ihre Gedichte und Reisebeschreibungen an Zeitungen, um sich immer neue Absagen einzuhandeln. Dann zieht Martin nach West-Berlin, aber die vielbesungene Mauerstadt mit ihrem Flair des Kaputten wirkt in der Schlosser-Perspektive auch nur wie ein zweites Bielefeld.
Redensarten, Politikerfloskeln, Liedzeilen jener Zeit ziehen vorbei. Der Reiz besteht bei Henschel aber weniger in der nostalgischen Identitätsstiftung einer Generation als in den Kontrastwirkungen der Montage, aus der sich oft komische Zuspitzungen des Materials ergeben. Martin ist zweifellos ein (sympathischer) Typ seiner Zeit, aber er hat auch genug Distanz zu ihr, um das Blödsinnige vieler Moden und Marotten zu sehen. Das trägt dem Roman viel Situations- und Typenkomik ein. Sehr amüsant die Passagen über den ersten Ferienjob auf Borkum, wo Martin Hausmeisterdienste verrichtet und sich ein Zimmer mit dem prollig schwadronierenden Winni teilen muss.
Arno Schmidt und Bob Dylan unermüdlich zitiert
Der Roman ist so monoman wie monochrom. Kein breites kultur- oder popgeschichtliches Panorama, sondern die Welt mit dem Tunnelblick Martin Schlossers gesehen, der ganz auf Arno Schmidt und Bob Dylan fixiert ist, die unermüdlich zitiert werden. Fast alles, was ihm an Büchern und Musik sonst begegnet, perlt an Schlossers Gemüt ab wie Wasser an der Ente. Immerhin gibt es ein literarisches Initiationserlebnis: die Begegnung mit Walter Kempowski. Inspirierende Tage in Haus Kreienhoop, an deren Ende sich Schlosser aber die Sympathie des Meisters verscherzt, als er dessen mitternächtliches Klavierspiel des Deutschlandlieds "geschmacklos" findet.
Henschels autobiografisches Großprojekt steht in der Nachfolge von Kempowskis "Deutscher Chronik", von der Gesamtanlage über das Montage-Prinzip bis zu Details wie der Stilisierung der Elternfiguren. Die brisanten Konfrontationen von bürgerlichem Alltag und großer, verhängnisvoller Geschichte, wie sie in "Tadellöser & Wolff" die archivalische Obsession legitimieren, sind bei einem Roman der Siebziger und Achtzigerjahre aber nicht möglich. Immerhin, als Angehöriger derselben Generationskohorte schmökert man gern darin und freut sich über Wiedererkennungseffekte.
Hoffmann und Campe, Hamburg 2014
573 Seiten, 24,90 Euro