Kadyrows Auflehnung gegen "Vater Putin"
Tschetscheniens autoritärer Herrscher Ramsan Kadyrow scheint Präsident Putin beweisen zu wollen, dass russische Gesetze in seiner Republik nicht gelten. Warum schaut das Machtzentrum in Moskau dem Treiben Kadyrows tatenlos zu?
Ramsan Kadyrow, Chef der russischen Teilrepublik Tschetschenien, sitzt in einem Ledersessel, allein an der Längsseite eines Tisches. Gegenüber etwa ein Dutzend Untergebene. Kadyrow klopft abwechselnd mit dem Finger auf den Tisch und zeigt auf sich selbst.
Video:
"Hier hat niemand etwas zu sagen, ich bin hier der Chef, ich sitze am Steuer."
"Außer mir gibt es hier niemanden, habt ihr das verstanden!"
"Nur Ramsan, sonst niemanden!"
"Ich bin vorn."
"Der Name der Familie Kadyrow steht vorn. Es gibt keine anderen Namen in dieser Gegend, es gibt nur einen Namen: Kadyrow!"
Das Video wurde vor ein paar Jahren im tschetschenischen Fernsehen ausgestrahlt und ist bis heute im Internet abrufbar. Die Menschen in der Nordkaukasusrepublik kennen es und benutzen es heute noch als Beleg für die Allmacht des 38-Jährigen. In Tschetschenien ist die Gesellschaft noch weniger frei als im Rest Russlands. Viele Menschen hier sind unzufrieden, kritisieren Kadyrow aber nur in privaten Gesprächen, mit der Bitte, sie auf keinen Fall zu zitieren. Sie haben Angst, und die ist begründet. Immer wieder verschwinden Menschen oder werden gefoltert. Oppositionelle sind tot oder im Exil.
Ramsan Kadyrow erbte sein Amt von seinem Vater
Ein Frühsommerabend in Tschetscheniens Hauptstadt Grosnyj. Die Fußballakademie "Ramsan". Sie heißt nach dem Republikchef. Am Eingang grüßt ein Porträt von dessen Vater Achmat Kadyrow. Er rief Anfang der 1990er Jahre als Mufti von Tschetschenien zum Heiligen Krieg gegen Russland auf. Später wechselte er die Seite und wurde 2003 mit Zustimmung Wladimir Putins Präsident Tschetscheniens. Achmat Kadyrow kam 2004 bei einem Attentat ums Leben. Danach folgte ihm sein Sohn Ramsan an die Spitze der Republik, gleichfalls mit der Unterstützung Putins. An den Spielfeldern wehen russische und tschetschenische Fähnchen. Ganz Grosny ist so beflaggt. Auch Russlands Präsident ist in Grosny omnipräsent, eine der Hauptstraßen heißt Putin-Prospekt, und Putin blickt sogar von Häuserfassaden.
Auf einem der Spielfelder trainieren Mitglieder der Jugendbewegung "Achmat". Sie ist Kadyrow treu ergeben. Am Morgen sind sie mit Fotos unabhängiger Moskauer Journalisten durch Grosny gezogen. Sie würden den Chef der Republik beschmutzen. Jetzt üben die jungen Männer für ein Fußballspiel gegen Kadyrow und seine Leute. Einmal haben sie schon gespielt und 0:8 verloren. Mansur Atuchadschiew wischt sich den Schweiß von der Stirn und zerdrückt dabei eine Mücke.
"Da hat unser Chef gespielt, Lord, ein Neffe, noch ein anderer Neffe, ein Assistent. Die hätten sogar den FC Barcelona besiegt, so gut waren sie."
Der "Chef", das ist Ramsan Kadyrow, "Lord" der Spitzname von dessen Verwaltungschef. Kadyrow sei sehr zugänglich, erzählt Isa Chadschimuradow, Kurator der Jugendbewegung.
"Die Leute denken, er sei unüberlegt. In Wirklichkeit ist er sehr gebildet. Neulich war ich mit einem Papier mit Vorschlägen bei ihm, das hatte elf Seiten. Er hat sie nur zwei, drei Minuten angeschaut. Ich war schon beleidigt, ich hatte ja so viel geschrieben, und er guckte das gar nicht richtig an. Aber dann hat er die Leute aus der Bewegung zusammengerufen, und als er dann anfing zu reden, war ich schockiert. Er kannte ganze Abschnitte aus den Papieren auswendig. Obwohl er nur einmal drauf geguckt hatte. Er ist ein außergewöhnlicher Mensch. Er hat ein phänomenales Gedächtnis, ist aufmerksam, er ist ein interessanter Mensch, in jeder Hinsicht."
Der Vorsitzende der Jugendbewegung geht in seinem Lob noch weiter. Er heißt Chawaschi Chaschmuradow, ist 23 Jahre alt und im Jugendministerium anzutreffen. In seinem Büro hängen Bilder von Vater und Sohn. Ramsan Kadyrow sitzt auf einem Pferd.
"Ramsan hat alle guten Eigenschaften eines Muslim. Er versteht es, sich mit seinen Leuten zu verständigen. Er kann arbeiten. Er kann auch komplizierte Aufgaben erfüllen. Er kann die Republik führen."
"In zwanzig Jahren wird Tschetschenien, das kann man voller Überzeugung sagen, in allen Bereichen Weltspitze sein. Wir haben in zehn, fünfzehn Jahren so viel geschafft! Wenn wir mit so einem Tempo weitermachen, gelingt das bestimmt."
Nach den Kriegen war Grosny ein Ruinenmeer
Unter Ramsan Kadyrows Regierung wurde Grosny wieder aufgebaut. Nach den Kriegen in den 90er- und 2000er-Jahren glich die Stadt einem Ruinenmeer. Die Bilder erinnerten an Dresden oder Stalingrad nach dem Zweiten Weltkrieg. Heute ist von der Zerstörung nichts mehr zu sehen. Die zerschossenen Häuser wurden wieder hergestellt und modernisiert oder durch Neubauten ersetzt. Im Zentrum der Stadt erheben sich Wolkenkratzer: Grosny City. Ihre Glasfassaden sind nachts bunt beleuchtet, auf einer erscheint die Aufschrift "Danke, Ramsan, für Grosny". Daneben steht die gewaltige Achmat-Kadyrow-Moschee. Ein Prachtbau, einzigartig in Russland.
Die Hochhäuser stehen allerdings halb leer. Und Dank an die russischen Steuerzahler wäre angebrachter. Tschetschenien wird zu rund achtzig Prozent aus dem föderalen Haushalt subventioniert. Produzierendes Gewerbe gibt es kaum. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Wer Arbeit hat, ist meist beim Staat angestellt und muss einen Teil seines Gehaltes an die Achmat-Kadyrow-Stiftung abgeben: Zehn Prozent und mehr. Das bestätigen diverse Gesprächspartner in Tschetschenien, allerdings nur anonym. Die Achmat-Kadyrow-Stiftung finanziert unter anderem den Bau von Schulen und anderen Gebäuden und kulturelle Großveranstaltungen. Leiterin ist Ramsan Kadyrows Mutter. Der Republikchef hat einmal auf die Frage, woher die Stiftung ihr Geld beziehe, geantwortet: "von Allah".
Kadyrow verbucht für sich noch einen Erfolg. Er hat den bewaffneten Untergrund weitgehend in den Griff bekommen. Die Zahl der Anschläge war über Jahre niedrig. Tschetschenien gilt deshalb im Vergleich zu anderen Kaukasusrepubliken als relativ sicher. Möglich wurde das dank eines extrem harten, kompromisslosen Vorgehens im Antiterrorkampf, im dem auch Unschuldige verschwinden oder gefoltert werden. Ramsan Kadyrow befehligt als einziger Chef einer russischen Region eine eigene Sicherheitsarmee, die sogenannten Kadyrowzy. Es sind Polizisten, Soldaten, Geheimdienstler. Überall im Rest Russlands sind diese Dienste Moskau unterstellt. In Tschetschenien nicht. Ihre Stärke wird auf rund 80.000 Mann geschätzt.
Ende letzten Jahres versammelte Kadyrow 20.000 seiner bewaffneten Männer im Stadion von Grosny. Videos zeigen Männer in Kampfausrüstung, mit Waffen in den Händen und Rucksäcken, bereit zum Abmarsch.
"Hier haben sich die besten Söhne des tschetschenischen Volkes versammelt. Wir erklären der ganzen Welt: Wir sind die Kampftruppe Wladimir Putins! Amerika, Europa haben Russland einen Wirtschaftskrieg erklärt, sie wollen, Chaos, Panik und Massenunruhen verbreiten. Wir werden den Feind Russlands wo auch immer bekämpfen, und wir erklären vor der ganzen Welt, damit es alle verstehen: Es lebe unser großes Vaterland Russland, es lebe unser nationaler Führer Russlands Wladimir Putin, Allahu akbar!"
Tschetschenen haben in Allahs Namen in Moskau Anschläge verübt
In Moskau wecken solche Töne nicht nur positive Gefühle. Immerhin haben Tschetschenen in Allahs Namen in Moskau und anderen Großstädten diverse Anschläge verübt. Warwara Pachomenko ist Nordkaukasusexpertin und berät die International Crisis Group. Sie meint:
"Den Ruf 'Allahu akbar' hört man oft bei Versammlungen von Muslimen: das ist nichts Schlimmes. Wir haben in Russland muslimische Regionen, die loyal sind, dabei aber ihre muslimische Identität bewahren. Aber: Kadyrow versucht, sich als Politiker von föderalem oder internationalem Niveau zu positionieren. Er und seine Beamten haben mehrfach Gebietsansprüche gegen die Nachbarrepubliken Dagestan und Inguschetien formuliert.
Außerdem versucht Kadyrow, seinen Einfluss in anderen Regionen über Soft Power auszuweiten. Zum Beispiel, indem er die Hadsch für die Bewohner anderer muslimischer Nordkaukasusrepubliken bezahlt, oder den Bau von Moscheen in Republiken des Nordkaukasus, in Tomsk in Sibirien, in Jaroslawl. Die Achmat-Kadyrow-Stiftung übernimmt auch die ärztliche Behandlung von Muslimen in anderen Regionen, und darüber wird ausführlich berichtet. Und Kadyrow hat auch internationale Ambitionen. Er ist nahezu der einzige der regionalen Führer in Russland, der sich erlaubt, Ereignisse der internationalen Politik zu kommentieren: Syrien oder die Ukraine, die Politik der USA und der EU. Er unterhält eigene Kontakte zu verschiedenen Führern islamischer Staaten. Er hat diese Ambitionen. Wozu sie führen, ist schwer zu sagen."
In Interviews betont Ramsan Kadyrow stets seine Loyalität zu Putin. Er sei für ihn wie ein Vater. Reportern von Radio Swoboda zum Beispiel sagte er:
"Putin ist mein Idol. Ich liebe ihn. Ich achte ihn. Ich gebe mein Leben für ihn. Ich hätte gern, dass er sein Leben lang Präsident Russlands ist."
Experten sprechen von einer Art Vertrag zwischen Putin und Kadyrow, zwischen dem föderalen Zentrum und Tschetschenien. Die Formel lautet: Subventionen gegen Loyalität. Doch allen Loyalitätsbekundungen zum Trotz – in den letzten Monaten geschahen einige Dinge, die Beobachter zweifeln ließen, ob Kadyrow sich tatsächlich dem föderalen Zentrum unterordnet, oder ob er nicht vielmehr Grenzen austestet und der Kreml ihn gewähren lässt.
Putin rüffelt Kadyrow nur sanft
Da war zunächst einmal Kadyrows Reaktion auf zwei Anschläge in Grosny. Im Oktober 2014 sprengte sich ein Selbstmordattentäter nahe dem Konzerthaus in die Luft. Im Dezember stürmten Terroristen das Haus der Presse. Mindestens fünfzehn Polizisten starben. Es waren die schlimmsten Anschläge seit vielen Jahren. Die Attentäter kamen aus Tschetschenien. Ramsan Kadyrow forderte öffentlich, die Angehörigen der Attentäter aus der Republik auszuweisen und ihre Häuser dem Erdboden gleichzumachen. Ein klarer Fall von Sippenhaft und ein Verstoß gegen die russische Verfassung. Kurz darauf brannten Männer in Masken die Häuser der Angehörigen nieder. Bei Wladimir Putins alljährlicher großer Pressekonferenz konfrontierte eine Moskauer Journalistin den Präsidenten mit diesen Vorgängen und fragte, ob er bereit sei, die Menschen in Tschetschenien vor außergerichtlichen Racheakten zu schützen. Daraufhin Putin:
"Natürlich müssen sich in Russland alle an die geltenden Gesetze halten. Das ist klar. Und niemand gilt als schuldig, ehe das nicht von einem Gericht bestätigt wurde. Aber das Leben ist komplizierter. Aus der Praxis der Antiterroreinheiten muss ich Ihnen sagen: In der Regel wissen die Verwandten derer, die Terroranschläge verüben, davon. In den allermeisten Fällen. Das gibt aber niemandem das Recht, auch nicht dem Republik-Chef von Tschetschenien, außergerichtlich mit ihnen abzurechnen. Die Behörden führen deshalb jetzt Voruntersuchungen durch, um herauszufinden, was das für Leute waren, die die Häuser der Verwandten niedergebrannt haben."
Ein sanfter Rüffel für Kadyrow. Der legte in einer Talkshow im Regionalfernsehen prompt noch einmal nach.
"Was meine Erklärung betrifft: Ich habe folgendes gesagt: Wenn von heute an jemand eine Straftat begeht, werden wir die Häuser abtragen und die Familien umsiedeln. Davon distanziere ich mich nicht. Ich stehe zu meinen Worten."
Die von Putin angekündigte Untersuchung verlief offenbar im Sand, berichtet Albert Kuznezow. Er arbeitet für das Komitee gegen Folter, eine der wenigen Menschenrechtsorganisationen, die überhaupt noch und nur unter großen Vorsichtsmaßnahmen in Tschetschenien tätig sind.
"Die Schuldigen sind nicht zur Verantwortung gezogen worden. Und soweit ich weiß, leugnen die hiesigen Machthaber, dass überhaupt Häuser abgebrannt wurden. Dort, wo die Häuser standen, haben Bulldozer alles platt gemacht, und es sieht so aus, als hätte es dort überhaupt niemals irgendwelche Häuser gegeben."
Geht Kadyrow zu weit? In einigen föderalen Sicherheitsstrukturen rege sich mittlerweile Unmut, berichtet Warwara Pachomenko, Beraterin der International Crisis Group.
"Soweit wir wissen, regt es die Vertreter der föderalen Strukturen sehr auf, dass sie nicht dem Gesetz entsprechend in der Republik handeln können. Sie ärgert, dass im Prinzip das, weshalb der Tschetschenienkrieg geführt wurde, nämlich, um Tschetschenien in den Rechtsraum Russlands zurückzuführen, hinfällig ist. Und dass das dortige Regime die Republik immer weiter aus dem Rechtsraum Russlands herausführt."
Wie weit, wurde wenige Monate später deutlich. Ende Februar wurde in Moskau der Oppositionspolitiker Boris Nemzow ermordet. Eine Spur führt nach Tschetschenien. Verdächtige und Zeugen in dem Fall werden dort offensichtlich gedeckt, es gelingt den Ermittlern nicht, sie zu befragen.
Ganz Grosny kam zur Hochzeit mit der minderjährigen Braut
Im April kam es dann zu einem direkten Kräftemessen zwischen föderalen und tschetschenischen Einsatzkräften. Föderale Einheiten und Polizisten aus Stawropol, einer an Tschetschenien angrenzenden Region, unternahmen einen Sondereinsatz in Grosny. Dabei töteten sie einen Tschetschenen. Kadyrow polterte daraufhin, der Einsatz der nicht-tschetschenischen Sicherheitskräfte sei illegal gewesen: Das tschetschenische Innenministerium sei nicht vorab informiert worden. Und Kadyrow wies seine Sicherheitskräfte an, künftig auf Polizisten zu schießen, wenn die ohne Voranmeldung tschetschenisches Gebiet betreten, egal, ob sie, so wörtlich, "aus Stawropol oder aus Moskau" kämen. Tschetschenische Ermittler eröffneten ein Verfahren gegen die Polizisten aus Stawropol wegen angeblichen Amtsmissbrauchs. Daraufhin reagierte Moskau.
Alexander Bastrykin, Chef der föderalen Ermittlungsbehörde, ordnete an, das Verfahren in Tschetschenien einzustellen. Beobachter deuteten den Vorgang als Zeichen dafür, dass Kadyrow nicht länger das Gewaltmonopol in Tschetschenien besitze, dass er eventuell Boden unter den Füßen verliere.
Auch Warwara Pachomenko vermutet, dass die Polizisten aus Stawropol und die föderalen Sicherheitskräfte Kadyrow mit ihrem Einsatz in Grosny vielleicht ein Signal geben wollten:
"Dass Tschetschenien keine Rechtsenklave sein kann. Dass dort auch die anderen Sicherheitskräfte tätig sein können. Und dass Kadyrow verstehen muss, wo die rote Linie ist, die er nicht überschreiten darf."
Eine andere Frage sei aber, welche Reaktion anschließend vom Kreml kam. Sie fiel schwach aus. Angesprochen auf Kadyrows Anweisung, auf nicht tschetschenische Sicherheitskräfte zu schießen, sagte Kremlsprecher Dmitrij Peskow lediglich – Zitat: "Wir haben es gesehen, wir haben es gehört, wir haben es gelesen. Es gibt nichts zu kommentieren."
Warwara Pachomenko: "Offenbar bewertet Kadyrow das als Möglichkeit, weiterzumachen. Denn danach haben wir diese absolut demonstrative Hochzeit gesehen."
Gemeint ist die Eheschließung der 17-jährigen Luisa Gojlabijewa Mitte Mai mit einem um viele Jahre älteren lokalen Polizeichef aus Tschetschenien. Die Hochzeit sorgte für Schlagzeilen auch jenseits der Landesgrenzen. Das russische Fernsehen berichtete ausführlich.
Die Braut steht, in islamischer Kleidung, mit gesenktem Kopf da. Sie wirkt wie in Trance. Medienberichten zufolge ist ihr Bräutigam bereits verheiratet. In Tschetschenien nichts Ungewöhnliches. Die Standesbeamtin fragt nach dem Jawort. Die Braut schweigt. Es folgen die Unterschriften.
"Mit den Unterschriften ist Ihre Ehe geschlossen. Ich erkläre Sie zu Mann und Frau."
Im Vorfeld der Hochzeit hatte es eine große Debatte gegeben, in der liberalen Moskauer Presse, in den sozialen Medien. Beobachter vermuteten eine Zwangsheirat, zumal mit einer Minderjährigen. Wieder ein Verstoß gegen die Verfassung. Kadyrow reagierte auf seine Art auf die Kritik. Er lud ganz Grosny zur Hochzeitsfeier ein und kam auch selbst zu dem Fest.
Andere Sitten und Traditionen als in Moskau
Für die Nordkaukasusexpertin Warwara Pachomenko war das eigentlich Skandalöse an der Geschichte, dass der Verfassungsverstoß so offen zur Schau getragen wurde:
"Die Hochzeit hat, meiner Meinung nach, demonstriert: Wir sind hier in Tschetschenien, wir haben besondere Regeln, besondere Gesetze, beziehungsweise besondere Sitten und Traditionen, wie Kadyrow es nennt, und wir werden machen, was wir wollen, es ist egal, wie man darauf in Moskau reagiert, ob Journalisten oder Abgeordnete."
Fast noch bemerkenswerter waren die Reaktionen in Moskau. Elena Misulina, Vorsitzende des Familienausschusses in der russischen Duma, sprach sich dagegen aus, Vielweiberei zu verbieten. Und Pawel Astachow, Kinderbeauftragter des russischen Präsidenten, erklärte, es gäbe nun mal Orte in Russland, an denen Frauen bereits mit 27 Jahren verschrumpelt seien. Später entschuldigte er sich dafür, seine Worte seien aus dem Zusammenhang gerissen worden. Doch zugleich legte er nach:
"Ich bin nicht für frühe Ehen. Ich glaube aber, dass man nicht leugnen darf, dass es sie gibt, und dass man sie nicht verurteilen darf."
"Die Verfassung verbietet es, sich in das Privatleben, in das Familienleben einzumischen. Jetzt diskutieren alle über das Leben eines tschetschenischen Mädchens. Wir haben ihr allein schon mit diesen Diskussionen das Leben verdorben."
Aber warum schaut das Machtzentrum in Moskau, warum schaut Putin dem Treiben Kadyrows, der ganz offensichtlich zu Verstößen gegen die Verfassung aufruft, tatenlos zu? Warum zeigt Putin keine Grenzen auf? Warwara Pachomenko versucht eine Erklärung:
"Für Putin ist Kadyrow ein Symbol der Befriedung Tschetscheniens, der Beendigung des Krieges. Putin ist 1999 im Rahmen des Kampfes gegen den tschetschenischen Separatismus und Terrorismus an die Macht gekommen. Und Ramsan Kadyrow ist ein Symbol für den Erfolg dieses Kampfes geworden, aus Putins Sicht. Wir wissen natürlich nicht, was in Putins Kopf vorgeht, aber man kann annehmen, dass es für ihn jetzt keine einfache Situation ist. Denn einerseits denkt er, Tschetschenien ist ein erfolgreiches Modell der Konfliktlösung, Kadyrow ist derjenige, der für Ordnung und Frieden sorgt; und offensichtlich hat er Angst, dass, wenn Kadyrow nicht mehr an der Spitze stehen sollte, dort erneut eine Destabilisierung beginnt. Andererseits wird immer offensichtlicher, dass es Konflikte mit den föderalen Sicherheitsstrukturen gibt, und es wird immer öffentlicher, dass dort die föderalen Gesetze nicht geachtet werden. Deshalb steht Putin vor einer sehr schweren Wahl. Aber noch bleibt Kadyrow, wie wir sehen, auf seinem Posten, und kann sich erlauben, weiterzumachen wie bisher."
Doch das birgt Gefahren. Denn die Situation in Tschetschenien wirke weit in die Russische Föderation hinein. Noch einmal Warwara Pachomenko:
"Das heutige tschetschenische Regime ist eine Herausforderung für den Föderalismus in Russland."
"In anderen Regionen hört man sehr oft die Frage: Warum darf Kadyrow seine eigene Armee haben, wir aber nicht? Und das hört man nicht nur im Nordkaukasus. Nach den Ereignissen in der Ostukraine haben die nationalistischen Bewegungen in Russland Aufwind bekommen, auch sie fragen: Die Tschetschenen dürfen ihre eigenen Sicherheitskräfte haben, warum dürfen die und wir das nicht? Warum dürfen die Kosaken das nicht? Und das ist der wesentliche Punkt: Hier wird das staatliche Gewaltmonopol ausgehöhlt. Das kann einen Kontrollverlust nach sich ziehen."