Autor Alberto Manguel

Die argentinische Nationalbibliothek hat einen neuen Direktor

Die Biblioteca Nacional in Buenos Aires, aufgenommen am 17.11.2008. Sie wurde von den Architekten Clorindo Testa, Alicia Cazzanica und Francisco Bullrich 1960 entworfen und 1962 fertiggestellt.
Alicia Cazzanica und Francisco Bullrich 1960 entworfen und 1962 fertiggestellt. © picture-alliance/ dpa
Von Victoria Eglau |
Als Teenager las Alberto Manguel dem erblindeten Schriftsteller Jorge Luis Borges Kurzgeschichten vor. Zwischenzeitlich trat er in seine Fußstapfen, schreibt mittlerweile selbst - und folgt ihm jetzt auch an der Spitze der argentinischen Nationalbibliothek nach.
"Es gibt Bücher, die uns überraschen, weil nach dem Kapitel, das wir für das letzte hielten, ein neuer Band anfängt. Und diesen neuen Band beginne ich gerade, im Schatten von Borges."
Das Kapitel, das Alberto Manguel für das letzte seines Lebens hielt, war seine Karriere als international erfolgreicher Schriftsteller und sein Leben zwischen New York und einem französischen Bauernhof, wo ihn 35.000 Bücher umgaben. Doch inzwischen hat der Argentinier seine eigenen Bücher in Kisten verpackt, und ist für eine weitaus größere Bibliothek verantwortlich: die Biblioteca Nacional in Buenos Aires. Und damit schließt sich in gewisser Weise ein Kreis für Alberto Manguel, der Anfang der sechziger Jahre Bekanntschaft mit dem damaligen Bibliotheksdirektor schloss: dem erblindeten Schriftsteller Jorge Luis Borges.
"Ich habe Borges getroffen, als ich vierzehn war und in der Buchhandlung Pygmalion arbeitete, die deutsch- und englischsprachige Literatur verkaufte. Borges kam als Kunde. Und er suchte Leute, die ihm vorlasen. Damals plante Borges, wieder Kurzgeschichten zu schreiben, und vorher wollte er noch einmal einige seiner Lieblingsautoren lesen."

Hunderte lasen die Borges vor

Und so durfte der junge Büchernarr dem alten Schriftsteller Erzählungen der Engländer Kipling, Chesterton oder Stevenson vorlesen. Er sei keineswegs ein Auserwählter gewesen, beteuert Alberto Manguel, dessen leises, zurückhaltendes Auftreten sein Understatement unterstreicht.
"Borges hat so ziemlich jeden gefragt: den Portier, die Putzfrau, Taxifahrer, Journalisten oder Buchhändler wie mich. Es waren wohl Hunderte, die für Borges lasen – wir sollten uns eines Tages treffen und eine Art Kollektiv-Biografie über ihn schreiben."

Die Bibliothek enthält drei bis fünf Millionen Bücher

Vielleicht könnte dieser Gipfel der Borges-Vorleser in Argentiniens Nationalbibliothek stattfinden, die Manguel seit Ende Juni leitet – ein imposanter, im Architektur-Stil des Brutalismus errichteter Bau. Der Argentinier versichert, dass er längst noch nicht jeden Winkel der riesigen Bibliothek kenne, deren genauer Umfang bislang im Dunkeln liegt.
"Es gibt drei bis fünf Millionen Bücher und Dokumente. Präziser kann ich das nicht sagen, denn der Katalog ist erst zu einem Drittel fertig. Meine absolute Priorität ist, dass der Katalog vervollständigt wird, damit die Nutzer erfahren, was sich in der Bibliothek befindet."
Um dies zu bewerkstelligen, ist Manguel auf die Unterstützung von Spezialisten angewiesen. Denn für ihn waren Bibliotheken bisher vor allem ein literarisches Sujet: ein großer Teil seines auf Englisch verfassten Werkes dreht sich um Bücher und ums Lesen. Im Juni ist "Eine Geschichte der Neugierde" auf Deutsch erschienen – ein Buch, in dem Manguel seine liebsten Dichter und Denker befragt, darunter Sokrates, Dante und Lewis Caroll.

Argentinier mögen Comics, Krimis und Psychoanalyse

"Ich glaube, mein Buch über die Neugierde entsprang einem Impuls, auf der Grundlage meiner Erinnerungen zu schreiben, und erst danach die literarischen Quellen zu überprüfen. Ich vertraue meinem Gedächtnis. Es ist nutzlos, eine große Bibliothek zu besitzen, wenn man sich die Texte nicht zu eigen gemacht hat."
Zurzeit schreibt Alberto Manguel nicht, eine begonnene Biografie über den jüdischen Philosophen Maimonides hat er vorerst zur Seite gelegt. Selbst zum Lesen lässt ihm seine neue Aufgabe kaum Zeit. In der Biblioteca Nacional kümmert sich Manguel neben der Katalogisierung um die Einrichtung von vier Zentren, die in Argentinien äußerst populären Genres gewidmet sind: dem Comic, dem Kriminal-Roman, psychoanalytischen Schriften sowie Erinnerungs- und Exil-Literatur. Und am alten Sitz der Biblioteca Nacional, dort, wo Manguels berühmter Vorgänger achtzehn Jahre lang ein und ausging, soll ein Borges-Studienzentrum eröffnet werden.
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