Autor: "Haiti wurde systematisch entmündigt in den letzten 20 Jahren"
In Haiti herrsche de facto die UNO, sagt Hans Christoph Buch. Aber die verwalte nur das Chaos und sei nicht an Lösungen interessiert. Damit der Staat eine Zukunft hat, müsse man der Bevölkerung die Chance gebe, eigene Initiativen zu ergreifen.
Matthias Hanselmann: Mehr als eine Million Menschen leben immer noch in provisorischen Zeltlagern in der Hauptstadt Haitis, in Port-au-Prince, und darum herum. Das Erdbeben vom Jahresbeginn hat über 250.000 Menschenleben gefordert. Vor Kurzem brach die Cholera aus, die auch schon Hunderten Menschen das Leben gekostet hat. Aktuell rast ein Hurricane auf die Südhälfte der Insel zu, es wurden schon Schulen und andere öffentliche Gebäude dafür vorbereitet, viele Tausend Menschen aufzunehmen, deren Zelte von dem Wirbelsturm weggefegt werden könnten.
Hans Christoph Buch ist Autor mit haitianischen Vorfahren. Ende des 19. Jahrhunderts ist sein Großvater nach Haiti ausgewandert, hat dort eine Einheimische geheiratet und eine Apotheke aufgemacht. Hans Christoph Buch hat mehrere Bücher, Romane und Reportagen, über Haiti veröffentlicht, zuletzt "Haiti – Nachruf auf einen gescheiterten Staat", erschienen bei Wagenbach. Und er ist jetzt zu Gast bei uns im Studio. Schön, dass Sie gekommen sind, Herr Buch, guten Tag!
Hans Christoph Buch: Guten Tag!
Hanselmann: Und herzlichen Glückwunsch, gestern haben Sie den Schubart-Preis der Stadt Aachen erhalten, worüber Sie sich sicher freuen!
Buch: Ja, danke!
Hanselmann: Sie waren zuletzt im April in Haiti – mit welchen Eindrücken sind Sie zurückgekommen?
Buch: Ja, man hat das Gefühl, dieses Land – das ist ja keine Insel, sondern nur die Hälfte der Insel, auf der anderen Seite ist die Dominikanische Republik, der es recht gut geht –, man hat das Gefühl, dieser Inselstaat ist von der Geschichte oder von Gott verflucht, denn schon vor dem Erdbeben war Haiti immer am Rand der Katastrophe – politisch, sozial gesehen. Und auch vorher gab es schon verheerende Überschwemmungen, Wirbelstürme und so was. Dann gab es Nachbeben noch bis Mai, und danach schon mal einen Regensturm, der die Zeltstädte verwüstet hat. Die Regenzeit blieb in den letzten Jahren oft aus, dafür regnet es jetzt ganz besonders viel in diesem Jahr, wo man es nicht gebrauchen kann, weil die Häuser zerstört sind.
Und die Cholera war eigentlich keine Überraschung – das klingt jetzt zynisch –, denn unter diesen hygienischen Verhältnissen, ohne fließend Wasser, ohne elementarste medizinische Versorgung ist es sehr schwer, sich nicht anzustecken. Und jetzt ein erneuter Hurricane – also man kann verstehen, dass die Haitianer abergläubisch werden und an göttliche Einwirkung glauben. Oder wie ihnen die evangelikalen Prediger im Fernsehen einreden, das sei alles die Folge des Voodoo, denn sie hätten einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, sagen diese evangelikalen Prediger, und würden deshalb von Gott bestraft.
Hanselmann: Also man muss abergläubisch sein oder leicht beeinflussbar durch solche Aussagen, um so was zu glauben. Lassen Sie uns realistisch bleiben. Katastrophen sind ja das eine, das andere ist, wie man darauf vorbereitet ist. Wie hängen die Folgen der Katastrophen mit den Verhältnissen in Haiti zusammen?
Buch: Es gab überhaupt keine Vorbereitung, obwohl ein Seismologe in Haiti, der in Paris studiert hatte, seit Jahren hinwies darauf, dass ein Erdbeben im Raum Port-au-Prince in genau dieser Stärke - 7,0 - bald kommen würde. Die Regierung hat es abgelehnt, darauf zu hören, man hat ihn sogar aufgefordert, seine Erkenntnisse bloß nicht öffentlich zu machen, das würde Panik verursachen, und er hat trotzdem für Umweltschutz demonstriert, für Katastrophenschutz, er hat gefordert, dass man Zivilschutzübungen durchführt in Schulen, Ministerien und so weiter, so wie es in Kalifornien oder Japan üblich ist zur Vorsorge gegen Erdbeben.
Nichts dergleichen geschah. Hinzu kommen Bauauflagen, die nur auf dem Papier existieren, das heißt, es wurde am Bau gepfuscht. Und gerade diese Häuser, die oft viele Stockwerke haben und schwere Betondecken, die stürzten wie Kartenhäuser in sich zusammen. Danach ging es ähnlich weiter. Die Regierung war abwesend, da kann man ihr kaum einen Vorwurf draus machen, denn sie war selbst betroffen. Viele Ministerien, auch der Präsidentenpalast waren zerstört, viele Politiker waren auch ums Leben gekommen, und nur durch den Einsatz internationaler Hilfsorganisationen und vor allem durch die UNO-Präsenz kam die Nothilfe in Gang, die recht gut funktioniert hat.
Aber die Trümmer sind nicht beseitigt, man weiß übrigens gar nicht wohin mit dem Bauschutt, und er landet dann ironischerweise, zynischerweise auf dem Strand, der eigentlich Touristen anlocken soll, weil Haiti klein und überbevölkert ist. Es gibt keinen Platz, man kann auch nicht einfach den Bauschutt auf ein Privatgrundstück schütten, und so werden jetzt die Strände verschandelt. Man muss sich vorstellen, das Volumen dieses Schutts ist größer als das Gestein aus dem St.-Gotthard-Tunnel, umfangreicher. Das muss jetzt in Haiti irgendwie beseitigt werden. Ganz zu schweigen vom Neuaufbau, der noch kaum begonnen hat.
Hanselmann: Und verjagt dann die Touristen von Stränden sozusagen. Herr Buch, Ihre Frau ist Ärztin und hat Sie öfter nach Haiti begleitet. Sie haben eben angesprochen die Hilfsmaßnahmen der UNO. Wie steht es denn mit der medizinischen Versorgung langfristig gesehen? Es wurden und werden ja wohl immer noch massive internationale Hilfeleistungen bereitgestellt, oder sehe ich das falsch?
Buch: Es gibt immer noch die Nothilfe, es gibt immer noch – Gott sei Dank – eine ganze Reihe von Hilfsorganisationen vor Ort, und die medizinische Versorgung läuft besser als vor dem Beben, so seltsam das klingt. Nur die Folge ist, dass viele Ärzte pleitegehen, denn wenn die medizinische Versorgung umsonst ist an der nächsten Straßenecke – in einem Zelt des Roten Kreuzes oder wo auch immer –, dann kommen die Leute nicht mehr zu den Ärzten und zu den einheimischen Kliniken, die schlecht funktionieren, aber die es doch gab, abgesehen von den Zerstörungen durchs Erdbeben.
Also medizinische Hilfe findet statt, es gab jetzt auch eine Kampagne zur Soforthilfe gegen die Cholera, die ist relativ leicht zu bekämpfen mit Infusionen, aber der Gesundheitszustand der Bevölkerung ist trotzdem katastrophal. Besonders auf dem Land, wo die Leute nicht so leicht erreichbar sind für die Hilfsorganisationen, herrscht Tuberkulose fast als Volkskrankheit, dazu auch noch Aids und andere Seuchen, die Haiti heimsuchen.
Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit Hans Christoph Buch, Autor und Haiti-Kenner mit Vorfahren in Haiti, über die gegenwärtigen Verhältnisse in Haiti und auch über die, sagen wir mal, Wege, die dazu geführt haben, dass es das geworden ist, was es heute ist.
Herr Buch, Sie bezeichnen Haiti als einen gescheiterten Staat. Ende des 19. Jahrhunderts, da war es noch die reichste französische Kolonie, die schwarzen Sklaven haben den erfolgreichsten Aufstand der amerikanischen Geschichte durchgeführt, der ja der Anfang hätte sein können für einen funktionierenden Staat. "Frei leben oder sterben" war damals das Motto der Mulatten Ende des 18. Jahrhunderts. Warum ist dieser Staat gescheitert und woran?
Buch: Das hat viele Gründe, und die Haiti-Kenner zerbrechen sich seit Langem darüber den Kopf. Zunächst mal waren die Sklaven zwar sehr gute Kämpfer, sie hatten auch in der Französischen Revolution gelernt, sich zu organisieren und sie haben eine von Napoleon geschickte Armee vernichtend geschlagen, aber sie waren nicht in der Lage, einen Staat aufzubauen. In der Mehrheit waren es Analphabeten.
Dann war dieser Staat isoliert. Das kolonial verstrickte Europa und auch die Vereinigten Staaten wollten nicht eine schwarze Republik anerkennen, in der die früheren Sklaven das Sagen hatten. Haiti war isoliert, wirtschaftlich und politisch, musste Reparationszahlungen an Frankreich leisten, die sehr kostspielig waren, und hinzu kommt, dass im Innern sich nicht die Demokratie durchgesetzt hat, sondern eigentlich immer das Recht des Stärkeren herrschte – Militärputschs, Massaker, wir kennen das aus den Schlagzeilen.
Auch im 20. Jahrhundert gab es eine blutige Diktatur, Papa Doc, dann sein Sohn Baby Doc, dann Aristide, ein Armenpriester, der auch gescheitert ist. Es ist leider keine Erfolgsgeschichte, sondern tatsächlich eine Geschichte des Scheiterns. Der Staat hat über Jahre und Jahrzehnte hinweg eigentlich nur auf dem Papier existiert. Es gibt ihn nur theoretisch. Wenn man ihn braucht, ist er nicht da. Aber wenn es darum geht, Hilfslieferungen zu behindern oder sinnlose Auflagen zu machen, beim Zoll oder sonst wo, dann ist der Staat plötzlich präsent.
Man muss sich das vorstellen als eine Art Kleptokratie – Korruption ist endemisch. Und trotzdem ist Haiti kein gefährliches Land, wo man sein Leben riskiert, es ist auch früher ein schönes Land gewesen, ist es immer noch dort, wo keine Verwüstungen waren, und es hat eine sehr lebendige, sehr vitale Kultur, die interessanter ist als etwa in der Dominikanischen Republik nebenan. Also Musik, Literatur, Malerei, all das boomt in Haiti, trotz oder wegen der zahlreichen Katastrophen.
Hanselmann: Ich würde jetzt ein viel zu großes Nebenfeld aufmachen, glaube ich, wenn wir noch drüber reden würden, warum sich die Bevölkerung von Haiti über die vielen, vielen Jahre so hat beuteln lassen, sowohl von Katastrophen als auch von Diktatoren. Vielleicht noch zwei Sätze dazu: Was könnte oder was müsste passieren, damit dieser gescheiterte Staat, wie Sie ihn nennen, wieder in zukunftsträchtige, in demokratische Bahnen gerät?
Buch: Man müsste der Bevölkerung die Chance geben, eigene Initiativen zu ergreifen. Haiti wurde systematisch entmündigt in den letzten 20 Jahren. Die UNO herrscht dort de facto, und die ist nicht wirklich an Lösungen interessiert, sie verwaltet nur das Chaos. Die Bevölkerung hat gar keine Chance, und damit meine ich vor allem die Zivilgesellschaft, die es auch dort gibt: Intellektuelle, Studenten, Frauen – die sind organisiert, die möchten etwas tun, und man hört nicht auf sie. Stattdessen gibt es eine internationale Bürokratie, die viel Geld kostet und wenig bewirkt.
Hanselmann: Vielen Dank, Hans Christoph Buch, Autor des Buches "Haiti – Nachruf auf einen gescheiterten Staat", erschienen bei Wagenbach, danke schön für das Gespräch!
Hans Christoph Buch ist Autor mit haitianischen Vorfahren. Ende des 19. Jahrhunderts ist sein Großvater nach Haiti ausgewandert, hat dort eine Einheimische geheiratet und eine Apotheke aufgemacht. Hans Christoph Buch hat mehrere Bücher, Romane und Reportagen, über Haiti veröffentlicht, zuletzt "Haiti – Nachruf auf einen gescheiterten Staat", erschienen bei Wagenbach. Und er ist jetzt zu Gast bei uns im Studio. Schön, dass Sie gekommen sind, Herr Buch, guten Tag!
Hans Christoph Buch: Guten Tag!
Hanselmann: Und herzlichen Glückwunsch, gestern haben Sie den Schubart-Preis der Stadt Aachen erhalten, worüber Sie sich sicher freuen!
Buch: Ja, danke!
Hanselmann: Sie waren zuletzt im April in Haiti – mit welchen Eindrücken sind Sie zurückgekommen?
Buch: Ja, man hat das Gefühl, dieses Land – das ist ja keine Insel, sondern nur die Hälfte der Insel, auf der anderen Seite ist die Dominikanische Republik, der es recht gut geht –, man hat das Gefühl, dieser Inselstaat ist von der Geschichte oder von Gott verflucht, denn schon vor dem Erdbeben war Haiti immer am Rand der Katastrophe – politisch, sozial gesehen. Und auch vorher gab es schon verheerende Überschwemmungen, Wirbelstürme und so was. Dann gab es Nachbeben noch bis Mai, und danach schon mal einen Regensturm, der die Zeltstädte verwüstet hat. Die Regenzeit blieb in den letzten Jahren oft aus, dafür regnet es jetzt ganz besonders viel in diesem Jahr, wo man es nicht gebrauchen kann, weil die Häuser zerstört sind.
Und die Cholera war eigentlich keine Überraschung – das klingt jetzt zynisch –, denn unter diesen hygienischen Verhältnissen, ohne fließend Wasser, ohne elementarste medizinische Versorgung ist es sehr schwer, sich nicht anzustecken. Und jetzt ein erneuter Hurricane – also man kann verstehen, dass die Haitianer abergläubisch werden und an göttliche Einwirkung glauben. Oder wie ihnen die evangelikalen Prediger im Fernsehen einreden, das sei alles die Folge des Voodoo, denn sie hätten einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, sagen diese evangelikalen Prediger, und würden deshalb von Gott bestraft.
Hanselmann: Also man muss abergläubisch sein oder leicht beeinflussbar durch solche Aussagen, um so was zu glauben. Lassen Sie uns realistisch bleiben. Katastrophen sind ja das eine, das andere ist, wie man darauf vorbereitet ist. Wie hängen die Folgen der Katastrophen mit den Verhältnissen in Haiti zusammen?
Buch: Es gab überhaupt keine Vorbereitung, obwohl ein Seismologe in Haiti, der in Paris studiert hatte, seit Jahren hinwies darauf, dass ein Erdbeben im Raum Port-au-Prince in genau dieser Stärke - 7,0 - bald kommen würde. Die Regierung hat es abgelehnt, darauf zu hören, man hat ihn sogar aufgefordert, seine Erkenntnisse bloß nicht öffentlich zu machen, das würde Panik verursachen, und er hat trotzdem für Umweltschutz demonstriert, für Katastrophenschutz, er hat gefordert, dass man Zivilschutzübungen durchführt in Schulen, Ministerien und so weiter, so wie es in Kalifornien oder Japan üblich ist zur Vorsorge gegen Erdbeben.
Nichts dergleichen geschah. Hinzu kommen Bauauflagen, die nur auf dem Papier existieren, das heißt, es wurde am Bau gepfuscht. Und gerade diese Häuser, die oft viele Stockwerke haben und schwere Betondecken, die stürzten wie Kartenhäuser in sich zusammen. Danach ging es ähnlich weiter. Die Regierung war abwesend, da kann man ihr kaum einen Vorwurf draus machen, denn sie war selbst betroffen. Viele Ministerien, auch der Präsidentenpalast waren zerstört, viele Politiker waren auch ums Leben gekommen, und nur durch den Einsatz internationaler Hilfsorganisationen und vor allem durch die UNO-Präsenz kam die Nothilfe in Gang, die recht gut funktioniert hat.
Aber die Trümmer sind nicht beseitigt, man weiß übrigens gar nicht wohin mit dem Bauschutt, und er landet dann ironischerweise, zynischerweise auf dem Strand, der eigentlich Touristen anlocken soll, weil Haiti klein und überbevölkert ist. Es gibt keinen Platz, man kann auch nicht einfach den Bauschutt auf ein Privatgrundstück schütten, und so werden jetzt die Strände verschandelt. Man muss sich vorstellen, das Volumen dieses Schutts ist größer als das Gestein aus dem St.-Gotthard-Tunnel, umfangreicher. Das muss jetzt in Haiti irgendwie beseitigt werden. Ganz zu schweigen vom Neuaufbau, der noch kaum begonnen hat.
Hanselmann: Und verjagt dann die Touristen von Stränden sozusagen. Herr Buch, Ihre Frau ist Ärztin und hat Sie öfter nach Haiti begleitet. Sie haben eben angesprochen die Hilfsmaßnahmen der UNO. Wie steht es denn mit der medizinischen Versorgung langfristig gesehen? Es wurden und werden ja wohl immer noch massive internationale Hilfeleistungen bereitgestellt, oder sehe ich das falsch?
Buch: Es gibt immer noch die Nothilfe, es gibt immer noch – Gott sei Dank – eine ganze Reihe von Hilfsorganisationen vor Ort, und die medizinische Versorgung läuft besser als vor dem Beben, so seltsam das klingt. Nur die Folge ist, dass viele Ärzte pleitegehen, denn wenn die medizinische Versorgung umsonst ist an der nächsten Straßenecke – in einem Zelt des Roten Kreuzes oder wo auch immer –, dann kommen die Leute nicht mehr zu den Ärzten und zu den einheimischen Kliniken, die schlecht funktionieren, aber die es doch gab, abgesehen von den Zerstörungen durchs Erdbeben.
Also medizinische Hilfe findet statt, es gab jetzt auch eine Kampagne zur Soforthilfe gegen die Cholera, die ist relativ leicht zu bekämpfen mit Infusionen, aber der Gesundheitszustand der Bevölkerung ist trotzdem katastrophal. Besonders auf dem Land, wo die Leute nicht so leicht erreichbar sind für die Hilfsorganisationen, herrscht Tuberkulose fast als Volkskrankheit, dazu auch noch Aids und andere Seuchen, die Haiti heimsuchen.
Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit Hans Christoph Buch, Autor und Haiti-Kenner mit Vorfahren in Haiti, über die gegenwärtigen Verhältnisse in Haiti und auch über die, sagen wir mal, Wege, die dazu geführt haben, dass es das geworden ist, was es heute ist.
Herr Buch, Sie bezeichnen Haiti als einen gescheiterten Staat. Ende des 19. Jahrhunderts, da war es noch die reichste französische Kolonie, die schwarzen Sklaven haben den erfolgreichsten Aufstand der amerikanischen Geschichte durchgeführt, der ja der Anfang hätte sein können für einen funktionierenden Staat. "Frei leben oder sterben" war damals das Motto der Mulatten Ende des 18. Jahrhunderts. Warum ist dieser Staat gescheitert und woran?
Buch: Das hat viele Gründe, und die Haiti-Kenner zerbrechen sich seit Langem darüber den Kopf. Zunächst mal waren die Sklaven zwar sehr gute Kämpfer, sie hatten auch in der Französischen Revolution gelernt, sich zu organisieren und sie haben eine von Napoleon geschickte Armee vernichtend geschlagen, aber sie waren nicht in der Lage, einen Staat aufzubauen. In der Mehrheit waren es Analphabeten.
Dann war dieser Staat isoliert. Das kolonial verstrickte Europa und auch die Vereinigten Staaten wollten nicht eine schwarze Republik anerkennen, in der die früheren Sklaven das Sagen hatten. Haiti war isoliert, wirtschaftlich und politisch, musste Reparationszahlungen an Frankreich leisten, die sehr kostspielig waren, und hinzu kommt, dass im Innern sich nicht die Demokratie durchgesetzt hat, sondern eigentlich immer das Recht des Stärkeren herrschte – Militärputschs, Massaker, wir kennen das aus den Schlagzeilen.
Auch im 20. Jahrhundert gab es eine blutige Diktatur, Papa Doc, dann sein Sohn Baby Doc, dann Aristide, ein Armenpriester, der auch gescheitert ist. Es ist leider keine Erfolgsgeschichte, sondern tatsächlich eine Geschichte des Scheiterns. Der Staat hat über Jahre und Jahrzehnte hinweg eigentlich nur auf dem Papier existiert. Es gibt ihn nur theoretisch. Wenn man ihn braucht, ist er nicht da. Aber wenn es darum geht, Hilfslieferungen zu behindern oder sinnlose Auflagen zu machen, beim Zoll oder sonst wo, dann ist der Staat plötzlich präsent.
Man muss sich das vorstellen als eine Art Kleptokratie – Korruption ist endemisch. Und trotzdem ist Haiti kein gefährliches Land, wo man sein Leben riskiert, es ist auch früher ein schönes Land gewesen, ist es immer noch dort, wo keine Verwüstungen waren, und es hat eine sehr lebendige, sehr vitale Kultur, die interessanter ist als etwa in der Dominikanischen Republik nebenan. Also Musik, Literatur, Malerei, all das boomt in Haiti, trotz oder wegen der zahlreichen Katastrophen.
Hanselmann: Ich würde jetzt ein viel zu großes Nebenfeld aufmachen, glaube ich, wenn wir noch drüber reden würden, warum sich die Bevölkerung von Haiti über die vielen, vielen Jahre so hat beuteln lassen, sowohl von Katastrophen als auch von Diktatoren. Vielleicht noch zwei Sätze dazu: Was könnte oder was müsste passieren, damit dieser gescheiterte Staat, wie Sie ihn nennen, wieder in zukunftsträchtige, in demokratische Bahnen gerät?
Buch: Man müsste der Bevölkerung die Chance geben, eigene Initiativen zu ergreifen. Haiti wurde systematisch entmündigt in den letzten 20 Jahren. Die UNO herrscht dort de facto, und die ist nicht wirklich an Lösungen interessiert, sie verwaltet nur das Chaos. Die Bevölkerung hat gar keine Chance, und damit meine ich vor allem die Zivilgesellschaft, die es auch dort gibt: Intellektuelle, Studenten, Frauen – die sind organisiert, die möchten etwas tun, und man hört nicht auf sie. Stattdessen gibt es eine internationale Bürokratie, die viel Geld kostet und wenig bewirkt.
Hanselmann: Vielen Dank, Hans Christoph Buch, Autor des Buches "Haiti – Nachruf auf einen gescheiterten Staat", erschienen bei Wagenbach, danke schön für das Gespräch!