Autor: In Ägypten gibt es einen "unumkehrbaren Prozess"

Magdi Gohary im Gespräch mit Andreas Müller · 11.07.2012
Eineinhalb Jahre nach dem Arabischen Frühling in Ägypten akzeptieren die Menschen in dem Land keine politische Monopolbildung mehr, meint der Autor Magdi Gohary. Und: Eine Umbruchsituation bedeute immer auch Chaos.
Andreas Müller: Das waren beeindruckende Szenen auf dem Tahrir-Platz in Kairo im Frühling vergangenen Jahres: Das Volk lieferte sich einen Kampf mit der alten Macht - und das Volk gewann. Inzwischen wurde gewählt. Aber die letzten Meldungen aus dem Land vermitteln den Eindruck, dass sich da eine Nation im Chaos verliert, dass vom Aufbruch auf dem Tahrir-Platz nicht mehr viel übrig ist.

In München begrüße ich Magdi Gohary. Der Autor war im vergangenen Jahr in Kairo auf dem Tahrir-Platz dabei und bereist immer wieder das Land. Schönen guten Morgen!

Magdi Gohary: Guten Morgen, Herr Müller!

Müller: Wir haben mit Ihnen vor über einem Jahr bereits einmal im "Radiofeuilleton" gesprochen, und damals haben Sie über die Zeit in Kairo gesagt, das waren die schönsten Tage meines Lebens. Wie sehen Sie die Lage heute?

Gohary: Also, das bleibt ja, die schönsten Tage meines Lebens, das bleibt. Und es bleibt auch, was ich vor einem Jahr, anderthalb Jahren gesagt habe, nämlich: Wir haben es, und wir hatten es damals, wir haben es noch mit einem unumkehrbaren Prozess zu tun. Und dieses Chaos, was Sie vorhin angedeutet haben, im Grunde genommen war es ja von Anfang an bis heute. Revolutionäre Entwicklungen, Umbruchsituation heißt immer Chaos, nichts anderes.

Müller: Wie viel ist aber noch geblieben von der Aufbruchstimmung von damals? Also, Tausende demonstrierten und erhofften sich neue Freiheiten!

Gohary: Übrigens, heute ist der Tahrir-Platz, also, gestern Nacht war er auch mit 50.000, 60.000 Leute schon da besetzt. Menschen, die ...

Müller: ... die für ihren Präsidenten Mursi demonstrierten, ja ...

Gohary: ... für den Präsidenten, ja ... Wir haben momentan mit einer Krise der Gewaltenteilung, um nicht zu sagen, Kampf um die Gewaltenteilung. Aber man müsste die Situation ein bisschen näher beschreiben, um was geht es momentan: Wir haben eine Militärführung ... Ich unterscheide zwischen Militär und Militärführung: Militär ist immer beliebt in Ägypten, Militärführung weniger. Die Militärführung (…) hat ja diese Übergangsperiode oder -phase verwaltet. Und diese Verwaltung war miserabel, wenn ich das benutzen darf.

Dann haben wir mit einer politischen Islambewegung – Muslimbrüderschaft und Salafisten –, die ein Parlament majorisieren, ein Parlament, das aufgelöst worden ist praktisch vom Gericht, dann vom Militär und jetzt vom Präsidenten vorübergehend wieder eingesetzt wurden oder erlaubt wurden ... Dann haben wir mit einem Präsidenten, der zwar aus dem politischen Islam kommt, aber seine Eigenschaft als Präsident verselbstständigt sich langsam. Das heißt, er ist kein Befehlsempfänger von irgendwelchen politischen Organisationen, er hat die Flucht nach vorne angetreten, hat gesagt, okay, ich nehme diesen Kampf auf, ich will meine Kompetenzen wieder haben.

Müller: Er muss sich ja auch profilieren im Clinch mit dem Militärrat. Aber noch mal die Frage: Ist ein Muslimbruder als Präsident oder ein machtvoller Militärrat das, was man sich damals erträumte?

Gohary: Nein, nein, nein. Aber einen Despot zu beseitigen, das ist ja wie in einem Fußballspiel, wenn eine Mannschaft in den ersten zwei Minuten zwei Tore erzielt, aber da sind noch 88 Minuten zu spielen. Wir sind mittendrin in diesen 88 Minuten. Also, das reicht ja nicht, einen Despoten zu beseitigen.

Denn das alte Regime besteht noch in allen administrativen Ebenen des Staates und der Gesellschaft und der Wirtschaft, zu schweigen vom Militär und von der Polizei. Dieser Präsident wurde ja von der Hälfte der Bevölkerung gewählt und die Hälfte von der Hälfte haben ihn zähneknirschend gewählt. Das heißt, das ist nicht der Liebling der Nation, sagen wir so, gab es ja nicht. Kann es ja auch so momentan nicht geben.

Jetzt ist er da, und jetzt wird gekämpft um die Gewaltenteilung. Und da mischt sich die Justiz, eine Art Verfassungsgericht, ein. Diese Justiz aber ist in der Wahrnehmung der Bevölkerung alle Männer von Mubarak. Das heißt, sie werden nicht innerlich akzeptiert und respektiert. Was sie sagen, spielt auf dem Tahrir-Platz überhaupt keine Rolle. Das hat man ja gestern gesagt. Gestern war die Hauptparole Säuberung der Justiz.

Müller: In welche Richtung entwickelt sich Ihrer Ansicht nach die ägyptische Gesellschaft da im Moment? Wir haben ja hier eher das Bild, die wir nicht ständig dort reisen und uns auch sicherlich in den islamischen Details nicht so auskennen, das Gefühl: Das geht in Richtung Islamismus.

Gohary: Das würde ich nicht sagen. Also, ich würde sagen, trotz allem Chaos, was da jetzt passiert, muss man ein paar Konstanten herauskristallisieren. Einmal: Die Menschen haben keine Angst mehr. Das ist neu! Und das ist sehr wichtig, das ist die Basis! Zweitens, die Menschen dulden nicht mehr irgendwelche politische Monopolbildung. Ob das Muslimbruderschaft, ob das Liberale, ob das ... egal was! Das heißt, hier haben wir es mit einer pluralistischen Gesellschaft zu tun. Und das ist ja interessant, weil es maßgeblich auch für die Entwicklung nicht nur Ägyptens, sondern die ganze Region ... Übrigens eine Region, die kurz vor einem Krieg steht, das darf man auch nicht vergessen! Wir haben ein Minenfeld in Syrien, wir haben einen drohenden Krieg seitens Israel und USA gegen Iran, das sind die außenpolitischen Bedingungen in der Region. Und die innenpolitischen: Wir haben es mit einer desolaten Wirtschaft zu tun, der Mann muss sein Volk füttern, sehr viel Kapital muss aus dem Ausland kommen. Das sind schwierige, sehr, sehr schwierige Bedingungen.

Aber wenn man im Westen meint, das führt alles zum Islam, Islamismus oder irgendeinen Gottesstaat oder so: Ich halte das für wahnsinnig übertrieben und nicht nur das, sondern es ist einfach ... berücksichtigt nicht die richtige Entwicklung, was da abläuft. Keine Monopolbildung, keine Angst, Pluralismus – das sind die Konstanten, die man heute vorfindet ...

Müller: ... sind das die Konstanten, aus denen sich Ihr Optimismus speist? Sie klingen ja sehr optimistisch nach wie vor ...

Gohary: ... natürlich, natürlich! Denn es gibt Analytiker, die sagen, das ist ja so was Ähnliches wie die Französische Revolution, was die Auswirkung in der Region betrifft und sogar in der Welt. Weil, diese Region ist nicht Sumatra, diese Region ist nicht Osttimor, diese Region hat 60 Prozent der Ölreserven der Welt! Das heißt, diese Region ist zentral und hat ein ungelöstes Problem, nämlich den israelisch-palästinensischen Konflikt! Diese Region ist ein Minenfeld! Und da muss man behutsam vorgehen, auch mit plakativen Analysen wie zum Beispiel, das führt jetzt zu Islamismus. Aber ich muss sagen: Der politische Islam hat seinen Platz in der ägyptischen Gesellschaft. Das kann man nicht ausschließen.

Müller: Das ist sicherlich auch etwas, was wir hier einfach mal akzeptieren müssen. Unsere Erwartungen sind wahrscheinlich falsche. Ich meine, wenn die Leute einen Muslimbruder wählen, dann wählen sie ihn, das ist eine freie Entscheidung, und das ist dann eben auch Demokratie!

Gohary: Genau!

Müller: Über die Situation in Ägypten spreche ich im Deutschlandradio Kultur mit Magdi Gohary. Was sind denn die wichtigen Themen für das Volk, was will es vor allem? Sie haben eben schon eins genannt: Sie wollen gefüttert werden.

Gohary: Die Wirtschaft. Die Wirtschaft, alles, was diese Altlasten von dem alten Regime ... 40 Prozent der Ägypter leben von weniger als einem Euro am Tag. Das ist eine wahnsinnige Last für einen Präsidenten, für eine Regierung. Wie löst man dieses Problem bei chaotischen Verhältnissen? Das heißt, die Menschen, auch wenn sie jetzt vor dem Palast von Mursi stehen, dann stehen Hunderte von Menschen aus Betrieben, Administrationen, Beamte, die alle irgendwas wollen.

Und sie bleiben dort, sie bringen ihre Zelte mit. Das ist Druck! Also, sie wollen das erreichen. Das heißt, die Wirtschaft ist das A und O. Das muss er meistern.

Aber er hat die Zeit nicht dazu, niemand hat die Zeit dazu! Das ist ein Land mit ... Während ich mit Ihnen hier spreche, werden ein paar hundert Ägypter geboren! Das ist fast unlösbar. Aber – und jetzt kommt mein Optimismus – ein Tunnel mit einem Ende ist tausend mal besser als ein Tunnel ohne Hoffnung, wie das unter Mubarak war!

Müller: Was sagen Intellektuelle, was sagen Künstler zu dem, was im Lande passiert? Sind das vernehmbare Stimmen, haben die vielleicht sogar Einfluss?

Gohary: Also, sie haben Einfluss. Also, in die Medien haben sie Einfluss, gerade Einfluss bei der schweigenden Mehrheit. Also, 95 Prozent der Ägypten sitzen zu Hause und gucken im Fernsehen, das ist klar. Gespielt wird ja nur von zwei, drei Prozent der Bevölkerung. Das ist ja überall in allen Gesellschaften so. Die Intellektuellen sind total gespalten. Ich habe Freunde, die für den Präsidenten sind, Liberale, Säkulare, Linke, und andere, die dagegen sind, die fordern sogar das Militär auf, zu putschen! Also, das muss man sich vorstellen! Ich habe einen sehr guten Freund, einen Professor, Juraprofessor, fordert das Militär auf zu putschen gegen Mursi! Also, eine sehr polarisierte intellektuelle Szene. Aber das wird sich klären. Wobei ich im Moment die heutigen Tage für sehr gefährlich halte.

Müller: Sie sind viel im Land, Sie organisieren die Reisen in die Zivilgesellschaft, wie Sie das nennen. Sie haben also einen guten Kontakt zu allen möglichen Schichten der Gesellschaft, also nicht nur zu den Intellektuellen. Wenn Sie da sich umhören, was vermuten Sie, wo wird Ägypten in einem Jahr stehen, wie wird es aussehen?

Gohary: Ach, das ist eine schwierige Frage! Wenn ich diese Konstante weiter ausdenke, dann würde ich sagen, die Menschen haben sich daran gewöhnt, dass Herrscher kommen und gehen. Die Menschen haben sich daran gewöhnt, dass es politische Umwälzungen gibt. Das spielt jetzt, das ist heute nicht mehr, keine wahnsinnige Sensation mehr.

Diese Starre, dieser Stillstand unter Mubarak ist aufgebrochen, ein Deckel ist weg. Das kocht ja, der Dampf ist draußen! Und Europa und USA gucken zu. Sie sind zwar beschäftigt mit ihren Sachen, also, die Amerikaner mit ihrer Wahl und die Europäer, also wir, mit unserer Euro-Krise. Aber der Nahe Osten entwickelt sich wahnsinnig.

Und in einem Jahr, das kann keiner sagen. Ich kann nur hoffen! Ich kann nur hoffen, dass auch dieser Buhmann Islamismus, politischer Islam, sich so entwickeln könnte, dass wir in zwei, drei oder zehn Jahren mit den muslimischen Parteien in Ägypten so reden wie mit der Christlich-Sozialen Union in Bayern oder der CDU, der christlich-demokratischen Partei. Also, so könnte der Weg sein, ja, dass das nur ein Titel ist, basierend auf irgendwelchen Werten. Also, da, gut ...

Müller: Er ist nach wie vor optimistisch, Magdi Gohary mit seiner Einschätzung der aktuellen Lage in Ägypten, haben Sie vielen Dank!

Gohary: Dankeschön, Herr Müller!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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