"Ich bin ein Beobachter meiner selbst"
Es ist keine Autobiografie im klassischen Sinne: In "Aufleuchtende Details" erzählt Péter Nádas anhand von Assoziationsketten die Geschichte seiner Kindheit. Die Vielfältigkeit des Erinnerns und die Vielschichtigkeit des Denkens seien ihm dabei besonders wichtig gewesen.
Andrea Gerk: 17 Jahre lang hat der ungarische Schriftsteller und Fotograf Péter Nádas an seinem monumentalen Roman "Parallelgeschichten" gearbeitet und darin die dunkle Geschichte des 20. Jahrhunderts in Deutschland und Ungarn geschildert. In seinem neuen Buch "Aufleuchtende Details" blickt Péter Nádas, der seit Jahren als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt wird, erneut zurück, diesmal auf die Zeit seiner Kindheit, die Jahre 1942 bis 1956 bilden den Kern dieser 1278 Seiten umfassenden Autobiografie, die nicht zuletzt das Panorama eines dunklen Jahrhunderts entwirft. Ich hatte Gelegenheit, mit ihm darüber zu sprechen. Guten Tag, Herr Nádas, herzlich willkommen!
Péter Nádas: Guten Tag – das freut mich!
Gerk: Ihr Buch "Aufleuchtende Details" trägt ja einen interessanten Untertitel, es heißt "Memoiren eines Erzählers". Das klingt, als ob Sie gar nicht identisch wären mit diesem Erzähler, der aber ja doch Ihren Namen trägt. Wer ist denn dieser Erzähler.
Nádas: Dieser Erzähler ist eine interessante Person. Der ist der, der diese Geschichte erzählt. Ich habe in diesem Buch versucht, mich an Tatsachen zu halten, an die Tatsachen meines Lebens, meines Auffassens, wie ich die Welt erfuhr in meinen jungen oder jüngsten Jahren. Aber man hat Erinnerungen, man hat verschiedene Erzählungen von der Familie, man hat Familiendokumente, aber alles zusammen ergibt doch Lücken, sehr große Lücken, und ab und zu Abgründe, wenn die Dokumente verschiedene Tatsachen behaupten, wenn die Dokumente auseinandergehen, dann müsste man eigentlich entscheiden, wohin damit oder wie. Und ich habe das nicht entschieden, sondern erzählt. Ich erzähle diese Vielfältigkeit des Erinnerns, ich erzähle die Vielschichtigkeit des Denkens und des Bewusstseins.
Gerk: Wie funktioniert denn für Sie überhaupt Erinnern? Sie sind ja auch Fotograf, und schon im Titel klingt das ja mit an, dieses Aufleuchten, Beleuchten, Belichten. Und Sie werfen ja tatsächlich Licht auch auf sehr genaue Details. Da gibt es die dampfende Suppe ganz am Anfang, die pünktlich auf dem Tisch stehen muss, da gibt es die Leichen während der Belagerungszeit, die einem fast plastisch entgegenkommen. Und da gibt es zum Beispiel ein Moment, das immer wieder auftaucht, so eine frühkindliche Erinnerung, wo der Erzähler als Zweijähriger bei einem Bombenangriff gegen die Wand eines Treppenhauses geschleudert wird, und darüber lacht dann die Lieblingstante Magda immer, sie sagt, das sind deine Visionen. Was sind denn Erinnerungen für Sie, wie leuchten die auf, wie funktioniert das?
Erinnerungen aus Bildern, Tönen und Gerüchen
Nádas: Die Erinnerungen oder die Erinnerungsbilder funktionieren bei mir nicht besonders und nicht anders wie bei allen. Das Gedächtnis behält Bilder, und zu diesen Bildern gehören Töne, gehören Gerüche – eine Menge gehört noch dazu. Aber das sind Bilder, und diese Bilder sind auf einer Assoziationskette sozusagen gefangen. Und wenn ich mich an etwas erinnere, dann kommen damit auch andere Erinnerungen. Absichtlich kann ich nicht erinnern. Die kommen, diese Bilder, oder sie kommen nicht. Mit Absicht kann ich Fiktion schreiben, absichtlich kann ich Bilder herstellen, oder ich kann ein Erinnerungsbild empfangen.
Gerk: Unwillkürliche Erinnerung nennt man das ja auch …
Nádas: Ja. Und dann daraus eine Fiktion entwickeln. Aber in diesem Fall war mir Fiktion verboten. Deswegen sind nur Erinnerungsstücke, Bilder und Assoziationsketten geblieben. Und Assoziationsketten bilden die Struktur des Buches.
Gerk: Und welche Rolle spielt die Erfahrung, die Sie als Fotograf haben, für diese Arbeit mit der Erinnerung?
Nádas: Ja, wenn ich das sagen könnte, dann wäre ich ein weiser Mann. Aber ich bin es nicht, ich bin nur alt, aber nicht weise geworden.
Gerk: Péter Nádas, warum sind Sie eigentlich Fotograf geworden?
Nádas: Warum ich Fotograf geworden bin? Weil ich eine Beobachtungsgabe habe. Ich bin ein überzeugter Demokrat, ich bin überzeugt, dass jeder diese Gabe hat, aber man entwickelt diese Gabe oder entwickelt sie nicht. In einer opportunistischen oder diktatorischen Gesellschaft ist die Entwicklung rückgängig, man will an gewisse Dinge nicht erinnern und wird nicht erinnert. Man will gewisse Dinge nicht vor Augen haben, und man hat das. Man will keine Einzelheiten sehen oder wissen und weiß nicht. Das hängt von vielen Faktoren ab, aber ich bin Fotograf geworden, weil meine Beobachtungsgabe funktioniert und diese Beobachtungsgabe wurde dann geschult an der Fotografie.
Gerk: Geht es da auch um diese Offenheit, die Sie an einer Stelle erwähnen, dass man die Wahrnehmung öffnet, um überhaupt sehen, um überhaupt erinnern zu können? Denn Sie schreiben sehr schön an einer Stelle, da erzählt der Erzähler von seinem Vater, der ihn immer mit so naturwissenschaftlichen Erklärungen zugeschüttet hat, und dann sagt der ganz erstaunlicherweise, ich habe alles Persönliche vermieden. Im Text heißt es dann, diese Eigenschaft habe ich leider geerbt, und ich versuche, sie durch völlige Offenheit auszugleichen. Was ist denn das für eine Offenheit?
Nádas: Offenheit ist, dass ich auf alle Fragen offen eingehe. Ich versuche, mich nicht zu verhüllen, mich nicht zu schminken und nicht mit Dekorationen zu arbeiten oder zu sprechen oder zu schreiben. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich mich gänzlich öffnen kann. Also ganz Persönliches wird geschützt, ich weiß nicht, warum, aber das ist eine Eigenschaft. Aber Persönliches hat die Möglichkeit, durch Zimmerfluchten wie in einem Schloss – ich öffne einen Saal, und es gibt noch hinter diesem Saal mehrere Säle. Und diese mehreren Säle können verschlossen bleiben dann.
Gerk: Das ist also auch ein Schutzraum, denn Sie haben ja auch wirklich die Schrecken des 20. Jahrhunderts am eigenen Leib, in der eigenen Familie erlebt. Ihre Eltern waren im kommunistischen Widerstand während der Belagerungszeit, und im Kommunismus sind sie wieder bestraft worden. Da muss ja auch ein großer Schmerz in Ihnen sein, der vielleicht dann in dem Raum hinter dem Raum, den wir betreten dürfen als Leser, dann doch verborgen bleibt.
"Meine Betrachtungsweise bleibt neutral"
Nádas: Ich versuche, den Schmerz nicht öffentlich zu machen, also gegenüber dem Schmerz auch vernünftig zu bleiben und den Schmerz, den man ab und zu in gewissen Situationen hat – man kann das nicht vermeiden – auch als Material in meinen Büchern zu verwenden. Material, aber nicht die Betrachtungsweise. Die Betrachtungsweise, und das habe ich vielleicht von meiner Familie irgendwie geerbt, bleibt eher neutral, beobachtend. Ich beobachte. Ich bin ein Beobachter meiner selbst, und ich bin beruflich Beobachter verschiedener Ereignisse um mich herum.
Gerk: Wie schauen Sie denn vor diesem familiären und biografischen Hintergrund, wo Sie ja erfahren haben, was Ideologie anrichten kann und auch der Glaube an ideologische Versprechen, auf die Entwicklungen in unserer Gesellschaft jetzt?
Nádas: Ab und zu war das ein Schock. Ich wurde getauft, ich habe protestantischen Glaubensunterricht bekommen, und ich bin nach Hause gegangen und habe meiner Mutter gesagt, dass ich die Juden hasse. Und meine Mutter fragte, warum. Und dann sagte ich, weil die den guten kleinen Jesus Christus getötet haben. Und meine Mutter fragte, ob ich Juden kenne. Ich kenne keine Juden. Und dann hat sie mich vor den Spiegel gestellt und sagte, ja dann, bitte, sieh hier einen. Ich war acht Jahre alt, und das hat mich wirklich geschockt, und das war eine große Lehre. Eine grausame Tat von meiner Mutter, aber eine schöne Tat zugleich, weil ich in dieser Minute nicht den Juden sah, sondern ich sah den Antisemiten. Wie Antisemitismus, wie Rassenhass entsteht auf verschiedenen Ebenen des kulturellen Erbes. Das ist auch ein Erbe, Rassenhass.
Gerk: Haben denn die Ungarn selbst, die ja auch die Juden massenhaft in die Vernichtung geschickt haben, die Juden, die sich, wie Sie auch in dem Buch zeigen, ja sehr schnell und sehr gut assimiliert hatten und dann ja doch auch von den eigenen Landsleuten in den Tod geschickt wurden, haben die denn inzwischen in den Spiegel geschaut? Gibt es da eine Aufarbeitung dieses geschichtlichen Kapitels?
Nádas: Man kann nichts aufarbeiten. Aufarbeitung, das ist – ich spreche hier in Gegenüberstellungen, das ist ein buddhistischer Begriff. Und außerdem muss man einen Unterschied machen zwischen persönlicher Verantwortung und historischer Verantwortung. Historische Verantwortung ist unverrückbar, das ist langfristig, es gibt keine Ausnahme, das muss man tragen, die historische Verantwortung. Eine Nation kann natürlich ihren Taten gegenübergestellt werden, aber das heißt noch lange nicht, dass jeder dafür verantwortlich ist, persönlich verantwortlich.
Gerk: Wie würden Sie denn Ihre Haltung oder Ihre Gestimmtheit beschreiben? Sie schreiben einmal in dem Buch, dass Humane sei ein wünschenswerter Zustand, oder an anderer Stelle, Kants moralischer Imperativ funktioniert überhaupt nicht. Was bleibt denn da, woran man sich halten oder woran man vielleicht sogar glauben kann?
Nádas: Glauben braucht man nicht. Man ist so bestellt, also anthropologische, dass man zwischen den verschiedenen Ebenen des Denkens und Entscheidens ganz gut unterscheiden kann. Man weiß ganz genau in der Minute der Entscheidung, was ich mache und warum ich das mache. Und das wird so gespeichert. Nicht für alle Zeiten, sondern für die Zeit des persönlichen Lebens. Und man kann dann darüber lügen, man kann dann sich entschuldigen, man kann über die Umstände sich beschweren. Man kann alles machen, das ist wiederum eine neue Schicht im Bewusstsein, die ein Schriftsteller, ein Autor zur Kenntnis nehmen muss. Ich nehme das zur Kenntnis, ich beurteile das nicht unter moralischen Aspekten. Es gibt moralische Aspekte, aber moralische Aspekte werden durch Interesse immer wieder überschrieben.
Gerk: Und geht Ihr Erinnerungsprojekt weiter? Sie schauen zwar eigentlich aufs ganze Jahrhundert, aber schauen ja persönlich auf diesen Zeitrahmen bis 1956. Geht das weiter?
"Wir sind alles Kriegsversehrte"
Nádas: Mich hat nicht besonders mein persönlicher Werdegang oder meine Biografie interessiert. Mich hat interessiert, wie Bewusstsein entsteht, welche Bewusstseinsinhalte woher kommen. Ob sie verstanden werden oder nicht verstanden werden, wir haben eine Menge Begriffe, die wir lebenslang nicht richtig verstehen. Wir versuchen nachzuahmen, wie die anderen das verstehen, aber wir verstehen das bis ans Lebensende nicht, und das hat seine Ursachen, soziologisch, also familiär … Das ist sehr vielschichtig. Aber mich hat genau dieser Vorgang interessiert und nicht mein Leben. Mein Leben ist hier nur ein Beispiel, ein europäisches Beispiel, wie das Bewusstsein eines Europäers, der in Ungarn geboren ist und ungarischer Staatsbürger ist, ausgebildet ist, durch welche Einflüsse, durch welche Ereignisse. Und wenn ich das zusammenfassen sollte, dann muss ich sagen, dass wir alle in Europa, ob wir später geboren sind oder früher geboren, alle Kriegsversehrte sind. Und unsere Begriffe sind durch Krieg verstellt und beeinflusst.
Gerk: Ein sehr bewegendes Porträt eines ganz normalen Europäers haben Sie da geschrieben. Vielen Dank, Péter Nádas, für dieses Gespräch!
Nádas: Ich danke Ihnen.
Gerk: Und das Buch "Aufleuchtende Details. Memoiren eines Erzählers" ist im Rowohlt-Verlag erschienen, aus dem Ungarischen übersetzt von Christina Virak. 1278 Seiten kosten 39,99 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
(Das Gespräch ist eine Wiederholung vom 21.11.2017.)