"Hongkongs Marsch in die Diktatur trifft mich ins Herz"
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Das neue Sicherheitsgesetz für Hongkong macht auch vor Büchern nicht halt: Lehrmittel werden überprüft, unliebsame Werke aus Bibliotheken entfernt. So wolle China den Patriotismus der Jugend fördern, meint der Autor Jan-Philipp Sendker.
Andrea Gerk: Bücher werden verboten, Unschuldige verhaftet – die Welt sieht dieser Tage zu, wie in Hongkong eine Diktatur errichtet wird. Die Grundlage dafür ist das von China erlassene Sicherheitsgesetz, das heftige Kritik hervorruft. Auch die EU-Außenminister haben gestern bei ihrem Treffen in Brüssel darüber beraten. Jan-Philipp Sendker war viele Jahre Amerika- und Asienkorrespondent. Er ist zudem ein erfolgreicher Romanautor. Unter anderem hat er die Chinatrilogie "Das Flüstern der Schatten" geschrieben. Was bekommen Sie von den Auswirkungen des Sicherheitsgesetzes für Hongkong mit, Herr Sendker?
Jan-Philipp Sendker: Jetzt gehen die schlimmsten Albträume in Erfüllung. Ich habe vier Jahre in Hongkong gelebt und damals bei der Übernahme miterlebt, wie die Probleme schon anfingen. Für die Chinesen der Volksrepublik war das eine Riesengeschichte: das Ende der Kolonialzeit, und eine Schmach wurde ausgelöscht - es wächst zusammen, was zusammengehört.
Freunde fragen: Was willst Du in China?
Meine Freunde und die Mehrheit der Hongkonger hatten indes kein Interesse an China. Die fuhren da noch nicht mal hin. Ich bin damals als Korrespondent und später für meine Romane wochenlang in China gewesen. Meine Freunde haben mich gefragt: Was willst du da, was machst du da? Die Hongkonger kannten sich in New York, in London oder in Sydney aus, aber China hat sie nicht interessiert.
Damals hatte man schon Angst. Viele verließen die Stadt Ende der 90er-Jahre, weil man befürchtete, was jetzt passiert. Die Chinesen haben das sehr schlau gemacht: Erst mal gar nichts gemacht. Nun höre ich von Freunden nur, dass sie weg wollen. Da ist wirklich die nackte Angst, denn das ist eine Art Ermächtigungsgesetz.
Asyl für Menschen aus Hongkong
Gerk: Hongkong bräuchte jetzt dringend internationale Unterstützung. Das sagen auch Dissidenten. Was müsste denn passieren, was kann denn der Westen überhaupt tun, um China in die Schranken zu weisen?
Sendker: Ich glaube, dass der Westen eine ganze Menge tun kann. Ein erster Schritt war die Ankündigung des britischen Premierministers Boris Johnson, dass alle die eine Art britischen Overseas-Pass haben, das Recht bekommen sollen, nach England zu wandern.
Das Gleiche könnte auch die EU machen und denjenigen Asyl geben, die aus Hongkong wegwollen. Denn die Chinesen brechen Verträge. 1997 hieß es: ein Land, zwei Systeme. Das sollte für 50 Jahre gelten. Außerdem kann man auch versuchen, wirtschaftlich Druck auszuüben.
Kampf um die Herzen und Köpfe der Jugend
Gerk: Peking versucht ganz direkt Einfluss zu nehmen: Der Internetverkehr wird überwacht, die Berichterstattung kontrolliert, und die Schulbücher sollen überprüft werden. Wissen Sie, was das heißt? Was muss da rausgestrichen werden?
Sendker: Die Hongkonger haben sich als Chinesen, aber nicht als Chinesen aus der Volksrepublik gefühlt, sondern als Hongkong-Chinesen. Sie hatten mit der Volksrepublik nichts zu tun und auch keinen Stolz gefühlt. Das heißt, über die Schulbücher versucht Peking, in den Köpfen der jungen Menschen eine Art Nationalstolz zu wecken. Denn sie wissen, dass die ältere Generation im Prinzip verloren ist.
Nun soll wieder die Nationalhymne gesungen werden. Es gibt aber eine inoffizielle Hymne für Hongkong, die ist verboten. Schüler, die diese Hymne auf dem Schulhof summen oder singen, werden bestraft. Es ist ein Kampf um die Herzen und Köpfe der Kinder und Jugendlichen.
Auch Kritikern aus dem Westen drohen Strafen
Gerk: Das Gesetz gilt weltweit. Das heißt, Sie müssen auch aufpassen, was Sie sagen, wenn Sie wieder hinreisen wollen?
Sendker: Ja, ist das nicht absurd? Ich habe das in einem Artikel gelesen. Wenn ich mich für die Unabhängigkeit Hongkongs ausspreche oder nur Sympathie oder Unterstützung für die Demokratiebewegung äußere, kann ich dafür belangt werden, wenn ich nächstes Jahr wieder nach Hongkong reise, um Freunde zu besuchen und für einen Roman zu recherchieren.
Gerk: Sie haben für Ihre Romane in China recherchiert, Sie kennen viele Leute, wie ist das für Sie?
Sendker: Es trifft mich sehr. Unser Sohn ist dort geboren worden, ich habe viele Erinnerungen und auch noch Freunde und Bekannte dort. Ich hatte Tage und Wochen, in denen ich aufgrund der Hoffnungslosigkeit in eine depressive oder melancholische Verstimmung verfiel. Das ist jetzt ein Marsch in eine Diktatur, der kann eigentlich nicht mehr gestoppt werden. Wie gesagt, ich habe drei Romane geschrieben, ich hab dort viele Jahre verbracht – das trifft mich ins Herz.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.