"Ein anständiger Mensch wählt keine Rechtsradikalen"
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Als Sohn eines Kommunisten kam Sergej Lochthofen in der sibirischen Verbannung zur Welt und wuchs in der DDR auf. In der Sowjetunion war er der Deutsche, in der DDR der Russe. Nach dem Mauerfall leitete er fast 20 Jahre lang die "Thüringer Allgemeine“.
In einem Arbeitslager nördlich des Polarkreises wurde Sergej Lochthofen 1953 geboren, im russischen Workuta, fast 2000 Kilometer von Moskau entfernt. Der Vater, ein deutscher Kommunist, wurde hier, zusammen mit seiner russischen Ehefrau, jahrelang inhaftiert. Die Winter waren klirrend kalt. Der kleine Sergej hatte da seine eigene Messmethode: "Wenn man rausging und spuckte, und die Spucke kam als Eis an, dann war es sehr kalt."
Lochthofen spricht dennoch von einer schönen Kindheit, auch wenn Stacheldraht und bewaffnete Wachposten ständig präsent waren.
"Kinder richten sich ja überall ein, die kennen das nicht anders. Die fühlen sich erst unsicher, wenn sie woanders sind. Genauso war es in Workuta."
"Die Mutter hatte immer Angst"
Während der Stalinzeit, so schätzt man, wurden bis zu 20 Millionen Menschen in Straflager verschleppt. Über 100.000 Menschen, erzählt Sergej Lochthofen, seien allein in Workuta ums Leben gekommen. Hier saßen nicht nur politische Gefangene, sondern auch Kriminelle.
"Die Mutter hatte immer Angst, dass wir zu nah in diese Gesellschaft geraten. Kinderschänder waren darunter, auch Mörder. Insofern war es schon eine besondere Kindheit. Aber es gehörte zum Alltag. Wir kamen damit ganz gut zurecht."
Warum der Vater, in den 1930er Jahren vor den Nazis geflohen, überhaupt inhaftiert wurde, das sei dem Autor und Journalisten bis heute nicht ganz klar. Jährlich habe es eine neue Überprüfung gegeben, jedes Jahr "kriegte er ein anderes Urteil", erinnert sich Lochthofen.
Von Weltrevolution nicht genug
Erst 1958 kam die Familie frei. Der Vater stammte aus dem Ruhrgebiet, der Weg in Bundesrepublik stand offen. Doch man ging in die DDR. Warum? "Er hatte offensichtlich von der Weltrevolution noch nicht genug", sagt Lochthofen. "Seine Analyse war, dass in Russland, in einem sehr unterentwickelten Land, die ganze Entwicklung gar nicht anders laufen konnte. Und er hatte wirklich die Hoffnung, dass in einem anderen Teil Deutschlands, das anders gemacht werden könnte."
Heute sieht Lochthofen in seinem Vater einen "Revolutionsromantiker": Das sowjetische Modell des Sozialismus sei eine "Fehlkonstruktion" gewesen. Dennoch, so der Journalist, "die soziale Frage in dieser Welt", die bestehe bis heute.
Nach dem Abitur in der DDR beginnt er zunächst ein Kunststudium auf der Krim, wechselt später nach Leipzig, studiert dort Journalistik. Lochthofen tritt damit in die Fußstapfen seines Vaters, arbeitet bis 1990 als Nachrichtenredakteur bei "Das Volk". Im gleichen Jahr wird die Zeitung in "Thüringer Allgemeine" umbenannt.
Lochthofen, noch immer sowjetischer Staatsbürger, steigt zum ersten Chefredakteur auf. Erst 1993 nimmt er die deutsche Staatsangehörigkeit an. Fast zwanzig Jahre lenkt der Journalist das Blatt. Das Arbeitsverhältnis endet im Streit.
"Zwischen DDR und Bundesrepublik hängengeblieben"
Bis heute, auch nach seiner aktiven Zeit als Journalist, gilt Lochthofen als "Stimme des Ostens". Er wird gefragt, wenn man verstehen will, warum in Thüringen so viele Menschen die AfD wählen. Auch dem 68-Jährigen fällt eine Antwort nicht immer leicht. Schließlich gehe es Thüringen und den Menschen besser als noch vor 20 Jahren.
Ein möglicher Erklärungsansatz: "Ich glaube schon, dass ein Teil der Ostdeutschen zwischen der DDR und der Bundesrepublik hängengeblieben sind." Nur ein Teil, nicht alle, betont Lochthofen - "damit das nicht in den falschen Hals kommt".
Und er fügt hinzu: "Neben dem Wunsch, meine eigenen Dinge durchzusetzen, spielt auch der Anstand eine große. Der Anstand ist ein ganz wichtiges Korrektiv. Und ein anständiger Mensch wählt keine Rechtsradikalen."
Seit Sergej Lochthofen nicht mehr Chefredakteur der "Thüringer Allgemeinen" ist, hat er sich in den letzten Jahren vor allem auf seine Arbeit als Autor konzentriert. In "Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters" und: "Grau: Eine Lebensgeschichte aus einem untergegangenen Land", beschäftigt sich Lochthofen ausführlich mit seiner und der Biografie seines Vaters.
Und um sein Russisch nicht zu verlieren, versucht Lochthofen der Enkeltochter die Sprache beizubringen. "So roste ich nicht ein."
(ful)