Autor und Musiker Anatol Regnier

"Mit dem Schreiben hat mein Leben erst begonnen"

35:12 Minuten
Anatol Regnier, deutscher Schriftsteller, Chansonsänger und Gitarrist, in Münsing am Starnberger See 2019.
Anatol Regnier hat unter anderem ein Buch über die Kinder berühmter Künstler geschrieben – dieses Los kennt er aus eigener Erfahrung. © laif / Isolde Ohlbaum
Moderation: Susanne Führer |
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Etwas "Gescheites" zu tun, sei mit seinen Eltern einfach nicht drin gewesen, sagt Anatol Regnier, Sohn des Schauspielerpaares Pamela Wedekind und Charles Regnier. So wurde er Musiker, mit über 50 fand er schließlich zum Schreiben.
Anatol Regnier ist der Enkel des Dramatikers Frank Wedekind. Seinen berühmten Großvater hat er nie kennengelernt, aber im Haushalt seiner Eltern gingen andere Größen des Kulturlebens wie zum Beispiel Erich Kästner oder Erwin Piscator ein und aus. Als Kind war er stolz auf seinen berühmten Vater, den Schauspieler Charles Regnier:
"Wenn man mit ihm ins Lokal ging, haben sich alle umgedreht, Leute kamen und wollten Autogramme. Da hat man an einem Ruhm teilgenommen, den man geschenkt bekommen hat, der ja nicht der eigene war."

Schwierige Liebe zur Gitarre

Als Belastung habe er seine Herkunft nicht empfunden. Doch schon früh sagte ihm sein Bauchgefühl, er dürfe nicht ebenfalls Schauspieler werden. Stattdessen zog es Anatol zur Gitarre – eine komplizierte Liebe. Denn für das Gitarrenspiel brauche es bestimmte körperliche Voraussetzungen:
"Die Struktur der Hände, die Knochenstruktur, die Fingernägel und so weiter – alles das ist bei mir nicht gut. Deswegen liebt die Gitarre mich nur bedingt. Aber sie liebt mich schon, weil ich sehr schön ausdrucksvoll spielen kann."
Regnier, geboren 1945, war noch ein Jugendlicher, als die deutschen Verbrechen während des Nationalsozialismus für ihn zum Lebensproblem wurden. Durch die Bekanntschaft mit jüdischen Jugendlichen in London wurde ihm erstmals richtig klar, der Holocaust "ist Wirklichkeit gewesen. Das war ja nicht lange her. Das war weniger lange her als heute die sogenannte Wende."

Lebensthema deutsche Schuld

Es sei ein schlimmer Schock gewesen, weil alle Erwachsenen um ihn herum diese Zeit durchlebt hatten. Bei allen fragte er sich: "Die auch? Waren die Soldaten? Was haben sie gemacht?"
So ging Regnier noch vor der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland nach Israel. Dort wurde er sehr freundlich aufgenommen, er war "sehr glücklich". Obwohl er sich aus Engländer und Jude ausgab und deswegen immer wieder ein schlechtes Gewissen hatte.
Nach seiner Heirat mit der damals berühmten israelischen Sängerin Nechama Hendel wussten es allerdings alle. "Die Leute waren sehr großzügig. Haben gesagt, ‚ja, ja, schon gut, hast ein bisschen geschwindelt, reden wir nicht weiter drüber‘."

Endlich angekommen

Das Ehepaar zieht in den 1960er-Jahren nach Deutschland, gibt Konzerte, Regnier unterrichtet am Konservatorium in München. Seine nächste Station: Australien.
Zehn Jahre später kehren sie zurück. Regnier hat dort, am anderen Ende der Welt, den Stoff für sein erstes Buch "Damals in Bolechów" gefunden. Es erzählt die Geschichte einer jüdischen Familie in Galizien, von denen einige versteckt in einem Erdloch den Holocaust überlebten. In Sydney hatte Regnier deren Bekanntschaft gemacht. Als das Buch erschien, war Regnier 52 Jahre alt.
"Ich fühlte mich wunderbar, weil ich gemerkt habe: Du bist jetzt so lange durch die Welt gelaufen und irgendwelchen Phantomen hinterhergelaufen. Hier, lieber Freund, bist du angekommen. Hier gehörst du hin. Da hat mein Leben eigentlich erst begonnen."
Er führt das darauf zurück, dass er von klein auf gelernt habe, mit Sprache umzugehen. "Das war in unserer Familie selbstverständlich."

Bürgerlich? Niemals!

So wie es auch selbstverständlich war, keinen bürgerlichen Beruf zu ergreifen. "Das war bei uns undenkbar. Niemand hat daran gedacht, etwas Gescheites zu tun. Das war mit solchen Eltern einfach nicht drin."
In Regniers jüngstem Buch "Jeder schreibt für sich allein. Schriftsteller im Nationalsozialismus" versucht er, "in den nationalsozialistischen Alltag hineinzukriechen; mich in die Leute hineinzudenken, die damals hier in Deutschland geblieben sind".
Es sei schwierig gewesen, den richtigen Ton zu finden, "der weder anbiedernd ist noch entschuldigend, noch übertrieben moralisierend". Mehr als ein Jahr habe er gebraucht, um diesen Ton zu finden. "Es geht darum, etwas zu begreifen."
(sf)
Redaktioneller Hinweis: Dieses Interview ist eine Wiederholung vom 4.12.2020.
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