"Das Prinzip Hoffnung ist hier sehr stark"
Seit etwas mehr als zehn Jahren lebt die erfolgreiche Jugendbuchautorin Cornelia Funke in den USA. Im Gespräch räumt sie mit zahlreichen Missverständnissen über ihre Wahlheimat auf und erklärt, warum der Sozialneid in Europa größer ist.
Moderator: In 15 Tagen ist es so weit, dann wird in den USA gewählt, Hillary Clinton oder Donald Trump. Warum es zu dieser Alternative überhaupt kommen konnte, wie die amerikanische Gesellschaft funktioniert und welche Stimmungen dort herrschen, das untersuchen wir hier im Deutschlandradio Kultur in unserer US-Themenwoche aus unterschiedlichsten Blickwinkeln. Seit etwas mehr als zehn Jahren lebt die Schriftstellerin Cornelia Funke in den USA, die mit der "Tintenwelt"-Trilogie zu einer der erfolgreichsten Jugendbuchautorinnen überhaupt geworden ist. 2006 zog sie nach Los Angeles und dort begrüße ich sie jetzt am Telefon. Guten Morgen, Frau Funke!
Cornelia Funke: Guten Morgen zurück nach Deutschland!
Moderator: Was hat Sie damals denn eigentlich dazu verleitet oder verlockt, in die USA zu übersiedeln?
Funke: Ja, das war einmal unsere Lust, mal in einem anderen Land zu leben, darüber hatten wir schon lange diskutiert. Und da sind natürlich die USA und England am einfachsten, weil dort Englisch gesprochen wird und das für unsere Kinder kein Problem war. Zusätzlich war es so, dass ich hier einen sehr herzlichen Empfang von Lesern und Buchhändlern bekommen hatte und wir uns von Anfang an eigentlich relativ zu Hause hier fühlten.
Moderator: Sind Sie dort eigentlich ähnlich bekannt und erfolgreich wie hier oder wollten Sie einfach etwas mehr Abstand haben, warum … um in Ruhe arbeiten zu können?
"Es war wirklich eher die Lust an der Fremde"
Funke: Nein, das ist schon hier ähnlich. Ich verkaufe ja im Grunde mehr Bücher in den USA noch als in Deutschland, wesentlich mehr. Aber das ist trotzdem … Also, Abstand, das war ja auch in Deutschland nie ein Problem. Als Schriftsteller wird man ja nicht auf der Straße angehalten. Es war wirklich eher die Lust an der Fremde.
Moderator: Wie werden Sie denn in den USA wahrgenommen, jetzt als die deutsche Schriftstellerin oder sind Sie da schon assimiliert?
Funke: Ja, es ist interessant, dass die meisten Amerikaner doch denken, dass ich schon immer hier gelebt habe. Es ist so, dass ich immer noch überraschte Reaktionen ernte, dass ich nicht auf Englisch schreibe zum Beispiel. Es ist also ganz verschieden. Natürlich sind Journalisten, die wissen natürlich, ich bin aus Deutschland gekommen, aber das ist ja in Amerika ganz normal, wir sind ja ein Immigrantenland.
Moderator: Wären Sie denn weltweit so erfolgreich geworden ohne diesen Sprung in die USA?
Funke: Nein, ich glaube, das ist schon so, dass Amerika so ein bisschen der Schlüssel zur Welt ist, weil es allein schon ganz viele kleinere Verlage in anderen Ländern gibt, die nur Englisch lesen, wenn sie Bücher beurteilen. Sodass es wesentlich einfacher ist, weltweit veröffentlicht zu werden, wenn man auch auf Englisch verlegt ist. Das heißt, meine Literaturagenten hatten es danach wesentlich leichter, mich in Indien, Australien natürlich sowieso, aber auch im ganzen asiatischen Raum und so weiter bekannt zu machen.
Moderator: Im Filmmetier ist das ja sowieso die Bedingung für Erfolg, dass man nach Hollywood wechselt irgendwann. Aber in der Literatur gilt es dann also auch, ja?
"Ein ganz gewaltiges europäisches Missverständnis"
Funke: Ich bin nicht sicher. Also, ich kenne natürlich auch Schriftsteller, die niemals nach Amerika gezogen sind und trotzdem weltberühmt sind. Es ist immer wunderbar zu sehen, wenn man zum Beispiel auf Festivals in Australien ist, wo sich dann so alle Welt versammelt, asiatische Schriftsteller, südamerikanische, europäische und man wirklich das Gefühl von Weltbürger hat.
Moderator: Und für die Verfilmung Ihrer Bücher in Hollywood ist es natürlich auch einfacher, wenn Sie da sind, vermutlich.
Funke: Das glaube ich gar nicht. Ich glaube, das ist wirklich ein Gerücht. Also, zum Beispiel "Tintenherz" wurde ja in Europa gedreht und auch jetzt gerade bereiten Freunde von mir eine Verfilmung vor, die in Irland passieren wird. Das ist also, glaube ich, wirklich nicht so.
Moderator: Erfolg spielt ja in den USA überhaupt eine sehr große Rolle, diese Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Geschichte, das ist einer der Hauptmythen der amerikanischen Gesellschaft. Wie erleben Sie das, in einem Land zu leben, in dem man eher an Konkurrenz und das eigene Fortkommen glaubt als an Solidarität? Oder ist das ein europäisches Missverständnis?
"Der Sozialneid ist nicht so ausgeprägt wie in Europa"
Funke: Das ist ein ganz gewaltiges europäisches Missverständnis. Also, ich bin hier, weil ich eher das Gefühl habe, dass hier sozialer Respekt vor Fremden passiert, dass hier Freundlichkeit auf der Straße und im Supermarkt mit jemandem ist, den man nicht kennt, dass die Menschen sich noch bewusst sind, dass wir einander brauchen. Das empfinde ich in Amerika als wesentlich stärker als in Europa, wo der Individualismus meiner Meinung nach sehr viel weiter entwickelt ist. Das ist so dieses klassische Beispiel: Steigen wir in den Aufzug und alle gucken ganz peinlich woanders hin, um bloß kein Blickkontakt mit dem Fremden zu machen. Das ist für mich was sehr Europäisches, das würde in Amerika als sehr unhöflich begriffen werden. Dass der Erfolg hier sehr wichtig ist, hat den Vorteil, dass der Sozialneid nicht so ausgeprägt ist wie in Europa. Das hat auch ganz viele Nachteile, denn was ist mit denen, die nicht erfolgreich sein können oder nicht die Energie haben, die der amerikanische Traum verlangt? Aber da ich jemand bin, der gerne sich jeden Tag neu erfindet und neue Dinge ausprobiert, passe ich natürlich in dieses Land recht gut.
Moderator: Ist denn Donald Trump, um jetzt auf die aktuelle Lage in Amerika zu kommen, nicht so etwas wie die Inkarnation des Erfolgssüchtigen?
Funke: Trump ist für mich genau das, was man in Berlusconi findet, was man in Le Pen findet, was man in jeder Art von Rechtsradikalismus findet, den wir ja in Deutschland nun sehr populär haben. Trump ist für mich genau das, was gerade überall in der Welt passiert, eine unglaubliche Polarisierung, Polemisierung, das Arbeiten mit Angst. Brauchen wir ja nur gucken, was Putin in Russland macht. Es ist im Moment eine so gefährliche Situation überall in der Welt, dass nicht zusammengelebt wird, dass man sich nicht gegenseitig versteht, sondern dass es nur um polarisierte Positionen geht. Da ist der religiöse Fanatismus ja auch nur ein anderer Aspekt.
Moderator: Warum nehmen aber so viele Leute Trump den Erfolgreichen ab? Einfach deshalb, weil er so wahnsinnig reich ist? Ist Erfolg gleichbedeutend mit Reichtum?
Funke: Überall in der Welt. Das ist überall in der Welt leider so. Also, das heißt, die Europäer sind zwar besser darin, das etwas zu verstecken, aber leider sind das ja die Realitäten des Kapitalismus.
Moderator: Aber gilt in Amerika nicht noch sehr viel stärker als in Europa die alte calvinistische Ansicht, dass Gottesfürchtigkeit sich auch im irdischen Erfolg und im Reichtum zeigt und dass deshalb im Umkehrschluss auch, wer so reich ist, auch ein irgendwie doch guter Mensch sein muss?
"Amerika hat mich zum Weltbürger gemacht"
Funke: Das ist ja was, was ja leider aus Europa rübergekommen ist mit all den fanatischen Sekten. Das ist ja absolut sehr gegenwärtig. Aber Gott sei Dank kann man in Amerika ja darauf hoffen, dass all die Einwanderer aus Asien und Südamerika das irgendwann neutralisieren werden.
Moderator: Das ist ja eigentlich schwer verständlich, dass ein Land, das eine Krankenversicherung als Untergang der eigenen Identität erlebt, kulturell so einflussreich ist in der ganzen Welt. Und daran hat sich ja auch bis heute nichts geändert. Was macht in Ihren Augen den Erfolg der amerikanischen Popkultur in der Welt aus, was ist so attraktiv daran?
Funke: Was einerseits unheimlich attraktiv an Amerika ist, ist die Hoffnung, das heißt, das Prinzip Hoffnung hier ist hier sehr stark; der Glaube an Zukunft, aber der Glaube auch an Menschen; das Gefühl, dass man sich neu erfinden kann; das Gefühl, dass man Vergangenheit, nationale Identität auf irgendeine Weise auch hinter sich lassen kann, um etwas Neues zu schaffen mit Menschen, die aus vollkommen anderen kulturellen Hintergründen kommen; dann die Weite der Landschaft, die amerikanische Landschaft, die immer wieder unterschätzt wird, was es bedeutet, in einem Land zu leben, in dem 25 Prozent der Landfläche naturgeschützt sind; es gibt unendlich viele Aspekte von Amerika, die mich heute immer noch verzaubern, berauschen, inspirieren, einen auch befreien von Klischees, in denen man aufgewachsen ist. Mich hat Amerika zum Weltbürger gemacht.
Moderator: Wenn Sie nun auf die anstehende Wahl schauen, Hillary Clinton oder Donald Trump, worum geht es da genau? Nur um die Verhütung des Schlimmsten oder geht es tatsächlich auch um positive Werte?
Funke: Na, es geht natürlich auch vor allem darum, dass zum ersten Mal eine Frau als Kandidatin zum amerikanischen Präsidenten gewählt werden könnte, was historisch natürlich ein unglaublicher Schritt wäre und was ich als Frau sehr aufregend an dieser Wahl finde. Es geht auch darum, um die Problematik eines Zwei-Parteien-Systems, wo gerade im Moment sehr viel in Amerika diskutiert wird. Es geht darum, wie ein kanadischer Freund von mir sagte: Das Wunderbare an dieser Wahl ist, dass alles an Schlechtem, an Rassistischem, an Rechtem bei den Republikanern sehr unverhüllt mal hervortritt. Und es ist ja oft so, dass so was fast im Geheimen passiert, wie viel Rassismus sich angesammelt hat, wie viel reaktionäres Denken, dass, sagen wir mal, die alten, sehr weißen Hierarchien Amerikas plötzlich merken, dass sie eine Minderheit werden. Das heißt, es geht genau wie in Europa um Immigration, um was bedeutet die Identität einer Nation? Europa ist im Moment auf einem Stand, in dem Amerika 1977 war, das heißt, wir sind schon jetzt eine wesentlich internationalere Gesellschaft, was natürlich auch eine unglaubliche Herausforderung ist.
Moderator: Sie haben ja auch gerade einen neuen Roman vorgelegt, "Die Feder eines Greifs", über den wir demnächst sprechen werden, wenn Sie hier in Deutschland auf Lesereise sind. Mit welchen Gefühlen kommen Sie denn dann zurück nach Deutschland?
Funke: Oh, ich komme immer zuallererst mit dem Gefühl zurück, meinen Lesern zu begegnen, was natürlich immer wieder was Berauschendes gerade in Deutschland ist, weil ich da so viele Leser habe, die mit mir groß geworden sind. Also, die meine Bücher schon wesentlich länger lesen, als das amerikanische oder englische Leser tun. Dann ist es natürlich auch so, dass ich immer noch sehr, sehr enge Freunde in Deutschland habe und dass das halt meine Wurzeln sind, was einem ja gerade, wenn man in einem Immigrantenland wie Amerika lebt, sehr bewusst ist. Ich bin wahrscheinlich heute deutscher, als ich das in Deutschland war.
Moderator: Ich habe aber gelesen, dass Sie jetzt demnächst die amerikanische Staatsbürgerschaft annehmen wollen. Heißt das, dass Sie doch abgeschlossen haben damit, mit den Deutschen?
Funke: Nein, ich werde ja hoffentlich wohl zwei Pässe behalten, außer die Deutschen nehmen mir meinen weg.
Moderator: Vielen Dank, Frau Funke, und noch einen schönen Tag nach Los Angeles!
Funke: Ihnen auch, herzlichen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.