"Das autoritäre Regime fühlt sich am Schwanz gepackt"
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Die türkische Autorin Ece Temelkuran lebt im Exil, seit sie sich mit der Regierungspartei in der Türkei, der AKP, angelegt hat. Sie sagt, deren Schwächung bei den Regionalwahlen sei "ein kleiner, aber sehr hoffnungsvoller Sieg für die Demokratie".
Frank Meyer: "Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist oder sieben Schritte in die Diktatur" – dieses Buch von Ece Temelkuran ist in dieser Woche bei uns erschienen. Die türkische Autorin hat das Buch im Exil geschrieben, sie hatte die Regierungspartei AKP vielfach kritisiert, deshalb hat sie ihre Stelle bei einer der großen türkischen Tageszeitungen verloren. Sie wurde auf übelste Weise angefeindet, im Jahr 2016 hat sie sich dann entschieden, ihr Land zu verlassen.
Ich habe vor der Sendung mit Ece Temelkuran gesprochen und sie zuerst nach der Kommunalwahl in der Türkei am Sonntag gefragt. Was sagen Sie zur Schwächung der AKP bei dieser Wahl?
Ece Temelkuran: Es gibt im Englischen den Ausdruck: Den Tiger am Schwanz packen. Ich denke, das autoritäre Regime in der Türkei ähnelt einem Tiger, der am Schwanz gepackt wurde. Es wurde ein kleiner, aber sehr hoffnungsvoller Sieg für die Demokratie errungen. Nach 17 Jahren blicken die Menschen in der Türkei wieder auf ein demokratisches Land. Doch leider fühlt sich das autoritäre Regime am Schwanz gepackt. Und wie Sie wissen, ist der Tiger am gefährlichsten, wenn er am Schwanz gepackt wird.
Meyer: Das heißt, das macht Ihnen schon Hoffnung, was jetzt passiert ist in der Türkei am Sonntag, das Ergebnis dieser Wahlen?
Temelkuran: Ich halte nicht viel von dem Begriff Hoffnung, denn es gab in der Menschheitsgeschichte genügend Momente ohne Hoffnung. Aber der Mensch ist nicht davon abzubringen, dennoch hartnäckig daran festzuhalten. Einen Tag vor der Wahl gab es in der Türkei kaum Hoffnung, aber die Menschen haben darauf beharrt. Deswegen glaube ich, dass die Hartnäckigkeit in der Türkei erneuert wurde.
"Organisierte Identität der Ignoranz"
Meyer: Wenn wir auf Ihr Buch schauen, das heißt ja "Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist oder sieben Schritte in die Diktatur", wann kam denn für Sie der Punkt, an dem Sie gesagt haben, die Türkei ist nicht mehr mein Land?
Temelkuran: Die Türkei ist immer noch mein Land, aber ich kann vermuten, ab welchem Zeitpunkt Engländer anfangen, England nicht mehr als ihr Land zu fühlen – oder genauso Deutsche Deutschland oder Amerikaner Amerika. Sie stellen sich heute dieselbe Frage, die wir uns vor 15 Jahren gestellt haben, nämlich: Ist das immer noch mein Land?
Vor dem Hintergrund der Polarisierung, der Feindseligkeit untereinander fühlen sich Menschen, die kritisch denken können, nicht mehr so sicher und bequem wie früher. Besonders, seitdem die Ignoranz anfing, sich zu einer organisierten und politischen Identität zu formen, denke ich, dass das Land nicht mehr die Türkei ist, die ich einmal kannte. Aber ich denke, das betrifft nicht nur die Türkei, sondern es ist ein globales Problem. Deswegen habe ich dieses Buch geschrieben.
Meyer: Sie denken auch darüber nach in Ihrem Buch natürlich, warum die Populisten eigentlich so viele auf ihre Seite ziehen, wie es zu diesem Aufstieg des Populismus gekommen ist. Und wenn ich Sie da richtig verstehe in Ihrem Buch, Sie haben gerade auch schon den Neoliberalismus angesprochen, liegt das für Sie daran, dass in neoliberalen Zeiten Ideen und Praktiken wie Solidarität, Gleichheit, soziale Gerechtigkeit, dass die verdrängt wurden aus der Sprache und aus der politischen Praxis. Ist das tatsächlich für Sie der Kern des Problems, der auch hinter dem Aufstieg des Populismus liegt?
Temelkuran: Darauf gehe ich im Buch ausführlich ein. Ein zentraler Punkt in meinem Buch ist die Kritik am Neoliberalismus. Ich denke, wir müssen genauer hinschauen, was die Ideologie des Neoliberalismus mit uns Menschen, den Gesellschaften, macht. Das versuche ich im Buch zu beantworten.
Wenn Sie die Gesellschaften verkindlichen, stellen Sie fest, wie am Ende rechtspopulistische Führer zu Gesellschaften sprechen, wie man zu Kindern spricht. In den letzten 30 bis 40 Jahren hat die Welt Folgendes vergessen: Wir sind keine politischen Objekte, sondern politische Subjekte. Je mehr die Menschen das vergessen haben, umso kindlicher, infantiler wurden sie. Und je kindlicher sie wurden, umso mehr stehen die Führer auf.
"Es gibt einen großen Unterschied zwischen Würde und Stolz"
Und ich denke, Menschen, die die Rechtspopulisten wählen, haben ein ernsthaftes Problem. Das Problem ist soziale Ungerechtigkeit, das Gefühl der Menschen, unsichtbar zu sein, und ihr Gefühl, das eigene Schicksal nicht verändern zu können. Deswegen haben die Menschen das Gefühl, ihre Würde zu verlieren. In diesem Gefühl der Würdelosigkeit bieten ihnen rechtspopulistische Führer einen Halt, indem sie ihnen sagen, sie würden ihnen ihren Stolz wiedergeben.
Aber es gibt einen großen Unterschied zwischen Würde und Stolz. Diesen Unterschied habe ich in einem Artikel für den "Guardian" erläutert. Der Unterschied zwischen diesen Begriffen spielt eine zentrale Rolle in dem aktuellen politischen Problem, das wir erleben. Während die Rechtspopulisten anbieten, Menschen ihren Stolz zurückzugeben, geht es Menschen wie mir darum, die Menschenwürde im Allgemeinen zurückzugewinnen.
"Die Menschheit braucht Würde, Sinn und Verstand"
Meyer: Sie schreiben in Ihrem Buch auch, die Stärke der Populisten komme auch daher, weil sie eine Sache haben, für die sie kämpfen. Die Sache kann ständig wechseln, das kann mal der Kampf gegen das vereinigte Europa sein oder der Kampf gegen Flüchtlinge oder gegen was auch immer, das haben wir ja auch in Deutschland erlebt.
Die Frage ist ja dann, was ist die Sache, für die die Nicht-Populisten kämpfen? Das benennen Sie nicht in dem Buch, ich weiß nicht, ob Sie es jetzt benennen können, was die Sache wäre, für die die Nicht-Populisten kämpfen können.
Temelkuran: Die rechtspopulistische Welle beschäftigt sich so sehr mit sich selbst, dass wir nicht genügend darauf achten, wofür andere Menschen kämpfen. Anders gesagt, sie lässt ihren Anhängern keine Zeit, über ihre Opferrolle nachzudenken. Der rechtspopulistische Diskurs nimmt so viel Zeit in Anspruch und verbreitet so viel Geschrei im sozialen Leben, dass wir kaum Zeit finden, uns um die ernsthaften Belange dieser Menschen zu kümmern.
Ja, wofür kämpfen die nicht-populistischen Menschen? Ich denke, sie kämpfen um die Menschenwürde, denn das neoliberale Denken beschreibt die Natur des Menschen mit diesen zwei Punkten. Erstens: die Angst, nichts zu besitzen. Und zweitens: die Besessenheit, immer mehr zu besitzen. Doch die Menschheit braucht mehr, sie braucht Würde, Sinn und Verstand. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir das neu beschreiben. Wenn wir den Rechtspopulismus bekämpfen wollen, müssen wir unter uns klären, wie wir die vorhandenen Probleme definieren.
Hoffnung auf weltweite Solidarität
Meyer: Wenn es um Ihre Hoffnung geht, Sie haben vorhin ja schon erklärt, dass Sie den Begriff nicht schätzen, aber Sie verwenden ihn schon auch in Ihrem Buch. Sie schreiben: "Meine Hoffnung gründet auf den jungen Frauen". Sie erzählen andererseits auch, dass Sie auch mit hochaggressiven jungen Frauen aus dem AKP-Umfeld zu tun hatten, also mit jungen Frauen, die für ein autoritär regiertes Land kämpfen. Ihre Hoffnung für die Türkei, gründet die denn trotz dieser Begegnung mit den AKP-Frauen tatsächlich auf den jungen Frauen in der Türkei?
Temelkuran: Meine Hoffnung beschränkt sich nicht ausschließlich auf die Türkei. Ich habe dieses Buch auf Englisch geschrieben, weil ich die gesamte Welt ansprechen möchte und möchte, dass die Welt gemeinsam über dieses Thema spricht. Wir brauchen die weltweite Solidarität, damit mein Land die Demokratie wiedererlangen kann.
Wenn ich also von jungen Frauen spreche, meine ich nicht nur die jungen Frauen in der Türkei, sondern alle jungen Frauen auf der Welt. Es erfüllt mich derzeit mit Begeisterung, zu sehen, dass Frauen weltweit ihre Stimme für die Umwelt und die Menschenwürde erheben. Wann immer die Menschheit in eine Krise gerät, erhebt sich die Stimme der Frauen stärker – und zwar so lange, bis ein neuer Status quo hergestellt ist.
An diesem Punkt befinden wir uns gerade. Der alte Status quo zerbröckelt, und ein neuer entsteht. Bis der neue hergestellt ist, wird über Frauen gesprochen und werden Frauen selbst sprechen. Ich hoffe nur, wenn der neue Status quo hergestellt sein wird, werden die Männer nicht sagen, geht ihr nach Hause, wir kümmern uns um den Rest.
"Emotionen helfen nicht"
Meyer: Ganz am Ende des Buches schildern Sie, dass Sie in Kroatien im Exil leben. Und Sie schreiben da auf sehr bewegende Weise davon, wie Sie Verwandte und Freunde im Moment nur auf einer griechischen Insel treffen können, in Sichtweite der türkischen Küste, also in Sichtweite Ihrer Heimat. Was bedeutet das für Sie, diese Trennung, auch gerade, wenn Sie dort sind auf dieser Insel und wenn sie Ihnen noch mal so bewusst wird in diesem Moment?
Temelkuran: Genau aus diesem Grund fahre ich sehr selten nach Griechenland, denn Griechenland ist das Land, das der Türkei am entferntesten liegt. Das sage ich deswegen, weil solange Sie in Griechenland sind, denken Sie daran, wie weit Sie von der Türkei entfernt sind und Sie können an nichts anderes denken.
Ich versuche, darüber nicht zu sprechen, denn in den letzten Jahren helfen mir Emotionen nicht. Mir helfen die Rationalität und das rationale Denken mehr. Auf der ganzen Welt gibt es im Moment viel zu viele Emotionen, und es wird versucht, viele politische Probleme emotional zu lösen. Ich denke, es würde uns allen guttun, dies etwas zu minimieren.
Meyer: Ece Temelkuran hat das Buch geschrieben "Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist oder sieben Schritte in die Diktatur", übersetzt von Michaela Grebinger. Im Verlag Hoffmann und Campe ist das Buch erschienen mit 270 Seiten, 22 Euro ist der Preis. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Temelkuran: Vielen Dank!
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