Elif Shafak: Der Geruch des Paradieses
Aus dem Englischen von Michaela Grabinger
Kein & Aber, Zürich 2016
528 Seiten, 25,00 Euro
"Ein gespaltenes Land"
Die Schriftstellerin Elif Shafak gilt als eine wichtige Stimme der türkischen Literatur. Scharf kritisiert sie die Politik in ihrer Heimat: Dass Autoren und Journalisten ins Gefängnis geworfen würden, sei inakzeptabel. Mit ihrem jüngsten Buch "Der Geruch des Paradieses" habe sie die Türkei als gesellschaftlich geteiltes Land beschreiben wollen.
Frank Meyer: Die Autorin Elif Shafak ist eine der ganz wichtigen Stimmen der türkischen Literatur, ihre Bücher wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt. In der Türkei selbst ist sie eine der am meisten gelesenen Autorinnen. Ihr jüngster Roman,
"Der Geruch des Paradieses"
, ist dort im Sommer erschienen und sofort auf Platz eins der Bestsellerliste gelandet.
Elif Shafak lebt in Istanbul und in London, sie schreibt auf Türkisch und auf Englisch. Ich habe vor der Sendung mit ihr gesprochen und sie zuerst gefragt nach ihrer Freundin, der Autorin Asli Erdogan. Asli Erdogan ist in der Türkei eingesperrt worden nach dem Putschversuch, und gestern haben wir erfahren, dass die Staatsanwaltschaft lebenslange Haft für sie beantragt hat. Elif Shafak, wie bewegen Sie solche Nachrichten aus der Türkei?
Elif Shafak: Ich bin sehr traurig darüber, das ist eine unakzeptable Situation. Dieses schreckliche Einschlagen auf die Journalisten, auf Autoren, auf Akademiker, wie man mit ihnen umgeht, dass sie ins Gefängnis geworfen werden, das ist absolut unakzeptabel. Sie sind Demokraten, die sich für den Frieden einsetzen, und diese Situation in der Türkei deprimiert mich sehr.
Wenn man sich anguckt, wie viele Freunde von mir, wie viele Kollegen im Gefängnis sind oder auf schwarzen Listen stehen oder sonst wie stigmatisiert werden. Da gibt es Asli Erdogan oder auch Necmiye Alpay oder Ahmet Altan – über 130 Journalisten sind im Gefängnis, zum Beispiel auch der Chefredakteur von "Cumhuriyet" ist im Gefängnis und Cartoonisten, Zeichner, alle möglichen Leute, die mit den Zeitungen zu tun haben. Das ist grundfalsch und fatal und unakzeptabel, diese Menschen ins Gefängnis zu stecken.
Wegen eines Gedichts oder Tweets ins Gefängnis
Meyer: Wie ist das bei Ihnen selbst, Elif Shafak, Sie waren ja in der Türkei auch schon einmal angeklagt, vor zehn Jahren, wegen Verunglimpfung des Türkentums. Zurzeit sind Sie nicht in der Türkei – können Sie denn in der derzeitigen Situation dort hinfahren?
Shafak: Es ist sehr offensichtlich, dass das extrem schwierige Zeiten sind für Autoren und Journalisten, aber alle Autoren, Journalisten oder Dichter in der Türkei wissen, dass sie wegen eines Textes, wegen eines Gedichtes oder auch nur wegen eines Interviews oder eines Tweets ganz schnell attackiert werden können, dass sie ins Exil geschickt werden können, dass sie im Gefängnis landen können oder sonst wie dämonisiert werden. Es ist wirklich sehr hart, und ich glaube auch niemandem, der sagt, dass er hundert Prozent das schreiben kann, was er möchte, das stimmt absolut nicht.
Ich möchte noch kurz hinzufügen, dass ich glaube, dass es auf gewisse Weise für Frauen eine noch schwerere Situation ist, denn die Sprache der Angriffe, wie sie auch in den Medien verbreitet wird, in den sozialen Medien verbreitet wird, ist oft sehr sexistisch, sehr mysogynistisch, sehr frauenfeindlich. Und wie die Frauen schlechtgemacht werden, wie man sie stigmatisiert, das ist wirklich sehr traurig. Gleichzeitig muss man aber auch sehen, dass es eine Menge Leute gibt, die weiter lesen. Es gibt eine tolle Leserschaft in der Türkei, und man darf nicht vergessen, dass es diese Leute auch noch gibt.
Meyer: Ja, besonders viel gelesen wird ja Ihr neuer Roman in der Türkei. Ich hab schon erwähnt, der ist gleich nach dem Erscheinen auf Platz eins der Bestsellerliste in der Türkei gekommen. Bei uns ist der Titel "Der Geruch des Paradieses", und Sie erzählen da von einer Frau, von einer Frau in der Türkei, Peri heißt sie, Mitte 30 ist sie, lebt mit ihrer Familie in Istanbul. Diese Peri, die wird in dem Buch immer wieder die Verwirrte genannt, das ist so eine Art zweiter Name von ihr, die Verwirrte. Warum ist sie denn die Verwirrte?
Shafak: Als ich Peris Geschichte schrieb, wollte ich mit ihr die Geschichte der Türkei reflektieren. Dieser Konflikt zwischen ihr und ihrer Familie spiegelt für mich auch den Konflikt der Türkei als geteiltem Land wider. Ihr Leben zu beschreiben, damit wollte ich sozusagen die türkische politische Geschichte und die gesellschaftliche Trennung aufgreifen, denn die Türkei ist ein wirklich gesellschaftlich extrem getrenntes, geteiltes Land.
In meinem neuen Buch schreibe ich über drei Frauen: Da ist einmal Shirin, eine iranische Britin, die eine Atheistin ist und die ganz besonders kritisch mit dem Islam ist, denn sie glaubt, dass der Islam besonders für Frauen sehr viele negative Auswirkungen hat. Und dann gibt es Mona, eine ägyptische Amerikanerin, die Kopftuch trägt, sehr gläubig ist und sich auch über die Islamfeindlichkeit beklagt, die es gibt, und dann gibt es Peri, die sich unsicher ist. Somit haben wir eine Sünderin, eine Gläubige und eine Verwirrte. Für mich sollte Peri die Verwirrte sein, weil ich glaube, dass wir in der Türkei ein sehr verwirrtes Volk sind momentan, was viele Dinge betrifft.
Wie patriarchalisch geprägte Familien funktionieren
Meyer: Und das ist ja vor allem der Kontrast oder die Zerrissenheit, zwischen dem Säkularen und dem Religiösen. Sie stellen das vor allem anhand auch der Familie von Peri da: Ihr Vater ist streng, säkular, der hat in der ganzen Wohnung Atatürk-Porträts aufgehängt, die Mutter dagegen, Peris Mutter, ist eine ganz Strenggläubige. Die beiden streiten sich ständig, auch genau über diese Fragen von Religion und Säkularismus. Kennen Sie denn Familien, in denen tatsächlich dieser Riss zwischen Säkularem und Religiösem so mitten durch den Kern der Familie geht?
Shafak: Ich hab wirklich viele Familien getroffen, in denen es ähnlich zugeht, in denen ähnliche Teilungen existieren. Da ist zum Beispiel ein Onkel Sozialdemokrat, einer ist türkischer Nationalist, ein anderer Onkel ist mit einer Kurdin verheiratet und so weiter. Es gibt so viele Teilungen in türkischen Familien.
Ich hab das sehr genau beobachtet von meiner Kindheit an, da ich selber nicht in einer traditionellen Familienumgebung aufgewachsen bin. Ich bin von zwei Frauen großgezogen worden, und von daher war ich sehr neugierig, wie diese patriarchalisch geprägten Familien funktionieren, und meine direkten Beobachtungen spiegeln sich in diesem Roman wider.
Meyer: Ein anderes wichtiges Thema in Ihrem Buch ist das Verhältnis zur Demokratie. Es gibt eine Gegenwartsebene, auf der Ihr Buch spielt, das ist ein Fest im Frühjahr 2016, da ist Peri zu Gast, und da kommen lauter begüterte Leute zusammen – die türkische Oberschicht kommt da zusammen –, und die meisten von denen sagen, wenn sie über Politik reden und Demokratie, das sei doch Zeitverschwendung, Geldverschwendung, Demokratie passe nicht zur islamischen Welt, besser als Demokratie wäre ein kluger, starker Führer. Ist das Ihre Beobachtung, dass man in der türkischen Oberschicht so über die Demokratie denkt?
Schizophrene bourgeoise Abendessen
Shafak: Eine Zeit lang wollte ich das Buch tatsächlich "Das letzte Abendmahl der türkischen Bourgeoisie" nennen. Das ganze Buch ist sozusagen in einem Setting eines Abendessens angesiedelt, und ich konnte bei tatsächlichen Essen, die ich miterlebt habe, all das beobachten. Es ist leider auch so, dass selbst in gebildeteren, westlich orientierten Kreisen in der Türkei man vereinzelt auf solche Ansichten zur Demokratie trifft – nicht nur jetzt bei der Oberschicht an sich, sondern das ist leider ziemlich verbreitet. Und das wollte ich kritisieren in meinem Buch und zeigen.
Diese bourgeoisen Abendessen können in der Tat auch ziemlich schizophren ablaufen. Da gibt es einerseits diese Gespräche über Bomben und Anschläge, die dann sehr traurig sind und wo alle ihre Trauer zum Ausdruck bringen, und dann geht es weiter, indem man über Chanel spricht oder über Gucci-Taschen, dann zeigen sich die Damen gegenseitig ihre Gucci-Taschen. Und dieser Übergang von der Angst zur Mode ist unglaublich schnell, und das fand ich interessant und konnte das wirklich oft beobachten.
Meyer: Sie zeigen jetzt nicht nur die Spannungen und die Zerrissenheit in der Türkei und auch diese Skepsis gegenüber der Demokratie in der Oberschicht, sie skizzieren auch so etwas wie einen Weg, der herausführen könnte aus dieser Situation, eben anhand Ihrer Hauptfigur Peri. Die sucht ja so etwas wie einen dritten Weg zwischen Säkularismus und Religiosität auf der anderen Seite, also einen Weg, glauben zu können, ohne sich damit einpassen zu müssen in eine Religion, in eine vorgegebene Lebensweise und -ordnung. Denken Sie tatsächlich, dass so ein dritter Weg möglich ist?
Shafak: Ich finde diese Debatten und Gespräche wirklich sehr interessant, aber ich bin selber kein religiöser Mensch. Ich mag diese Kategorien nicht, in die einen die Religion einordnet – in wir und sie, diese Gegenüberstellungen –, und ich mag es nicht, wenn sich die Leute zu sicher sind, diese Sicherheit, die man auch bei Religiösen findet: Wir sind die Besten, unsere Religion ist das Einzige, das stimmt. Und man findet auch bei manchen sehr überzeugten Atheisten, dass sie davon ausgehen, dass nur sie recht haben und sich ihrer Sache sehr sicher sind.
Ich mag Zweifel, ich mag Bescheidenheit, ich mag Leute, die auf der Suche sind. Ich mag Fragen lieber als Antworten. Diese wirklich sehr religiösen Menschen lehnen oft komplett den Zweifel ab, und Atheisten lehnen den Glauben ab, ich glaube aber, dass wir im Leben beides brauchen. Wir brauchen diese Dialektik zwischen Glauben und Zweifel. Mich interessiert darum das agnostische Element sehr, ich mag Agnostiker oder auch heterodoxe Mystiker, die bescheidener agieren, deren Spiritualität sich mehr nach innen wendet, aber trotzdem alles umfasst, das finde ich interessant. Also diesen Unterschied muss man machen zwischen der Religion einerseits und einem agnostischen Spiritualismus, der mich mehr interessiert.
Auf eine Wange einen Kuss, auf die andere eine Backpfeife
Meyer: Jetzt haben wir darüber geredet, dass Ihr Roman vieles von dem aufgreift, was die Türkei und viele andere Länder auch im Moment ganz grundsätzlich umtreibt. Machen Sie denn mit Ihrem Buch, auch mit dem Erfolg, den dieses Buch hat in der Türkei, die Erfahrung, dass es da auch gelingt, Menschen damit zu erreichen, also mit dem, worüber Sie schreiben wollen, das auch tatsächlich an den Leser zu bringen, auch vielleicht Überzeugung da mitzubewegen?
Shafak: Ich fühle mich mit meinen Lesern sehr verbunden, und was ich interessant finde, ist, dass alle sehr unterschiedliche Hintergründe haben, denn die Türkei ist wie gesagt eine sehr geteilte Gesellschaft, aber zu meinen Lesungen kommen ganz unterschiedliche Leute. Da gibt es Liberale, Linke, Säkuläre, aber auch Frauen mit Kopftüchern, und das sind Leute, die sonst nicht miteinander reden würden, die sich gar nicht begegnen oder keine Konservation hätten. Aber dass sie alle dasselbe Buch lesen, das bedeutet mir etwas.
Ich war nie eine Autorin der Elite, ich hab immer für das Volk geschrieben, für meine Leser, meine Leser im Kopf gehabt, und ich hab viel Liebe erfahren und viel positive Inspiration von meinen Lesern bekommen. Aber gleichzeitig habe ich auch üble sexistische Attacken erlebt vonseiten der Elite. Ich hab sehr viel Hass erfahren, Verunglimpfungen und so weiter. Man kann sagen, dass man als türkische Autorin sozusagen beidem ausgesetzt ist. Man kriegt auf die eine Wange einen Kuss und auf die andere kriegt man eine Backpfeife. Man kriegt viel Liebe und viel Hass.
Meyer: Die türkische Autorin Elif Shafak. "Der Geruch des Paradieses" heißt ihr neuer Roman bei uns, aus dem Englischen wurde er übersetzt von Michaela Grabinger, ist im Kein-&-Aber-Verlag erschienen mit 560 Seiten, 25 Euro kostet dieses Buch. Elif Shafak, thank you for joining us!
Shafak: It was such a pleasure, thank you!
Meyer: Und vielen Dank an Mareile Amir, sie hat unser Gespräch hier übersetzt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.