Katja Jungwirth: "Meine Mutter, das Alter und ich. Wahre Geschichten"
K&S, Wien 2020
176 Seiten, 22 Euro
Jeder Tag ist Muttertag
09:48 Minuten
Die Mutter ist gebrechlich und erwartet, dass die Tochter immer für sie da ist. Der Sohn wird nicht in die Pflicht genommen. Autorin Katja Jungwirth beschreibt in "Meine Mutter, das Alter und ich", wie es ist, immer im "Mutterdienst" zu sein.
Christian Rabhansl: "Ich habe vier Kinder, einen Hund, ein eigenes Leben, aber plötzlich ist jeder Tag Muttertag." Das ist ein Satz von Katja Jungwirth, und ich finde, sie macht mit diesem einen Satz schon ziemlich deutlich, wie sich ihr Leben verändert hat, als ihre Mutter nicht einfach nur älter geworden ist, sondern auch krank. Dieses Buch trägt den Titel: "Meine Mutter, das Alter und ich". Katja Jungwirth ist für uns in Wien ins Studio gegangen. Guten Tag, Frau Jungwirth!
Katja Jungwirth: Hallo, guten Tag!
Rabhansl: Tja, plötzlich ist jeder Tag ein Muttertag. Wie sieht denn so ein typischer Muttertag aus?
Jungwirth: Ein typischer Muttertag beginnt bei uns mit einem morgendlichen Telefonat, quasi wo der Allgemeinzustand ein bisschen besprochen wird. Gegen Mittag packe ich dann meine vorgekochten Speisen ein und marschiere mit dem alten Hund – den gibt es ja wirklich auch – in Richtung Mutterwohnung. Sie ist so zehn, fünfzehn Gehminuten von meiner Wohnung entfernt. Ich bereite dann das Mittagessen zu, wir plaudern, sie legt sich nieder. Am Nachmittag kommen entweder ich oder eines meiner Kinder, und am Abend telefonieren wir wieder, aber das ist nur, wenn eigentlich nichts passiert. Wenn natürlich ein Arztbesuch anfällt, wenn es ihr besonders schlecht geht, wenn irgendetwas vorfällt, dann wirft es natürlich alles durcheinander, und dann muss man irgendwie spontan auf diese Gefühle und Bedürfnisse und Wünsche eingehen.
Keine Abrechnung mit der Mutter
Rabhansl: Das klingt ein bisschen nach der idealen Tochter. Würde Ihre Mutter das auch so sehen?
Jungwirth: Das glaube ich nicht! Ich habe dieses Buch nicht als Abrechnung mit meiner Mutter geschrieben. Das wäre jetzt wirklich total falsch. Ich habe es eigentlich ein bisschen aus einer Verzweiflung heraus geschrieben, weil Schreiben für mich eine Ausdrucksform ist, die ich immer, schon als Kind, eigentlich ganz gern ausgeübt habe, so mit viel Tagebuchschreiben und so weiter. Ich wollte – wenn ich jetzt sage: der tägliche Wahnsinn, klingt das jetzt sehr überzogen, aber vielleicht empfinde nur ich es als überzogen – ich wollte dem Ganzen ein bisschen einen Rahmen geben. Ich habe mir gedacht, ich möchte das niederschreiben.
Nachdem ich das auch vorher schon vielen Leuten erzählt habe und einige auf mich zugekommen sind und gesagt haben, das passiert genauso bei uns auch, und wie machst du das, wenn das so ist und so weiter. Da ich Geschichten eigentlich sehr gerne habe, habe ich mir gedacht, das wäre ganz nett, wenn das so eine Geschichte wäre mit einem Anfang und einem Ende und habe den Blog gestartet. Dieser Blog hat mir eine junge Grafikerin illustriert, Melanie Haas. Das ist insofern ganz witzig, weil den Blog gibt es nicht mehr, aber die Angsthaserln gibt es noch. Angsthaserln, die mir...
Rabhansl: ...das sind so kleine Figuren, die vor jedem Kapitel stehen.
Jungwirth: Genau, die sind in dem Buch ein bisschen unmotiviert, weil der Blog hat "Nichts für Angsthasen" geheißen, und daher waren diese Angsthaserln ganz passend, die meine Mutter darstellen sollten: die Angst vor allem eigentlich, Angst vorm Alter, Angst vor dem Ende, Angst, was sein wird, Angst vor dem Alltag.
Viele Hemmungen überwinden
Rabhansl: Diese Zeichnungen habe ich intuitiv verstanden, die Angsthasen, das ist ganz klar. Es wird in Ihrem Buch auch sehr deutlich. Sie sagen gerade schon, die hat Angst vor allem. Sie ist krank, sie ist todkrank, aber sie war früher immer die Starke und auch die strenge Mutter, die jetzt plötzlich so ein hilfloses Häufchen ist. Was macht das aus Ihrer Mutter-Tochter-Rolle? Sind Sie noch die Tochter?
Jungwirth: Ja, natürlich. Man bleibt ja immer irgendjemandes Kind, solange man eine Mutter hat, aber die Rollen verkehren sich natürlich. Ich glaube, das war so das Schwierigste für mich, dass ich plötzlich gesehen habe, ich habe keine starke Mutter mehr, ich habe keine glückliche Mutter mehr, und jedes Kind möchte seine Mutter stark und glücklich haben. Plötzlich muss ich sagen, wo es langgeht.
Das sind auch unheimlich viele Hemmungen, die man irgendwie überwinden muss, weil zum Beispiel für mich das Schwierigste war der ständige Widerstand. Bei einem kleinen Kind, das kennt man. Wenn das Kind, nein, die Suppe esse ich nicht oder ich mag jetzt nicht spazieren gehen oder das will ich nicht, dann ist das irgendwie okay, ist ein Kind, das erwartet man. Wenn aber dann eine erwachsene Frau, und auch wenn das die Mutter ist, sogar sagt, das will ich nicht, und diese Suppe esse ich nicht, und man muss sagen, aber du musst, weil du das brauchst oder das wäre jetzt wichtig, dann überschreitet man schon eine gewisse Schwelle, und damit habe ich mich wirklich sehr, sehr schwergetan.
Viele Gefühle im Spiel
Rabhansl: Und auch die Diskussionen, die täglichen, um die Tabletten, die Angst vor der Einsamkeit.
Jungwirth: Genau.
Rabhansl: Die Vorwürfe, Unzufriedenheit, niemand geht mit mir spazieren. Aber natürlich auch die Freude an den Kleinigkeiten. Was haben Sie da für einen Weg gefunden, mit diesem psychologischen Hin und Her, wo die eigene Mutter einem ja echt den Boden unter den Füßen wegziehen kann, wie haben Sie einen Weg gefunden, damit umzugehen?
Jungwirth: Habe ich einen Weg gefunden? Ich weiß es eigentlich gar nicht! Ich bin irgendwie noch immer mittendrin. Ich meine, ich weiß gar nicht, wie ich da so täglich mit zurechtkomme. Das kennt wahrscheinlich jeder von sich selbst, dann ist man einfach so involviert, dass man gar nicht so wirklich nachdenkt. Ich kann das jetzt gar nicht so richtig beantworten.
Rabhansl: Ich dachte, Sie hätten einen Weg gefunden, weil dieses Buch bei allem, was da an unschönen Dingen passiert, trotzdem so viel Liebe ausstrahlt. Ist das der Weg?
Jungwirth: Ich glaube schon.
Rabhansl: Klingt so platt, wenn ich es so sage.
Jungwirth: Nein, also ich glaube, bei so zwischenmenschlichen Beziehungen sind ja wahnsinnig viele Gefühle, und bei Mutter-Kind, da sind natürlich viele Gefühle. Und wenn die Mutter jetzt so alt ist und ich als Tochter, ich habe eine ganze Palette – ich kann Ihnen das gar nicht beschreiben, was ich alles für Gefühle habe –, und dazu zählt natürlich auch Wut, Wut über die Ungerechtigkeit und Wut, warum jetzt gerade ich drankomme und warum das jetzt so ist und warum sie jetzt nicht rausgehen kann und warum sie schon wieder jammert. Aber ich glaube, dass diese Wut zulässig ist, weil sie auf einem Nährboden der Liebe ist, wie Sie auch vorhin schon gesagt haben. Ich glaube, Liebe, das passt. Ich glaube, das ist der Weg.
Man fällt in alte Rollen zurück
Rabhansl: Jetzt haben wir vorhin schon ganz kurz so die Mutter-Tochter-Rollen gestreift. Sie lernen – ein bisschen bitter – auch noch was über weitere Rollen, nämlich die unterschiedlichen Rollenerwartungen, die Ihre Mutter an Sie als die Tochter und Ihren Bruder als den Sohn hat. Wie unterscheidet sich das?
Jungwirth: Ja, das ist wirklich sehr interessant, weil es sind ja die Mütter, die die Söhne eigentlich erziehen, und meine Mutter war immer eine sehr selbstständige, eine der ersten Feministinnen in den 60er-Jahren, ganz aktiv, und hat sich vorgenommen, dass sie ihren Sohn so erzieht wie damals die Frauen ihre Männer nicht wollten, aber damals die Männer so hatten – also das war natürlich schon ein ganz anderes Männerbild, das es da gab –, und hat meinen Bruder wirklich sehr liebevoll und sehr empfindsam und sehr einfühlsam erzogen.
Das ist ja das Komische, dass im Alter man eigentlich wieder so in seine alten Rollen zurückfällt, also eigentlich doch wieder verlangt von der Tochter, diese Pflegerolle zu übernehmen. Das ist etwas, womit ich natürlich schon sehr schwer zurechtkomme, weil da spielt sich ja wahnsinnig viel ab, auch unter Geschwistern, weil ich mir denke, sie ist auch seine Mutter, er könnte ja auch.
Der Bruder wird in Schutz genommen
Rabhansl: Aber da findet sie eher Ausreden. Da sagt die Mutter dann, na ja, der hat ja viel im Büro zu tun. Dass Sie als Tochter vier eigene Kinder haben und auch viel zu tun haben, das scheint da nicht so wichtig zu sein.
Jungwirth: Nein, es ist nicht wichtig, und das ist ja auch das ganz Komische: Also ich finde, da sind so wahnsinnig viele Twists drinnen. Sie hat ja nie wirklich meinen Lebensweg akzeptiert, weil sie immer berufstätig war, immer selbstständig war und immer ihr eigenes Geld hatte, und wir Kinder waren fremdbetreut. Das war in den 60er-Jahren noch nicht so wahnsinnig üblich. Ich habe eine Zeit gearbeitet als Journalistin, aber wie dann die ersten Kinder kamen, bin ich eigentlich auch zu Hause geblieben und bin seit 35 Jahren Vollzeitmutter. Das ist von ihr nie wirklich goutiert worden. Andererseits profitiert sie jetzt unheimlich davon, dass ich eben Zeit habe und für sie da bin. Da ist noch ein Twist drin. Es ist ganz verrückt.
Rabhansl: Und jeder Twist, der hat immer so drei, vier Seiten, länger sind die Kapitel eigentlich gar nicht, immer kurze Episoden, Gedankenspiele, Erinnerungen. Das gefällt mir sehr gut. Ich habe mich gefragt, wo ist die Grenze, wie intim wollten Sie werden? Haben Sie Sachen bewusst ausgespart?
Jungwirth: Nein, das ist ja auch ganz komisch. Ich habe das ja eigentlich als Seelenreinigung konzipiert. Ich wollte mir das irgendwie ein bisschen von der Seele schreiben und habe das in Geschichten verpackt. Dass dann ein Buch draus geworden ist, das war nicht beabsichtigt.
"Endlich machst du was Gescheites"
Rabhansl: Aber da ist dann alles reingekommen in das Buch? Da haben Sie nicht noch mal gefiltert und sich überlegt, na …
Jungwirth: Gar nichts. Null. Es ist auch gar nichts verändert worden. Bis auf ein paar Beistriche, ist das eins zu eins erschienen. Ein paar Redewendungen, um die habe ich ein bisschen gekämpft, die vielleicht nicht so literarisch sind, aber sonst ist das eins zu eins wirklich als Buch erschienen.
Rabhansl: Was ich mich auch gefragt habe, weil Sie Ihre Mutter ja als so eine Frau schildern, die so selbstbestimmt leben will, auch wenn sie das heute nicht mehr kann, haben Sie der das Manuskript dann gegeben vorm Druck?
Jungwirth: Es war so: Wie ich dann den Blog gestartet habe, habe ich gesagt, du, pass auf, ich schreibe jetzt was, das ist im Internet, das sehen nicht wahnsinnig viele Leute, aber ich möchte sagen, nicht, dass du von irgendwem hörst, da ist was über dich. Die erste Reaktion von ihr war, na, endlich machst du was Gescheites. Dann habe ich mir gedacht, aha, okay, aber dann ist ihr erst bewusst geworden, oh Gott, das ist ja über mich, jetzt weiß alle Welt, ich bin alt und krank und wie es mir geht.
Dann habe ich gesagt, du, pass auf, du wirst namentlich nicht erwähnt, die Krankheit wird quasi nicht erwähnt, es gibt auch kein Bild von ihr. Also sie ist in totaler Anonymität, und das war ihr wichtig. Wie das Buch erschienen ist, habe ich sie natürlich vorher gefragt, klar, habe ich es relativ lang bei mir liegengehabt, weil ich irgendwie ein bisschen Angst gehabt habe, ihr das jetzt zu geben, weil da doch sehr – wie Sie auch gesagt haben – intime und sehr persönliche Sachen drinnen sind. Sie hat es dann gelesen, und ihre erste Reaktion war: Du übertreibst maßlos, und der nächste Satz war dann so: Bin ich wirklich so? Ich glaube, ja, eigentlich hast du recht, eigentlich stimmt es, genau so bin ich. Das fand ich sehr toll, und sie freut sich jetzt, dass das Buch da ist, und sie hat es ein bisschen, glaube ich, abgekoppelt von ihrer Person jetzt.
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