Kämpferin gegen Körperklischees
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Roxane Gay hat sich lange für ihren Körper geschämt. Dann hat sie gelernt, ihn zu akzeptieren. In ihrem Buch "Hunger" erzählt sie offen von ihren Komplexen und plädiert dafür, Dicksein nicht als Problem zu sehen.
Roxane Gay wirkt entspannt und zugleich konzentriert, als wir uns in der Lobby ihres Hotels treffen – den Jetlag merkt man ihr nicht an. Gay macht als schwarze, bisexuelle und dicke Frau ganz andere Diskriminierungserfahrungen als die weißen Mittelstandsfrauen, die den Diskurs bestimmen.
Mit ihrem Konzept von "bad feminism" hat Gay vor fünf Jahren einen Nerv getroffen. "Wir sind zwar alle Frauen, aber wir haben unterschiedliche Schwierigkeiten", sagt sie. "Wir erleben Macht verschieden, je nachdem, in welcher Position wir uns befinden. Wir müssen nicht nur über Gender sprechen, sondern auch über race - ethnische Zugehörigkeit, sexuelle Orientierung, Fähigkeit, Klasse – über alles, was uns zu denen macht, die wir sind."
Der Band "Bad Feminist" war ein Bestseller, doch richtig berühmt wurde Roxane Gay erst mit "Hunger". Noch bevor "Bad Feminist" erschien, war schon die Entscheidung für das Buch gefallen.
"In Körpern ist viel Scham"
"Meine Agentin und ich sprachen über mein nächstes Sachbuch, und ich sagte ihr im Scherz: Worüber ich am wenigsten schreiben möchte, ist fatness. Da begriff ich, dass ich gerade darüber schreiben sollte. Denn meiner Erfahrung nach sind gerade jene Dinge, vor denen ich am meisten Angst habe, intellektuell die ergiebigsten."
Bis zum Alter von zwölf Jahren war Roxane Gay mager und hochgeschossen, doch dann wurde sie Opfer einer Gruppenvergewaltigung in einer Waldhütte. 25 Jahre lang verschwieg sie dieses Trauma. Statt zu reden, begann sie zu essen. Ihr Buch hätte statt "Hunger" auch den Titel "Scham" tragen können, denn dieses Wort zieht sich durch den ganzen Text.
"Vieles davon begann mit Scham. Die Scham über das, was geschehen war und die Unfähigkeit, darüber zu reden, dann der Entschluss, dass ich mich größer mache, um mich zu schützen – und dann die Scham, in einem dicken Körper zu leben. In Körpern ist viel Scham gebunden: der Versuch, in einer Welt zu leben, die diese Geschichte nicht hören will."
Eine Stimme für alle abseits der Norm
Scham ist ein Gefühl, das uns verstummen lässt, doch Roxane Gay spricht ganz offen über das, wofür sie sich schämt – man kann sie ganz unbefangen danach fragen. Das liegt auch an ihrem Humor. Wie würde Sie Scham definieren? "Gute Frage", antwortet sie: "Ich habe noch nicht über eine Definition nachgedacht. Ich denke, Scham entsteht, wenn man das Gefühl hat, man sei ein Problem, obwohl man es nicht ist."
Deshalb ist "Hunger" keine private Geschichte. Roxane Gay verleiht all jenen eine Stimme, die in einem Körper leben müssen, der nicht der Norm entspricht.
"Man muss natürlich mit den Zumutungen der Menschen umgehen, die glauben, sie müssten dir sagen, was sie über deinen Körper denken. Die Leute starren dich an, du kannst sie flüstern sehen und du weißt genau, dass sie über dich sprechen. Entweder, du findest einen Weg, damit fertigzuwerden, oder du verliest den Verstand."
"Fat" ist besser als "adipös"
Unsere Gesellschaft tut sich so schwer mit dicken Menschen, dass wir nicht einmal ein politisch korrektes Wort dafür haben. Auch ich zögere in unserem Gespräch manchmal aus Scheu vor diskriminierenden Wörtern.
Roxane Gay wischt meine Bedenken hinweg, sie benutzt das Wort "fat" im Englischen ganz selbstverständlich. "Es ist besser als adipös, denn dieser medizinische Begriff impliziert, dass du ein Problem bist. Ich finde, 'fat' ist einfach zutreffend. Übergewichtig funktioniert nicht, denn es impliziert wiederum, dass es ein normales Gewicht gibt, und man eine Fehlentwicklung ist, wenn man darüberliegt. Sprache ist wichtig, und wenn man sie in Besitz nimmt, hilft das vielen Menschen zu fühlen, dass sie auf der Welt sein dürfen."
Der dicke Körper gilt als Problem
Das Schreiben von "Hunger" war für Roxane Gay geradezu eine Katharsis. Viele Dinge sieht sie jetzt klarer. "Es gibt die Vorstellung, dass man keinen Wert hat, wenn man dick ist; dass man kein Recht hat, ein Teil der Welt zu sein und für sich einzutreten, Meinungen zu haben, sich um sich selbst zu kümmern; dass der dicke Körper ein Problem ist, das ich lösen muss. Das ist wirklich eine tiefsitzende kulturelle Programmierung: Glaube ich das wirklich, oder hat man mir nur beigebracht, das zu glauben, und wie kann ich aufhören, das zu glauben?"
Roxane Gay hat einen unbestechlichen Blick für das Wesentliche, für das, was alle Menschen miteinander verbindet. Das Recht, in der Welt zu sein – um nichts anderes geht es im Kampf gegen Diskriminierung. Das weist über die Niederungen aller PC-Debatten weit hinaus.