Sasha Marianna Salzmann: "Im Menschen muss alles herrlich sein"
Suhrkamp, Berlin 2021
384 Seiten, 24 Euro
"Ich will wissen, wer wir sind"
13:17 Minuten
Die Kinder russischer Migranten verstehen oft die Welt ihrer Eltern nicht. So ging es auch Sasha Marianna Salzmann. Es musste erst gelernt werden, die richtigen Fragen zu stellen. Von diesem Generationenkonflikt erzählt ihr neuer Roman.
Der Titel des neuen Romans "Im Menschen muss alles herrlich sein" stammt aus Anton Tschechows "Onkel Wanja", erzählt Sasha Marianna Salzmann. Im Russischen sei dies eine Redensart. Wenn man sagt, "es muss alles herrlich sein", bedeute dies so viel wie: Es ist noch nicht alles herrlich, erklärt Salzmann. Und es beinhalte die Aufforderung: "Mach was aus dir!" Das sei natürlich in einem diktatorischen System wie der Sowjetunion eine grausame Forderung gewesen.
Sozialisation zu Sowjetzeiten
Der Roman beginnt in den 1970er-Jahren und begleitet vier Frauen über mehrere Jahrzehnte. Eine von ihnen ist Lena. Sie stammt aus dem ukrainischen Teil der Sowjetunion. Es habe sie interessiert, mit welchen Geschichten diese Menschen dort zu Sowjetzeiten aufgewachsen sind, so Salzmann.
Die Spur führte sie zu einem Pionierlager. In Lenas Schulzeit galt der Pionier Pawlik Morosow als großes Ideal. Er wurde als "Heldenpionier Nr. 1" bezeichnet. Die Legende über Morosow besagt, er sei als Junge von Verwandten seines Vaters ermordet worden, weil er verraten habe, dass sein Vater für die Familie illegal Getreide gehortet hatte. So wurde er zum Märtyrer und zur Pionier-Ikone stilisiert. Seine Büste habe früher in allen Schulen gestanden, sagt Salzmann, und mit dieser Geschichte wuchs Lena auf.
Während der Sowjetzeit und danach konnte sich Lena ihre Menschlichkeit bewahren. Nach der Perestroika arbeitete sie als Ärztin und erlebte die Mafiosi, die das Land in den 1990ern unter sich aufteilten. Sie kamen als Patienten zu ihr.
Generationen müssen miteinander reden
Lena entschied sich schließlich, die Ukraine zu verlassen und nach Deutschland zu gehen. Salzmann hat den Eindruck, viele Migranten verlassen die Heimat nicht, weil sie glauben, dass sie es irgendwo anders besser haben. Im Vordergrund stehe das Gefühl, "dort kann ich atmen". Diese Menschen laufen ja vor einer realen Gefahr davon, so Salzmann.
Der zweite Teil des Buches spielt im heutigen Deutschland. Nina und Edi sind die Töchter zweier ausgewanderter Ukrainerinnen. Beide verstehen die Welt, in der ihre Mütter sozialisiert wurden, nicht. Besonders Nina ist die sowjetische Ukraine fremd. Edi versucht, zu verstehen, doch sie findet keinen Zugang zu dieser Welt.
Die richtigen Fragen stellen
Zu dieser "postsowjetischen Generation" zählt sich Sasha Salzmann selbst. "Ich will schon wissen, wer wir sind", sagt sie. In Deutschland gebe es viele Nachkommen von Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion. Sasha Salzmann lese in E-Mails und im Internet von jungen "Post-Sowjets", die von der Welt ihrer Eltern gar nichts mehr verstehen. Salzmann findet, diese Generationen sollten aufeinander zugehen.
Die jüngere Generation könne sich aber nur schwer mit der Elterngeneration austauschen, weil sie gar nicht wüssten, was sie fragen sollen. "Ich habe auch gedacht, dass ich eigentlich ganz viel darüber weiß und dass ich nicht zu fragen brauche", so Salzmann. Aber "weiß ich" bedeute ja eigentlich "ich will's nicht wissen.". "Aber es gibt nie ein 'ich weiß genug'."
Die jüngere Generation, die im Westen aufgewachsen ist, kann die Lebensumstände ihrer Eltern in der Sowjetunion einfach nicht nachvollziehen. "Sie haben nicht die richtigen Fragen und das macht die Gespräche umso schwieriger." Sasha Salzmann selbst hat es durch das Lesen von Büchern geschafft, diese Fragen für sich zu entwickeln und sei so mit ihrer Mutter darüber ins Gespräch gekommen.
(nis)