Kultur statt Neid und Geiz
Wer liberal eingestellt ist, gerät derzeit in der Türkei unter Druck. Das ist auch der Eindruck der österreichischen Autorin Sabine Scholl aus ihrem Stipendienaufenthalt in der Region um Izmir. Doch sie hat auch Menschen getroffen, die sich für Demokratie und Kultur engagieren.
Joachim Scholl: Die Schriftstellerin Sabine Scholl ist Österreicherin, vielfach preisgekrönt, schon seit Längerem lebt sie in Berlin und kürzlich erst war sie hier in der "Lesart" unser Gast mit ihrem ganz neuen Roman "Das Gesetz des Dschungels", hat aber auch davon erzählt, dass sie demnächst in die Türkei fährt: ein 14-tägiges Stipendium, "writer in residence", in der Stadt Seferihisar in der Provinz Izmir. Wir haben natürlich gleich die Ohren gespitzt, sagten oh, da müssen Sie uns nach Ihrer Rückkehr von erzählen. Seit vorgestern ist Sabine Scholl wieder in Deutschland, jetzt bei uns, willkommen!
Sabine Scholl: Hallo, guten Morgen!
Joachim Scholl: Sie sind zu diesem Aufenthalt durch die Vermittlung von Can Dündar, der ehemalige Chefredakteur der Zeitung "Cumhuriyet", der in der Türkei zu mehreren Jahren Haft verurteilt ist, angezeigt persönlich von Präsident Erdogan damals. Er konnte ja wenigstens rechtzeitig vor dem Putsch abreisen, lebt jetzt im Zwangsexil in Deutschland, ist ja auch eine prominente Figur geworden. Wie konnte denn eine solche persona non grata Ihnen jetzt zu diesem Stipendium verhelfen?
Sabine Scholl: Aus zwei Gründen. Erstens ist er befreundet mit dem Bürgermeister dieser Stadt seit langem, also ein Jugendfreund. Und dieser Bürgermeister ist ein liberaler Demokrat, ein Sozialdemokrat, der versucht in seiner Region noch ziemlich viel modernes Denken und Politik zu verbreiten. Der zweite Grund ist, dass überhaupt diese Region um Izmir traditionellerweise sehr liberal und offen ist.
Joachim Scholl: Das heißt, Sie sind sozusagen in eine Ihnen wohlgesinnte Umgebung gekommen. Wen haben Sie denn da getroffen so?
Sabine Scholl: Also ich habe mir eigentlich anfangs gar nichts vornehmen wollen, ich dachte, ich verlasse mich ganz auf meine Beobachtungsgabe. Dann hatte ich aber natürlich sehr gute Betreuung dort vor Ort mit einer Übersetzerin und eigentlich einer Führerin, die mir verschiedene Dinge gezeigt hat. Also eigentlich eher noch die Einrichtungen, Jugendzentren, oder auch die archäologischen Ausgrabungen. Also alles, was die Identität der Stadt und der Region ausmacht. Und während dieser Fahrten und Gänge konnte ich mich dann auch ganz intensiv mit ihr und dann später auch dem Bürgermeister unterhalten, und da haben wir relativ frei über die Situation gesprochen, wie das von ihrer Seite aussieht.
"Aufpassen, was man sagt in welcher Umgebung"
Joachim Scholl: Einige Wochen sind jetzt seit den Wahlen vergangen, Erdogan hat mit seiner AKP die notwendige Mehrheit, jetzt sein geplantes Präsidialsystem zu installieren, das heißt, die Weichen sind gestellt für eine Machtfülle sondergleichen. Wie haben das denn Ihre Gesprächspartner gesehen, was haben sie dazu gesagt?
Sabine Scholl: Ja, dadurch, dass sie ja eindeutig die modernere und aufgeschlossenere Position vertreten, fühlen sie sich in ihren Rechten und Freiheiten eingeschränkt und auch zum Teil durch die Bevölkerung verraten, die für den Diktator eingetreten ist. Also, wir haben dann eigentlich nur noch von Herrscher und Diktator, wir haben den Namen auch nie erwähnt. Man muss ja auch ein bisschen aufpassen, was man sagt in welcher Umgebung, auch wenn wir in einer liberalen Umgebung waren. Ich habe zwei Positionen kennengelernt, eine eher pessimistische, die sich so auf ein Untergangsszenario vorbereitet und sieht, wie man sich noch irgendwie retten kann oder irgendwie für die Notsituation gerüstet sein kann, wenn gar nichts mehr geht. Und die optimistische, die schönerweise der Bürgermeister vertreten hat, der weiterhin an die Kraft der Veränderung glaubt, sei es auch, dass man mit Kindern mehr Demokratie unternimmt. Und es gibt ja dort auch so eine Art Kinderparlament oder Kinderregierung, die können mitbestimmen. Also für die Kinder und auch die Jugend wird sehr viel dort in der Region doch gemacht.
Joachim Scholl: Hatten Sie – Sie sind ja auch, Sabine Scholl, literaturpolitisch sehr engagiert im deutschen PEN etwa –, hatten Sie auch Kontakt zu Schriftstellern, ihre Situation ist ja ebenfalls hochprekär geworden, weil literarisch kritisch zu schreiben ist existenzgefährdend und kaum mehr möglich oder?
Sabine Scholl: Absolut, aber ich habe dort keine getroffen. Ich war die einzige in diesem Ort und das liegt daran, dass dieses Schriftstellerhaus eigentlich erst dabei ist, sich zu formieren, das gibt es erst ein Jahr. Das ist so ein Projekt des Bürgermeisters, der eben versuchen will, mehr Kultur in die Gegend zu bringen, mehr Künstler in die Gegend zu bringen – und ich habe mir auch überlegt, ob ich dazu was beitragen kann, dass da noch mehr passiert, mehr Austausch passiert, also angedacht ist es schon.
"Diese Mikroaggressionen sind stärker geworden"
Joachim Scholl: Wie offen haben denn die Menschen mit Ihnen gesprochen? Also offiziell sind ja alle demokratischen Institutionen noch intakt. Der Ausnahmezustand ist jetzt mittlerweile aufgehoben, aber Kritiker sagen ja, dass es diesen gar nicht mehr braucht, weil sozusagen so eine mentale Gleichschaltung längst vollzogen ist. Wer Kritik übt, wird dann halt prompt zum Terroristenunterstützer gemacht, für den dann die entsprechenden Gesetze angewendet werden. Ich meine, so kann man Meinungs- und Pressefreiheit ja auch aushebeln, ohne sie äußerlich anzutasten. Wie gehen denn die Menschen damit um?
Sabine Scholl: Wie gesagt, dort, in der Region um Izmir und auch in dem Ort, wo ich war – und das ist ein Ort, an dem vor allem Menschen aus Izmir Ferien machen mit ihren Familien oder auch schon Rentner Ferienhäuser haben –, ist rein nur vom Beobachten gar nichts zu spüren. Also denen geht es gut, die haben ja auch Wohlstand, der ist nicht beeinträchtigt. Und das war vielleicht auf den ersten Blick vielleicht noch das Erstaunlichste, dass man fast keinen Unterschied jetzt zu irgendeiner anderen Situation wahrnehmen konnte. Aber natürlich gibt es dann im Kleinen, also zum Beispiel diese Übersetzerin, die als Single, eine sehr gut aussehende Frau, in einer kleineren Stadt lebt, die erzählt hat, dass natürlich religiöse Familien, bei denen alles so ist, wie der Herrscher sich das vorstellt, sich doch bemüßigt fühlen, Kritik zu üben oder leichte Drohungen ihr angedeihen zu lassen, weil sie sich eben nicht in dieses allgemeine Bild fügt. Ich glaube, dass diese Mikroaggressionen, dass die schon stärker geworden sind.
Joachim Scholl: Das heißt, weil sie eine unverheiratete, selbstbestimmte Frau ist…
Sabine Scholl: Ja, weil sie in Freiheit lebt, selbstbestimmt, nicht abhängig von einem Mann, das ist schon Grund genug, jemandem Verachtung entgegenzubringen. Und die offizielle Regierungslinie gibt diesen Leuten ja Recht, also die Kleinstaaterei und das Kleingeistige und der Neid und der Geiz werden ja offiziell gefördert. Und das ist, glaube ich, das, worüber wir am meisten gesprochen haben. Wie kommen eben Menschen dazu, sich so zu verhalten, so einverstanden zu sein, dass ihre Freiheiten oder die Freiheit der Vielfalt beeinträchtigt ist.
Joachim Scholl: Weil Sie gerade die Touristenregion angesprochen haben, Frau Scholl, sind denn die Touristen wieder zurück, auch die ausländischen?
Sabine Scholl: Nein, das ist eindeutig ein Gebiet, das nur von Izmir und von Istanbul bereist wird. Es gab zwar zwei Ferienanlagen, da waren dann eigentlich fast nur Ausländer drin, die sind aber auch dort drin geblieben. Ich habe das überhaupt noch nie erlebt in der Türkei, dass zum Beispiel niemand Englisch sprechen konnte oder das sich kaum andere Sprachen gehört habe, auch am Strand oder wenn ich unterwegs war. Ich war an diesem türkischen Strand und bei den türkischen Institutionen und auch bei Ausflügen in Dörfer, auf Märkte oder in Ausgrabungen eigentlich immer die einzige Ausländerin.
Austausch für die liberalen Menschen wichtig
Joachim Scholl: Die öffentliche Wahrnehmung der politischen Verhältnisse in der Türkei wird bei uns ja doch auch zunehmend schwächer, kann man schon sagen. Also die hitzige Debatte über Mesut Özil jetzt in den vergangenen Tagen, die dreht sich um deutschen Rassismus und wird kaum mit dem verknüpft, was unter und mit, durch Erdogan in der Türkei passiert. Morgen wird im "Standard", der großen österreichischen Tageszeitung, eine große Reportage von Ihnen erscheinen über Ihre Reise, Sabine Scholl. In dem Artikel – ich durfte ihn schon vorab exklusiv lesen, vielen Dank dafür – da plädieren Sie dafür, hinzufahren, die liberalen Kräfte zu stärken, damit auch wieder in unser Bewusstsein zu rufen. Ist das, ja, wäre das so die Konsequenz, die Erkenntnis dieser Reise?
Sabine Scholl: Ja, also das habe ich schon das Gefühl, dass es für die liberalen Menschen, also die, die nicht einverstanden sind mit diesem Regime, sehr wichtig ist, sich auszutauschen und auch das Gefühl zu haben, dass sie verstanden werden und dass wir eigentlich gleich denken. Darauf sind wir ja gekommen, also wir haben so viele Gemeinsamkeiten feststellen können jetzt auch, wie wir politische Situationen einschätzen, und dieser Austausch, glaube ich, ist extrem wichtig, um einfach auch klarzumachen, dass dort auch nicht alle in Dumpfheit versunken sind, sondern dass es durchaus wirklich eine große Schicht und eine große – vor allem eben auch junge Menschen gibt, die sich europäisch fühlen, die sich modern…, die aufklärerische Positionen auch vertreten wollen und dafür arbeiten wollen. Und das, glaube ich, ist wichtig, dass man das hier auch mehr verbreitet, dass es einfach wirklich Menschen gibt, deren Impulse diesbezüglich unterdrückt werden und die doch auch von außen Hilfe brauchen würden, weil die Institutionen nicht mehr greifen – also die Gewaltenteilung existiert ja nicht mehr.
Joachim Scholl: Die Schriftstellerin Sabine Scholl war "writer in residence" in der Türkei. Vielen Dank für Ihre Eindrücke, Frau Scholl, alles Gute Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.