"Ich habe alles gelesen, was ich in die Finger bekam"
33:46 Minuten
Die Autorin und Übersetzerin Mirjam Pressler ist im Alter von 78 Jahren gestorben. Besonders intensiv hat sie sich mit Anne Frank beschäftigt. Aus Anlass ihres Todes wiederholen wir ein Gespräch mit ihr aus dem Sommer 2018.
Mirjam Pressler war versessen auf Bücher. Die Autorin und Übersetzerin lieh sich schon als Kind in Darmstadt allerorten Lesestoff aus, vom Reiseführer bis zum literarischen Klassiker. Mirjam Pressler hat sich aus ihrem schwierigen Alltag immer wieder in die Welt der Bücher gerettet.
Mirjam Pressler wurde 1940 als Tochter einer jüdischen Mutter geboren und wuchs bei einer Pflegefamilie auf. Ihre Kindheitsjahre waren sehr belastet, sie galt als Außenseiterin. Aber sie las auch, um Reaktionen auf Schicksalsschläge in ihrer Imagination schon einmal durchzuspielen.
"Ich habe alles gelesen, was ich in die Finger bekam. Ich kann mich erinnern, dass ich in der dritten Klasse einmal in einem Aufsatz meinen Schulweg beschreiben sollte. Ich fand aber meinen eigenen Schulweg langweilig und hatte gerade ein Buch über München gelesen, in dem ein Wort vorkam, das mich begeistert hat. Danach habe ich dann meinen Schulweg beschrieben und geschrieben, dass ich auf dem Weg zur Schule über den Rindermarkt und den Viktualienmarkt gegangen bin."
"Jugendliche sind Leser wie Erwachsene auch"
Die Leidenschaft für Bücher hat Mirjam Pressler nie verlassen. Sie schrieb über 40 Bücher und hat mehr als 400 Bücher aus dem Hebräischen, dem Englischen, dem Niederländischen und Afrikaans übersetzt. Früher sei sie ein Workoholic gewesen, heute jedoch nicht mehr, hat die Autorin und Übersetzerin "Im Gespräch" über sich gesagt: "Ich arbeite, wenn mir was einfällt und wenn ich Lust habe. Ich habe halt oft Lust."
Die Protagonisten ihrer Jugendbücher durchleben beängstigende, grausame, traumatisierende Situationen. Ihre Geschichten erzählen von Gewalt, Verlorenheit, psychischen Störungen oder zerstörten Familien. Einige handeln vom Holocaust, wie ihr mit vielen Preisen ausgezeichneter Jugendroman "Malka Mai". Sie habe keinen Grund gesehen, ihre jugendlichen Leser zu schonen, sagte Mirjam Pressler:
Die Protagonisten ihrer Jugendbücher durchleben beängstigende, grausame, traumatisierende Situationen. Ihre Geschichten erzählen von Gewalt, Verlorenheit, psychischen Störungen oder zerstörten Familien. Einige handeln vom Holocaust, wie ihr mit vielen Preisen ausgezeichneter Jugendroman "Malka Mai". Sie habe keinen Grund gesehen, ihre jugendlichen Leser zu schonen, sagte Mirjam Pressler:
"Jugendliche sind Leser wie Erwachsene auch. Die Jugendlichen im Holocaust mussten das erleben. Und unsere heute haben, wenn sie das lesen, in der Regel einen vollen Bauch, ein warmes Zuhause, sie haben etwas Anständiges an und brauchen keine Lebensangst zu haben. Und deswegen können sie das durchaus lesen."
Anne Franks Familie war Mirjam Pressler sehr nah
Mirjam Pressler beschäftigte sich viele Jahre intensiv mit dem Leben von Anne Frank und der erweiterten Familie Frank. Pressler schrieb unter dem Titel "Ich sehne mich so" eine Biografie Anne Franks. Sie edierte auch die "Anne Frank Gesamtausgabe", die 2015 erschien. Sie habe das Gefühl, dass sie die Familie Frank besser kenne "als jede andere Familie auf der Welt", sagte sie.
Mirjam Pressler hat Anne Frank nicht nur als Opfer, sondern auch als Heranwachsende und als Literatin erlebbar gemacht. Zur Gesamtausgabe gehört auch eine neue Lesefassung des Tagebuchs. Die ursprüngliche stammt von Otto Frank, Anne Franks Vater.
Mirjam Pressler hat Anne Frank nicht nur als Opfer, sondern auch als Heranwachsende und als Literatin erlebbar gemacht. Zur Gesamtausgabe gehört auch eine neue Lesefassung des Tagebuchs. Die ursprüngliche stammt von Otto Frank, Anne Franks Vater.
"Ich finde sie nach wie vor sehr sehr gut, aber er hat natürlich sehr viel gekürzt, aus den verschiedensten Gründen." Er habe eine bestimmte Seitenzahl nicht überschreiten dürfen und die Toten schützen wollen, die sich nicht mehr wehren konnten, so Mirjam Pressler, die ihn persönlich sehr gut kannte. "Die neue Ausgabe durfte Mirjam Pressler um ein Drittel dicker machen.
"Ich habe es bis zur letzten Seite ausgenutzt und habe Anne Frank offener und ehrlicher gemacht."
"Anne Frank ist eigentlich ein Pubertätsbuch"
Die Autorin und Übersetzerin besuchte häufig Schulen, um über Anne Frank und ihr Tagebuch zu sprechen. Ihrer Beobachtung nach sei das Interesse an Anne Frank unter Jugendlichen nach wie vor groß. Mirjam Pressler führte das vor allem darauf zurück, dass das Tagebuch der Anne Frank ein Buch sei, das offen und ehrlich die Entwicklung eines jungen Mädchens dokumentiere und all die Themen erörtere, die heranwachsende Menschen beschäftigten.
"Anne Frank ist eigentlich ein Pubertätsbuch. Es zeigt die Entwicklung eines Mädchens in einer Offenheit und Ehrlichkeit, wie wir es selten haben. Einfach, weil es nicht mehr korrigiert worden ist. Und das merken die Jugendlichen."
Mirjam Pressler hat immer wieder auf die literarische Qualität der Texte von Anne Frank hingewiesen.
"Im Hinterhaus, auch im Tagebuch, passiert ja eigentlich nichts. Da sind acht Leute, die da zusammenleben und sich gegenseitig auf die Nerven gehen. Außer den Streitereien ist nicht viel los. Dass sie es geschafft hat, aus diesem Wenigen eine ganze Welt zu erschaffen, auch literarisch, und sie hat es gut geschrieben, sie hat gesprochene Sprache geschrieben, das weist sie als Literatin aus."
Mirjam Pressler ist am 16. Januar 2019 nach langer Krankheit und im Alter von 78 Jahren gestorben.