Autoverkehr in den Städten

Der private PKW hat ausgedient

Frontalaufnahme vom Brandenburger Tor. Davor lange Autoschlangen.
Mehr Grün, weniger Lärm, bessere Luft: Die Umweltjournalistin Annette Jensen erträumt sich eine Welt ohne private Autos. © Getty Images / RICOWde
Überlegungen von Annette Jensen · 23.11.2022
Fahrbahnen als Lebensräume für alle – mit viel Platz für Begegnungen und Gespräche, zum Spielen und Durchatmen. So könnten sie aussehen, zukünftige Städte, meint die Umweltjournalistin Annette Jensen und plädiert für die Abschaffung der Privatautos.
Jedes Jahr mehr Autos. 48 Millionen PKW fahren und stehen inzwischen in Deutschland herum. Doch Verbrenner und Diesel sind Auslaufmodelle. 2035 ist Schluss mit ihrer Produktion. Gut so! Der Verkehrssektor ist der einzige Bereich, in dem der klimaschädliche CO2-Ausstoß seit 1990 kaum gesunken ist.
Die deutsche Autoindustrie aber möchte möglichst wenig ändern. Am liebsten will sie nur einen neuen Antrieb unter die Motorhaube bauen – und die Allgemeinheit soll für die Ladeinfrastruktur bezahlen. Ansonsten entwickelt sie immer weiter Dickschlitten mit viel digitalem Schnickschnack: Wer sein Auto als Büro nutzen will, soll das Lenken künftig an den Bordcomputer abgeben – so die Vision. Das einzige, was dabei heftig diskutiert wird ist die Frage, ob bei einem Unfall die Rentnergruppe oder ein Baby totgefahren wird.

Chance auf neue Stadtgestaltung

Ich sage: weder - noch. Künftig wird es sowieso viel weniger Fahrzeuge geben können – und die sollten in den Städten so langsam unterwegs sein, dass niemand durch sie stirbt.
Das Auto als Privatfahrzeug ist am Ende. Es gibt schlicht nicht genug Ressourcen, um sämtliche Wagen auf Elektroantrieb umzustellen und zugleich so viele Windräder und Fotovoltaikanlagen zu bauen, wie ihr Betrieb benötigt.
Das eröffnet die Chance, Städte neu zu gestalten: mehr Grün, weniger Lärm, bessere Luft – mehr Gerechtigkeit.

Neue Radwege und selbstfahrende Taxis

Neben Radwegen und gut ausgebautem ÖPNV können auch Autos durchaus dem Gemeinwohl dienen. Warum nicht selbstfahrende Taxis einsetzen, die Menschen bei Bedarf direkt von A nach B bringen? Google hat vor einiger Zeit einen langsam fahrenden, fahrerlosen Kleinwagen präsentiert, der Kinder, Blinde und Omas sicher transportiert. Natürlich ging es dem US-Konzern nur darum, Daten abzugreifen und damit Profit zu machen. Doch die Grundidee ist gut.
Selbstfahrende Taxis könnten Busse und Bahnen ergänzen. Schon heute gibt es in vielen Städten Verkehrs-Apps. Mit ihnen lässt sich ganz einfach herausfinden, welche Verkehrsmittel-Kombination am schnellsten, bequemsten oder billigsten zum Ziel führt. Autonome Taxis ließen sich da ohne Probleme integrieren. Sie holen die Fahrgäste auf Wunsch zu Hause ab oder erwarten die Kundschaft an der U-Bahn-Haltestelle.
Würde der Individualverkehr auf diese Weise abgewickelt, ließe sich die Fahrzeugflotte radikal verkleinern. Weil die Wagen ständig unterwegs sind und nicht wie heutige PKW durchschnittlich 23 Stunden am Straßenrand stehen, könnten die meisten Parkplätze in Gärten, Spielplätze oder Straßencafés verwandelt werden.

Digitale Straßeninfrastruktur nutzen

Möglich wäre auch, dass nicht ein eingebauter Computer das Auto steuert, sondern die digitale Straßeninfrastruktur. Damit experimentiert Singapur. Die maximalen Geschwindigkeiten sind einprogrammiert - und wo die Fahrzeuge nicht durchfahren sollen, sperrt die Technik die entsprechende Zone.
So oder so. In jedem Fall sollten autonome Fahrzeuge relativ langsam unterwegs sein. Dann müsste künftig niemand mehr im Straßenverkehr sterben - eine gute Nachricht für Rentner und Babys.
Ein solches Verkehrssystem bedeutet aber nicht, dass die Menschen viel mehr Zeit für ihre Wege bräuchten. Denn Staus gibt es nicht mehr. Heute verbringen Münchener Pendler*innen jährlich 79 Stunden mit Warten aufs Weiterkommen – das entspricht zwei ganzen Arbeitswochen.

Straßen als offene Lebensräume für alle

Die Zukunft der Städte entscheidet sich jetzt. Wie Digitalisierung genutzt wird, spielt dafür eine zentrale Rolle. Wichtig ist, das Feld weder mächtigen Konzernen wie Google noch autoritären Regierungen wie in Singapur zu überlassen. Die Programmierung der Algorithmen muss gemeinwohlorientiert, demokratisch und transparent sein. Dann besteht die Chance, dass unsere Straßen in Zukunft nicht mehr nur Fahrbahnen und Durchgangswege sind, sondern offene Lebensräume für alle – mit viel Platz für Begegnungen und Gespräche, zum Spielen und Durchatmen.

Annette Jensen ist freie Journalistin und Buchautorin in Berlin. Sie studierte Politikwissenschaften und Germanistik an den Universitäten in Heidelberg und Hamburg. 1992 war sie Mitbegründerin des Ressorts „Wirtschaft und Umwelt“ bei der Tageszeitung „taz“. Ihre Schwerpunkte sind ökonomische, ökologische und soziale Nachhaltigkeit sowie gesellschaftliche Transformation. Jensen engagiert sich im Ernährungsrat Berlin und hatte die redaktionelle Verantwortung für das Buch „Berlin isst anders – ein Zukunftsmenü für Berlin und Brandenburg“, das als Open Source erschienen ist.

Porträtaufnahme der Autorin Annette Jensen
© Britta Knäbel

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