Avantgarde-Künstler Gerhard Rühm

"Uns interessierte alles, was man mit Sprache machen kann"

Der Schriftsteller, Komponist und bildende Künstler Gerhard Rühm am 17.10.2015 in Donaueschingen
Der Schriftsteller, Komponist und bildende Künstler Gerhard Rühm am 17.10.2015 in Donaueschingen © dpa / picture alliance / Patrick Seeger
Gerhard Rühm im Gespräch mit Stephan Karkowsky |
Er ist eine Legende der kulturellen Avantgarde, Lyriker, Musiker und bildender Künstler: Gerhard Rühm. Mit der Wiener Gruppe arbeitete er an der Erneuerung der Sprachkunst − seine Lautgedichte mit dem Sound des Wiener Dialekts versteht nicht einmal ein Wiener!
Stephan Karkowsky: Einer der dienstältesten deutschsprachigen Avantgardekünstler ist heute in Berlin zur Besichtigung: der Komponist und Lautpoet Gerhard Rühm. Geboren 1930, steht Gerhard Rühm für eine Sprachkunst, die nach der Zerstörung Europas im Zweiten Weltkrieg nicht mehr anschließen wollte an die alten Formen in Erzählung und Lyrik. Rühm und Co. knüpften lieber an Dadaismus und Surrealismus an, sie machten Kunst mit Vorgefundenem aus dem Alltag.
Gerhard Rühm ist eine Legende der kulturellen Avantgarde, und wir freuen uns sehr, ihn bei uns zu haben. Herr Rühm, guten Tag!
Gerhard Rühm: Guten Tag!
Karkowsky: Sind es denn vor allem alte oder neue Texte, die Sie am Abend vortragen werden im Berliner Heimathafen Neukölln?
Rühm: Ja, es sind eigentlich neuere Texte beziehungsweise ganz neue Texte, die ich auditive Poesie nenne, man ja unterscheidet zwischen visueller und auditiver Poesie, also zwischen Texten, die man sieht – ich mache ja immer wieder Ausstellungen –, eben visuelle Poesie, und Texte, die man hört. Das sind dann ausgesprochen für den Vortrag bestimmte Texte.
Karkowsky: Und diese Texte, wie muss ich mir das vorstellen, werden von Ihnen live vorgetragen?
Rühm: Ja, da unterscheide ich auch wieder zwischen radiophonen Texten, die im Studio produziert werden, wo man mit den Möglichkeiten des Tonstudios arbeiten kann und konzertanten Texten, die man dann live produziert.

"Ich komme ja sehr stark von der Musik her"

Karkowsky: Damit wir mal einen Eindruck kriegen, damit die "Kompressor"-Hörer mal wissen, wovon wir sprechen, hören wir uns einen dieser Texte mal an. Wie ist Ihre Arbeitsweise, also wie entstehen diese Texte, was machen Sie mit der Sprache?
Rühm: Ja, also ich komme ja sehr stark von der Musik her. Aus dem Grund spielen verbale Fragen für mich auch eine wichtige Rolle, und ich nenne eigentlich das, was ich mache, nicht gerne experimentell, weil das immer was leicht Abwertendes hat, sondern konzeptionelle Poesie. Also ich verwende für jede Sache, die ich mache, ein Konzept, oder ich entwickle ein Konzept, und daraus entwickelt sich dann der Text, aber ich habe sehr viele Dinge, die zwischen Musik und Sprache und andererseits zwischen Sprache und Bildende Kunst, denn die Schrift hat natürlich etwas mit der Zeichnung zu tun.
Karkowsky: Und die Konzepte, die Sie entwickeln für Ihre Texte, muss ich mir die als grammatikalische Konzepte vorstellen oder sind das Versmaße, die Sie empfinden wie in einem Gedicht? Was sind das für Konzepte?
Rühm: Ja, also das hängt oft auch vom Thema ab, das ich wähle. Das sind teilweise auch serielle Konzepte. Also ich habe immer versucht oder schon lange versucht, die Poesie auf den Bewusstseins- und Materialstand der Neuen Musik zu bringen, und das hinkt ja sehr hinten nach. Also das meiste, was so an Poesie produziert wird und zu hören ist oder zu lesen ist, ist ja eigentlich im Stil des 19. Jahrhunderts, kann man fast sagen. Also da wird auch der Expressionismus überschlagen. Das war eine wichtige Sache für uns damals nach dem Zweiten Weltkrieg, da waren wir ja noch sehr, sehr jung – wenn ich von wir spreche, dann meine ich also ein ganz kleiner Kreis von Leuten, die sich für ähnliche oder gleiche Dinge interessiert haben.
Karkowsky: In der Wiener Gruppe.
Rühm: Ja, Wiener Gruppe. Da hat uns natürlich vor allem interessiert, die von den Nazis unterbrochene Traditionen fortzusetzen beziehungsweise überhaupt zu erkennen. Das war aber damals sehr schwierig, denn die Sachen waren einfach von der Bildfläche verschwunden. Man musste dann durch Antiquariate wandern, ob zufällig sich da noch was erhalten hat. In der Nationalbibliothek war kaum was vorhanden. Es wurde ja alles gesäubert von den Nazis. Also die sogenannte "entartete Kunst" hieß ja dieser unheilvolle Begriff. Na ja, und da gab es natürlich schon Anregungen, da weiter zu machen.

Mondlandung als Sonnett

Karkowsky: Wir hören mal eine ältere Lesung von Ihnen zur ersten Mondlandung aus dem Jahre 1970. Das ist vermutlich im Original mal ein Ausschnitt gewesen aus einer Originalreportage, oder?
Rühm: Ja, also an diesem Zyklus – das ist ja ein Zyklus von 14 Sonetten plus dem Meistersonnet, das in meinem Fall das Inhaltsverzeichnis ist –, und da kann man sehr gut erklären, was ich unter Konzept verstehe. Das Konzept war das, die klassische Form des Sonnets mit neuen Inhalten zu füllen. Die Inhalte waren durchweg aktuell, also Nachrichten von Kriegsschauplätzen beziehungsweise von der Mondlandung. Das hat sich sehr gut ergeben, dass die Mondlandung an einem Montag war, denn es sind genau zwei Wochen, die ich da verarbeite, und die Sonnettform verfremdet gewissermaßen den Inhalt, und der Inhalt wiederum verfremdet die Sonnettorm, von der man natürlich im Allgemeinen was anderes erwartet an Inhalt.
Das ist so eine Sache, die konzeptionell so durchgearbeitet war, dass sich immer das letzte Wort der Zeile mit dem letzten Wort einer dritten oder zweiten Zeile so reimt, dass das selbe Wort wiederholt wird, und dadurch kommen so Irritationen zustande, dass dann Wörter, die schon vorgekommen sind, quasi aus dem Zusammenhang gerissen, wieder auftauchen. Man versucht natürlich den Zusammenhang herzustellen und ist so gezwungen also mit zu dichten in gewisser Hinsicht.

Ein Dialekt, den niemand versteht

Karkowsky: Ein Beispiel wollen wir noch hören, da haben Sie sich mit Wiener Mundart beschäftigt. Es wird sofort klar, da ist was Wienerisches drin, aber ich verstehe kein Wort. Versteht der Wiener, was dort gesagt wird?
Rühm: Auch nicht, also weitgehend nicht, weil das ein reines Lautgedicht ist, das nur mit dem Sound des Wiener Dialekts arbeitet, aber das übrigens noch eines von den konzertanten Texten. Da ist ja im Rundfunk nichts dran verändert worden, wenn ich das gesprochen habe.
Karkowsky: Wird es so etwas auch heute Abend geben in Berlin?
Rühm: Nein, also die Dialektperiode, das war etwas, was ich von 1954 gemeinsam mit H.C. Artmann dann entwickelt habe, wobei es mich interessiert hatte, genauso wie H.C. Artmann, eben nicht traditionell das zu verwenden, sondern die Prinzipien, sagen wir, der Konkreten Poesie, soweit es möglich ist, auch auf den Dialekt anzuwenden, denn das, was uns interessiert hatte, war ja alles, was man mit Sprache machen kann.
Karkowsky: Also die Berliner sind zu beneiden um einen Abend im Heimathafen Neukölln heute Abend, da ist nämlich die Sprachkunstlegende Gerhard Rühm zu Gast für einen seiner seltenen Auftritte. Sie hörten ihn selbst im "Kompressor" vom Deutschlandradio Kultur. Herr Rühm, herzlichen Dank!
Rühm: Ja, nichts zu danken! Danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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