Eine Jazzszene mit vielen Idealen
Von Jazz scheint für die ungarische Regierung keine Gefahr auszugehen. Und doch versammelt sich in den alternativen Avantgarde-Spielorten in Budapest ein Publikum, das sich kritisch mit Politik und Ideologien auseinandersetzt.
"Unsere Demokratie wird Tag für Tag zerstört. Die Regierung bestimmt, was im Nationaltheater gespielt wird, damit bestimmt sie den zulässigen Diskurs. Jazz dagegen ist nicht offensichtlich politisch. Es geht um Bebop oder komplexe Avantgarde. Für die Regierung scheint das keine Gefahr darzustellen."
Der ungarische Jazz sei also harmlos, sagt der – seit langem über die Szene forschende –Soziologe Adam Havas in Budapest. So harmlos, dass sich nicht einmal die Regierung einmische. Und das, obwohl Jazz seit jeher eine Kunstform ist, die exemplarisch für Toleranz und kulturelle Vielfalt steht. Was auf den ersten Blick unpolitisch scheint, zeugt im nächsten Moment von Selbstbestimmung. Denn unabhängige Kultur ist in Budapest alles andere als selbstverständlich.
Ungarischer Jazz lockt internationale Größen an
Die Konzerthallen und Jazz-Clubs sind die Aushängeschilder der Stadt. In diesen Clubs herrscht ein gewisser Standard. Hier lässt man sich bei dekadentem Essen berieseln oder schaut den Musikern bei einer Jam Session auf die Finger. Für lokale Musiker sind diese Auftritte eine unentbehrliche Geldquelle. Für große Künstlerpersönlichkeiten aus aller Welt, eine Gelegenheit, dem ungarischen Jazz zu begegnen. Beispiel: Archie Shepp. Der US-Amerikanische Saxophonist hat mit dem Quartett des ungarischen Kollegen Mihály Dresch, gleich ein ganzes Album aufgenommen: "Hungarian Bebop."
Die Jazz-Musik und Ungarn verbindet eine Hass-Liebe. Eine Blütezeit erlebte der Jazz hier nach dem Zweiten Weltkrieg. Zu diesem Zeitpunkt war Ungarn offen für kulturelle Einflüsse aus dem Westen. Aber: als die kommunistische Partei um 1950 die Macht übernimmt, wird der Jazz verbannt – und verschwand im Underground. Viele Musiker reisen in dieser Zeit in den Westen und verwirklichen ihre Musik in den USA. Doch mit der Lockerung des Systems kommt der Jazz auch in Ungarn zurück an die Oberfläche. Die Musik wird wieder zum Geschäft: Jazz-Clubs werden gegründet und Schallplatten gepresst.
Heute steht Jazz in Ungarn für die Verschmelzung verschiedener kultureller Traditionen. Dieser ganz eigene Ausdruck wird auch in der Musik des bereits erwähnten Saxophonisten Mihály Dresch erfahrbar. Dresch macht sich die Flexibilität des Jazz zu eigen. Er integriert freie Improvisation und typisch ungarische Volksmusik. Parallelen zu Béla Bartók liegen auf der Hand.
Adam Havas entdeckt bei seinen Studien über die Jazzszene in Budapest eine Musik mit vielen Idealen: US-Standards stehen neben europäischer Avantgarde.
"Außerdem haben wir Free Jazz! Eine der bedeutendsten Figuren war György Szabados. Ein wahrer Prophet für die Free Jazz Bewegung. Viele Musiker, die zeitgenössischen Jazz spielen, treten heute in seine Fußstapfen. Seine Ästhetik hat viele Einflüsse. Zum einen Béla Bartók, zum anderen die Deutsche Free Jazz Szene. Allen voran Peter Brötzmann und Alexander von Schlippenbach. Die Vorbilder im Free Jazz sind völlig andere, als für Musiker, die sich an dem traditionellen US-Jazz orientieren."
Spürbare Wertschätzung der Musik
Abseits der namhaften Bühnen wird die Szene besonders lebendig. In einfachen Cafés werden Konzerte auf schwarz-weiß bedruckten Flugblättern angekündigt. Dazu kommen heimelige Bars, dicht an dicht mit gesammelten Gegenständen und Plakaten dekoriert. Jazz-Wohnzimmer, in denen tagsüber der Mittagstisch und abends handgemachte Musik serviert wird. Die spürbare Wertschätzung der Musik, lockt erstklassige Musiker an. Den Pianisten Alexander von Schlippenbach beispielsweise, der erst vor wenigen Wochen wieder einmal in Budapest gastierte.
"Wir merken, dass das also eine gute Sache ist, wenn wir unsere Musik an die Leute ran bringen. Und dann machen wir schon mal so Sachen, dass wir einfach mal eine Reise auf uns nehmen, wenn’s mit guten Leuten ist. Es hängt auch davon ab ob man’s gerne macht. Und in dem Fall haben wir es gerne gemacht."
Schlippenbach spielt gemeinsam mit jungen ungarischen Musikern, bei einem Eintritt von 1200 Forint. Das sind nicht einmal 4 Euro. Abstrakter, frei improvisierter Jazz, der nicht elitär, sondern offen und zugänglich ist. Im Publikum mischen sich spontane Besucher mit Experten. Verschiedene Generationen und unterschiedliche Nationen. Für Adam Havas kein Zufall, sondern eine Notwendigkeit.
Alternative Avantgarde-Spielorte
"In diesen alternativen Avantgarde-Spielorten findet man ein Publikum, das sich kritisch mit Politik und Ideologien auseinandersetzt. Da sind Musiker, Soziologen und so viele Menschen mit intellektuellem Hintergrund. Dieses Publikum ist ein wichtiger Teil der Jazz Szene. In diesem Sinne ist sie durchaus politisch."
Es gibt sie, die freie Szene in Budapest. Unabhängig von der Regierung und den meinungsverformenden Kultureinrichtungen. Es sind Orte, an denen sich Menschen begegnen, die anders denken. Menschen, die durch das gemeinsame Interesse an der Musik zusammenkommen und so den Raum für einen kritischen Diskurs finden, der in Ungarn viel zu selten stattfindet. Jazz ist nicht unpolitisch. Jazz kann Aktivismus sein.
"Der Staatschef ist hier sehr daran interessiert seine Macht zu erhalten und da kann es natürlich sein, dass zersetzende Einflüsse auch aus der Kultur und dem Underground kommen. Das ist natürlich immer möglich, wenn sich eine Gemeinschaft zusammenfindet die groß genug ist um Einfluss zu nehmen."