Zwischen Latin und Lärm
Der Sänger und Gitarrist Arto Lindsay spielte mit seiner Band in der Berliner Volksbühne eine irre Mischung zwischen leichtem Latin und Kettensägenmassaker. Dabei klingt die Stimme stets wie aus dem Schlafzimmer.
Gute Kunst macht auch einen Vorschlag zum besseren Leben. Nicht als geturnter Leitartikel, sondern als Ahnung im Ästhetischen. Der brasilianisch-amerikanische Musiker Arto Lindsay hat in der Volksbühne einen lockeren Beweis dazu erbracht. Der 61-jährige Sänger und Gitarrist machte mit seiner Band eine Spagat zwischen Latin und Lärm.
Alles groovt, geschmeidig erweitern Bass und Keyboard die Akkorde in Richtung Jazz, und dann: rrooaarrrr! Der Chef wirft die Kettensäge an, so klingt seine türkisfarbene Gitarre mit 12 Saiten, die er durch zwei Röhrenverstärker schleust. Die Stimme: zart wie ein lächelnder Jüngling.
Die Schönheit ist gefährdet, das verhehlt Lindsays Musik nie. Aber die Gefahr, die Kettensägegitarre, klingt nie von Angst zerfressen. Man stelle sich kurz vor, wie diese dekonstruktive Geste bei einer deutschen Band aussehen würde, zwischen Berliner Krautrock der Siebzigerjahre und Rammstein in Ewigkeit. Die Abrissbirne macht jeweils ganze Arbeit. Bei Lindsay dagegen ist die Verneinung nicht ein totales Prinzip, sondern eine alte Bekannte, die immer mal wieder Hallo sagt. Nach einem lauten Tänzchen geht es wieder weiter.
Musikalische Mischung aus Eleganz und Sägezahn
Diese musikalische Mischung aus Eleganz und Sägezahn ist umwerfend, auch weil der Körper sie mit aufführt. Lindsay ist fast dürr, die Kleider hängen locker herunter, aber nichts da von Schluffi. Alles ist gespannt, nie steif. Wenn er die Gitarre bearbeitet – Stromstöße, Donnergrollen, Quieken einer gestochenen Sau –, zucken Arme und Hände spastisch wie bei einem Pubertierenden, doch Schultern und Beine bleiben entspannt.
So souverän Musik wie Körperperformance scheinbare Extreme mühelos verschränken, es sei nicht verhehlt: Der Sound war ganz schön arg zu Beginn in der Volksbühne. Auch die Band brauchte Zeit, die in Coolness dem Bandleader in nichts nachstand, einfach ohne dessen Flohsackhaftigkeit.
So richtig fand man sich erst, als Lindsay die Gitarre in Ruhe ließ und Bossa Nova sang, begleitet von Paul Wilson an den Keyboards, Melvin Gibbs am Bass und dem Perkussionisten Marivaldo Paim. Die Stimme frisch aus dem Schlafzimmer, punktgenau verpeilt. Bis der Schlagzeuger Kassa Overall den Beat wieder vorgab.
"Encyclopedia of Arto" heißt das aktuelle, zauberhafte Doppelalbum, es vereint Studiostücke aus den Jahren 1996 und 2004 auf der ersten CD und schroffe Liveaufnahmen, die Lindsay solo spielte, etwa im Berliner Berghain vor drei Jahren. Das Konzert in der Volksbühne war die Synthese dieser beiden CDs. Wo Lindsay im Berghain den Prince-Sexklassiker "Erotic City" komplett zerlegte, groovt die Band nun gemütlich los. Von Geschlechtsverkehr bis zum Morgengrauen ist die Rede. Und dann, wroooommm, grätscht diese Gitarre rein. Nicht als Potenzmittel, sondern im Gegenteil, als Reality Check.