Avantgardist der Abwendung

Der "Aufenthalt" ist ein Ort im Abseits. Botho Strauß hat sich als moderner Eremit in die Uckermark zurückgezogen. Seit Anfang der 90er-Jahre lebt er dort nahe der polnischen Grenze. Doch wenn es nur möglich wäre, dann würde er ganz und gar aus Zeit und Raum, aus Geschichte und Gegenwart emigrieren.
Als mönchisch-meditative Gestalt durchwandelt er die Felder und Wiesen und belegt von dort aus die Zeitgenossen mit grimmiger Verachtung: Nur die "aufgehaltenen Leute", die sich nicht beteiligen am Hamsterradrennen des Alltag, akzeptiert er als Seinesgleichen. "Den Alltag habe ich nie gekannt. Der Alltag erwartet uns am Ende der Zeiten", räsoniert er dunkel. Dunkelheit ist bei ihm Stilprinzip: "Sprache soll man verdunkeln wie einst die Häuser unter Luftangriff."

"Vom Aufenthalt" besteht aus Aphorismen, Beobachtungssplittern, Zitaten, Skizzen, Reflexionen und ein paar kurzen Szenenentwürfen. Da beweist Strauß, wie gut er erzählen könnte, wenn er wollte. Doch sein Ideal ist keine erzählerische Prosa, nicht die logische Deduktion, noch nicht einmal die Mitteilung, sondern "reine Gegenstandlosigkeit, freie themenlose Szenerie, entgrenzte Impression". Das Buch sieht er als Chance, "mit anderen Menschen in Verbindung zu treten, ohne mit ihnen kommunizieren zu müssen". So gibt er das paradoxe Bild eines Dichters ab, der in letzter Konsequenz verstummen müsste, weil mit den Worten ja schon die Geschwätzigkeit beginnt. Sprache ist auch das Medium der "ins Handy bramarbasierenden Makler" und all der Bewohner der "Blogosphäre", die dafür sorgen, dass "dies All erfüllt ist von jedermanns erbrochenem Alltag". Gegen-Öffentlichkeit, meint Botho Strauß angesichts dieses leeren Gedröhns, wäre heute "der unauffindbare Autor".

Strauß ist in seiner Massenkulturverachtung, die auch das Prozedere der Demokratie und der Medien mit einschließt, der wohl radikalste Kulturkritiker unserer Zeit. Man kennt seine Tiraden seit dem "anschwellenden Bocksgesang", mit dem er Anfang der 90er-Jahre die linksliberale Intellektuellenschaft verstörte. Damit hat er sich erfolgreich in die Rolle des einsamen, zeitabgewandten Outlaws hineinkatapultiert, nach der er sich sehnte. Und doch ist es ein Missverständnis, ihn für einen Kritiker zu halten. Kritik setzt ja Logos, Vernunft und Zugehörigkeit voraus. All das lehnt Strauß jedoch ab und hält dagegen die Schau der letzten, uralten Dinge, den Mythos und – das vor allem – einen nicht linearen und auch nicht fortschrittsbezogenen Begriff der Zeit.

Der Zeitbegriff ist das Spannendste am "Aufenthalt". Weil man die Zeit – und mit ihr das Altern und Verschwinden, vor dem Strauß sich fürchtet – nicht überwinden kann, baut er sie um und macht aus dem Nacheinander der Tage und Jahre eine große Gleichzeitigkeit. Zeitpartikel sollen wir uns denken wie Körperzellen, "die Energie aufnehmen von der Umgebung, sie für ihr System nutzen und in gewandelter Form wieder abgeben an ihre Umgebung. Zeit also jenseits von Zeitpfeil und Entropie, jedoch dem Fließgleichgewicht der Erde, der Zelle und der Seele verwandt." Das klingt nach Mystik, nach Meister Eckhard oder nach östlicher Meditation.

Strauß leidet auch unter der Linearität der Schrift. Anstatt zu schreiben, müsste er zum Landschaftsmaler werden, der seine Bilder übereinander schichtet. Seine Sprache ist mehr Raunen als Aufklärung. Nur wenn er politisch und zornig wird, spricht er Klartext. Dann wird sogar der "Aufenthalt" als Wartesaal des Mystikers zum konkreten Ort. An der untergegangenen DDR, zum Beispiel, ist nichts zu loben als ihre Entschleunigungsqualität: "Was für ein Aufenthalt!". Von den Dichtern, die dort lebten, will Strauß nur Peter Huchel und Johannes Bobrowski gelten lassen. Alle anderen sind ihm bloße "Ärmelschoner-Existenzen". Denn: "Wer sich in dieser Diktatur nicht der Natur zuwandte, hat sie nicht tief genug erlebt." Das gilt dann wohl auch für unsere Gegenwart, in der Botho Strauß als Avantgardist der Abwendung voranschreitet und verschwindet.

Besprochen von Jörg Magenau

Botho Strauß: Vom Aufenthalt
Hanser, München 2009
352 Seiten, 19,90 Euro