"Das rechte Lager betreibt Angstpropaganda"
Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern ist politisch und nicht religiös motiviert, sagt der Diplomat und Publizist Avi Primor. Er warnt: Wenn die gemäßigte Mehrheit schweigt, bestimmt die extreme Rechte Israels Politik.
Kirsten Dietrich: Welche Rolle spielt Religion in den gewalttätigen Auseinandersetzungen unserer Zeit? Warum werden so viele Kriege vom Glauben angeheizt, obwohl doch Friede die große Verheißung aller Religionen ist? Diese Frage beschäftigt uns in den letzten Monaten immer wieder hier in "Religionen".
An kaum einem Ort drängt sich diese Frage so auf wie beim Blick auf Israel. Ein Land, in dem Judentum, Christentum und Islam heilige Stätten verehren. Und doch – oder vielleicht auch gerade deshalb – ein Ort, an dem Religion immer öfter Konflikte anfeuert oder erst auslöst. Trauriger Höhepunkt war in jüngster Zeit der Mordanschlag auf Betende in einer Synagoge in Jerusalem.
Dabei verlaufen die Konfliktlinien nicht nur zwischen verschiedenen Religionen, auch innerhalb einer Gemeinschaft spalten sich zunehmend Extreme voneinander ab. Ein genauer Beobachter dieser Entwicklung hat in den letzten Tagen Berlin besucht, Avi Primor, in den 90er-Jahren israelischer Botschafter in Deutschland und immer wieder maßgeblich beteiligt, wenn Israel um die künftige Entwicklung seiner Gesellschaft ringt. Ich wollte von Avi Primor wissen, ob er noch glaubt, dass der Glaube auch Frieden stiften kann.
Avi Primor: Ich glaube, dass Religion von der Politik in Anspruch genommen wird, also für Zwecke, die nichts mit der Religion zu tun haben. Im Grunde genommen ist der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern ein politischer Konflikt, ein nationaler Konflikt und kein religiöser Konflikt. Und ich spreche jetzt nicht von dem gesamten Nahen Osten, im gesamten Nahen Osten gibt es viele Kriege, die wirklich religiös sind, aber meistens innerhalb des Islams. Natürlich greift man auch Juden oder Christen an, aber das ist nicht die Ursache der Konflikte des Nahen Ostens. Ich wiederhole: Zwischen Israel und Palästina ist es ganz national.
Dietrich: Welche Rolle spielt denn die Religion in diesen Konflikten?
Primor: Als Hetze. Man benutzt die Religion, um die Leute gegen den Feind aufzuhetzen. Das stimmt bei den Fundamentalisten, unter den Islamisten, unter den Arabern und Palästinensern, das stimmt aber auch bei uns, unter Juden. Das rechtsextremistische Lager steht unter Hetze der Religion. Also, ich nenne die klipp und klar Fanatiker. Aber die hätten keine Raison d’être, wenn es nicht einen nationalen Krieg gegeben hätte.
Dietrich: Das heißt an sich, eine religiöse Auseinandersetzung würde es nicht geben. Also, die religiösen Fanatiker würden nicht diese Macht haben, wenn es nicht auch noch andere Gründe gäbe, die diese Konflikte anheizen.
Primor: Ganz genau so. Und um Ihnen ein Beispiel zu geben: In den letzten Wochen hat man viel von dem Tempelberg gesprochen, das sind die Moscheen in Jerusalem, Al Aqsa und der Felsendom, und bei uns nennt man das den Tempelberg, wo mal der Tempel der Juden gestanden hat. Aber jahrzehntelang haben wir davon gar nicht mehr gesprochen. Es gab den Tempelberg und wir haben ihn erobert 1967, aber es gab keinen Streit, weil die Regierungen damals entschieden waren, die israelische Regierung und auch die jordanische, die noch eine Rolle gespielt hat, den Tempelberg auszulassen. Der hat mit dem Konflikt nichts zu tun, er wird weiter, nach wie vor, autonom von den islamischen Gremien geführt. Und so war das auch immer.
Jetzt gibt es Fanatiker, das sind die Siedler. Die sind religiös, aber ihre Absicht ist nicht Religion, sondern Siedlungen und Nationalismus und Territorium zu gewinnen. Und die benutzen jetzt den Tempelberg als Hetze und wollen sich da hereindrängen, um die Araber, die Palästinenser, nicht unbedingt die Muslime, aber die Palästinenser zu provozieren. Also, wie gesagt, ist die Religion ein Mittel in den Händen von manchen Politikern als Hetze.
Dietrich: Wächst der Einfluss der religiösen Rechten in Israel oder hat man die von Deutschland aus einfach nur bisher nicht genügend wahrgenommen?
Primor: Ich glaube, dass die gewachsen sind und extremistischer geworden sind und anspruchsvoller geworden sind. Was heute passiert in Israel, ist, dass Sie eine Mehrheit haben, eine ganz große Mehrheit, die schwankt zwischen 65 und 75 Prozent, den Umständen entsprechend, die gemäßigt ist, die sich von dem Westjordanland trennen will, die meint, dass es im israelischen Interesse ist, sich vom Westjordanland zu trennen, dort die Entstehung eines Palästinenserstaates zu ermöglichen, mit dem wir zusammen in Frieden leben sollen und kooperieren sollen. Das ist die Mehrheit der Bevölkerung, das sehen wir in allen Meinungsumfragen seit 25 Jahren schon. Es wiederholt sich, ändert sich gar nicht.
Aber leider ist diese Mehrheit unentschieden und liegt lahm, politisch ist sie lahm, weil man eine Angstpropaganda in Israel betreibt. Das rechte Lager betreibt eine Angstpropaganda und sagt immer, wenn wir das Westjordanland räumen, dann werden sie uns überfallen, dann werden sie uns vernichten und es kommt dann eine neue Schoah und solche Sachen. Und die Leute werden ängstlich und verunsichert. Während das rechte Lager sehr, sehr stark ideologisch motiviert ist, wenn ich es höflich sagen soll, ideologisch motiviert ist, es weiß genau, was es will, ist tätig. Und deshalb herrscht in Israel das rechte Lager. Wir werden von dem rechten Lager, um nicht extrem rechten Lager zu sagen, regiert. Und sie bestimmen alles. So ist das, wenn die Mehrheit unentschieden ist und die Minderheit entschieden ist, dann regiert die Minderheit.
Dietrich: Selbst wenn es die Versuche gibt, zum Beispiel Ultraorthodoxe auch zum Militärdienst zu zwingen und sie zum Beispiel dadurch stärker in die Zivilgesellschaft oder in die Gesellschaft einzubinden?
Primor: Der Militärdienst der Ultraorthodoxen ist aus meinem Blickwinkel gesehen reiner Populismus. Die Ultraorthodoxen wollen nicht dienen und werden nicht dienen. Sie sind bereit, alle ins Gefängnis zu gehen, so viele Gefängnisse werden wir auch nie haben, wenn wir noch so viele bauen sollten. Und die Streitkräfte wollen die auch nicht haben, sie sagen, das werden keine guten Soldaten sein, das sind problematische Soldaten und wir haben keine Zeit und Energie und Geld, uns damit auseinanderzusetzen. Also ist das Populismus der Politiker, mancher Politiker, ich halte gar nichts davon.
Die in die Gesellschaft einzubinden, ja. Da muss man sich in die Erziehung der Kinder, dieser Gemeinschaften einmischen. Man muss sie zwingen, auch Mathematik zu lernen, Fremdsprachen zu lernen. Das tut man, aber schrittweise. Das kann man auch nicht mit Gewalt machen, das kann man nicht erzwingen. Aber wir sehen Ultraorthodoxe immer mehr in der Wirtschaft, in der Hochtechnologie zum Beispiel. Das ist kein Widerspruch mit der Religion.
Und dadurch wissen wir auch, was die Rabbiner eigentlich fürchten, dass viele junge Leute unter den Ultraorthodoxen sich dann von ihrer Gemeinschaft trennen. Dann sehen sie plötzlich, dass es auch eine andere Welt gibt, dass sie nicht immer nur in diesem Getto, in diesem, sagen wir, geistigen Getto leben müssen, es gibt auch andere Möglichkeiten. Und deshalb weiß ich auch nicht, demografisch, wie schnell die Ultraorthodoxen wirklich wachsen. Man weiß, wie viele Kinder sie haben, man weiß aber nicht, wie viele Kinder in ihrem Kreis bleiben. Also, die ganze Sache ist sehr unklar, es gibt keine Statistiken dazu.
Dietrich: Eine eher apathische oder auf jeden Fall wenig handlungsfähige, eher säkulare Mehrheitsgesellschaft und dann die überzeugten Religiösen auf der anderen Seite. Muss das notwendig im Konflikt enden oder sehen Sie da auch Möglichkeiten für eine positive, eine friedvollere, friedenstiftendere Entwicklung?
Primor: Das muss man ein bisschen differenziert sehen. Wenn Sie sagen, einerseits die Liberalen oder die Weltoffenen, auf der anderen Seite die Orthodoxen, so einfach ist das nicht. Die orthodoxe Gemeinschaft ist auch gespalten, in mehrere Teile. Aber im Grunde genommen zwei Haupttendenzen, sagen wir so. Es gibt die Ultraorthodoxen, die nicht unbedingt nationalistisch sind. Die sind keine Siedler, die sind keine Fanatiker, die sind sehr weitgehend in Sachen Religion, das schon, da sind sie ultra-ultra-ultrakonservativ, aber die sind nicht die Siedler, die sind nicht diejenigen, die Hetze auf dem Tempelberg führen und solche Sachen.
Und dann gibt es die Orthodoxen, die auch Nationalisten sind, die Nationalreligiösen, so nennen sie sich. Und die sind diejenigen, die hetzen, die Siedlungen bauen, die den Frieden verändern wollen, weil sie die Gebiete annektieren wollen und so weiter. Das sind zwei verschiedene Tendenzen. Die Ultraorthodoxen, mit denen kann man sehr gut in Frieden leben. Okay, wir haben grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten, aber man lässt jeweils den anderen leben, wie er will, das muss nicht zum Konflikt führen, wird auch nicht zum Konflikt führen.
Mit den Nationalreligiösen, das hängt davon ab, wie wir die Verhandlungen mit den Palästinensern führen. Wenn wir eine Vereinbarung mit den Palästinensern finden, dann wird sich die ganze Lage ändern. Nehmen Sie als Beispiel den Gazastreifen, dort gab es Siedlungen und Ariel Scharon, der damalige Ministerpräsident, sagte mehrfach, ganz offen: Jede Siedlung im Gazastreifen ist so wichtig für Israel wie Tel Aviv, die größte Stadt. Nicht weniger, jede einzelne Siedlung. Er selber hat diese Siedlungen geräumt, er, kein anderer.
Und seitdem er diese Siedlungen geräumt hat, gibt es keinen einzigen Menschen in Israel, der von Siedlungen im Gazastreifen spricht, das ist vorbei, fertig, kein Thema mehr. Damals sagte man, Siedlungen in Gaza zu räumen, würde zu einem Bürgerkrieg führen. Und heute hat man vergessen, dass es überhaupt mal dort Siedlungen gab, und es gibt niemanden, der es anstrebt, dort wieder Siedlungen zu bauen. Alle diese Sachen, die sind heute so und morgen anders, hängt davon ab, wie die Politik sich entwickelt. Ich wiederhole: Das Problem ist politisch und nicht religiös.
Dietrich: Avi Primor, langjähriger israelischer Botschafter in Deutschland und engagiert für die schwierige Suche nach Frieden, nicht nur im Heiligen Land.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.