Avignon leuchtet

Von Ulrich Fischer · 14.07.2013
Das Festival d’Avignon ist das größte Sommerfestival Frankreichs, es gilt als tonangebend in Europa und hat weltweite Ausstrahlung. Ulrich Fischer zieht eine Zwischenbilanz - und berichtet von zwei bemerkenswerten Inszenierungen.
Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen (Artists in Residence in Bremen) sind mit gleich drei ihrer Produktionen nach Avignon eingeladen worden – eine gute Möglichkeit, die Arbeiten gründlich kennenzulernen. Es lohnte sich.

"Logobi 05" nimmt Bezug auf einen afrikanischen Tanz, der an der Elfenbeinküste kürzlich Hochkonjunktur hatte. Monika Gintersdorfer hat Kontakte zu Künstlern aus der Gegend geknüpft, einige leben in Europa, in Paris und Berlin. In "Logobi 05" wird ein alter Streit wieder aufgenommen, den Theaterleute seit den alten Griechen in jeder Generation immer wieder neu führen. Wer hat die bessere Kunst: Die klassische Schule oder das Volkstheater?

Zwei Tänzer stehen auf der Bühne, Franck Edmond Yao, der sich den Künstlernamen Gadoukou la Star gegeben hat, sieht aus wie Hektor in seinen besten Zeiten (wenn er von der Elfenbeinküste gekommen wäre), mehr ein Kraftpaket als ein schöner Mann. Sein Partner, Richard Siegal, erinnert an einen fitten Finanzbeamten. Die beiden diskutieren, welche Wirkung Tanz haben sollte, und sie tanzen auch – da wird die Überlegenheit des Afrikaners sofort deutlich: Er bewegt sich mit einer Geschmeidigkeit, die alle Erwartung weit hinter sich lässt.

Nachdem schon mal klar ist, dass die Akademiker einpacken können, kommt "La Fin du Western" ("Das Ende des Western"), eine Folge von Kabarettnummern über die letzte Wahl in der Elfenbeinküste. Der alte Präsident behauptete, er habe die Wahl gewonnen, sein Gegenkandidat auch. Es gab daraufhin leidenschaftliche Rededuelle, mehr Schimpfkanonade als Austausch von Argumenten.

Eine der tänzerischen Szenen brachte den Konflikt auf den Punkt: Die beiden Präsidenten standen sich vis-à-vis gegenüber, gingen in die Knie, beugten die Oberkörper, beide legten die Stirnen gegeneinander und begannen zu pressen – der Stärkere hatte zwar gewonnen, war aber noch lange nicht Präsident. Die Witze waren abseits aller Subtilität, der Holzhammer flog durch den Raum, getragen von einem wilden Anarchismus; dagegen wirken Dario Fos Farcen gemäßigt.

Gadoukou la Star spielte mit und fügte sich ins Ensemble, im nächsten Stück konnte er beweisen, dass er wirklich ein Star ist. Die Szenen heißen "La Jet Set" und berichten über das Pariser Nachtleben, in dem sich arme junge Afrikaner produzieren, als wären sie reich, sie nennen ihren Club "Jet Set". Das ist urkomisch, weil sie angeben, dass sich die Balken biegen, und todtraurig, weil es ihnen in ihrer Lage nichts bringt außer wenigen Stunden einer Kompensation, die keine ist für ihre Armut, ihre Leben im Prekariat.

Hier spielt Gadoukou la Star die Hauptrolle, den Präsidenten des "Jet Set", und er tanzt, dass die Frage immer wieder unabweisbar auftaucht: Woher nimmt der Mann die Kraft? Dazu singt er – er ist ein Star, der eine Halle zum Kochen bringen könnte. Die Verschwendung der Talente wird angeprangert – und all das bei bester Laune. Begeisterter Beifall!

Der Schein trügt

Ganz das Gegenteil, sublim, war "RE: Walden" von Jean-François Peyret, einem in Frankreich für seine Erkundungen im Feld der Philosophie bekannten Theatermann. Jetzt hat er sich "Walden" von Henry David Thoreau vorgenommen, ein noch heute einflussreiches Buch, die Geschichte, die Reflexionen, den Erfahrungsbericht Thoreaus, der zwei Jahre allein in einem Blockhaus in der Waldeinsamkeit an einem See - eben in "Walden" - lebte und dort mit seiner Hände Arbeit für seinen Unterhalt sorgte. Es geht Thoreau um die Freiheit – er fasst sie vor allem als Unabhängigkeit von anderen auf. Ein Gedanke, der jetzt noch mächtig ist in den Vereinigten Staaten.
Man muss genau lesen, Peyret nennt seinen anderthalbstündigen abgründigen Theaterabend nicht "Walden", sondern "RE: Walden", RE wie die Abkürzung in einer E-Mail, die man als Antwort bekommt. Peyret schreibt also gewissermaßen eine Antwort auf Walden. Mit dem Computer.

Der Blick auf die Bühne wird von Laptops beeinträchtigt, fünf nebeneinander auf Tischen, davor wuseln, tippen Nerds. Auf der Bühne treten vier Schauspieler auf – die ersten drei bemühen sich um das Verständnis des Textes. Das ist diffizil, er ist auf Amerikanisch geschrieben und ihn zu übersetzen ist alles andere als einfach. Ihre Versuche werden in die Computer getippt und an die Rückwand projiziert.

Da bricht der Text zusammen, ein einziger Farbbrei, vor allem grün. Peyret zeigt eine Dekonstruktion, die an Deutlichkeit und Virtuosität nichts zu wünschen übrig lässt. Die Erkenntnisse, die er produziert, sind vor allem paradoxal: Je weiter man sich einem Text nähern will, desto mehr entfernt man sich. Die neuen Hilfsmittel der Verständigung, die Computer mit ihren avancierten Programmen, tragen nichts zur Klärung bei, sondern verschlimmern nur noch die allgemeine Konfusion.

Und was bedeutet das für den Begriff der Freiheit? Heute? Peyret hält eine überzeugende Antwort bereit. Einer der jungen Männer am Computer steht auf, verlässt seinen Arbeitsplatz und nimmt eine Angel mit. Er geht ganz gewiss in den Wald, baut eine Blockhütte, fängt Fische und sucht die Freiheit, die ihm als Sklave seines Computers verloren gegangen zu sein scheint.

Wir sind am Anfang wieder angekommen, bei Thoreau. Und können von neuem beginnen. Ein Kreis. Die Wiederkehr des Immergleichen. Kein Fortschritt, nirgends.

Elan

So unterschiedlich die beiden Inszenierungen sind, sie beschwören beide die gleiche geistige Energie, die das ganze Festival trägt. Man kann sie mit einem Wort bezeichnen, das wir aus dem Französischen entlehnt haben: Elan. Es ist vielleicht kein Zufall, dass gerade dieses Festival so exzellent wirkt, besser als so viele andere in Vorjahren. Es ist das letzte Festival, das Hortense Archambault und Vincent Baudriller leiten. In den zehn Jahren ihrer Amtszeit haben Sie das Festival weit nach Europa hin geöffnet, vielen Künstlern ein Podium geboten, die dieses Jahr wieder nach Avignon gekommen sind, um sich zu verabschieden. Das Niveau ist begeisternd.

Ihr Nachfolger ist ein Mann des französischen Volkstheaters, Olivier Py. Hortense Archambault und Vincent Baudriller haben ihm die Schwelle hoch gelegt. Verdammt hoch!
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