Avni Doshi: "Bitterer Zucker"
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Von der Mutter im Ashram vernachlässigt
05:58 Minuten
Avni Doshi
Übersetzt von Frauke Brodd
Bitterer Zuckerbtb, München 2021352 Seiten
12,00 Euro
Tara hasst ihre Mutter und kommt doch nicht von ihr los. Avni Doshis Roman zeigt, von welchen Wunden die Beziehung der beiden gezeichnet ist. Die Autorin verarbeitet auch eigene Erfahrungen in einem spirituellen Zentrum in Indien.
Nein, dieses Buch ist nicht das richtige Geschenk für Mama zu Weihnachten. Denn schon der erste Satz des Debütromans von Avni Doshi könnte Verstimmungen, zumindest Irritation unterm Tannenbaum hervorrufen: "Zu behaupten, ich hätte mich niemals über das Leid meiner Mutter gefreut, wäre eine glatte Lüge."
Ein Anfang, der trifft wie ein Faustschlag – mitten hinein in die schmerzvolle Beziehung zwischen Ich-Erzählerin Antara und ihrer Mutter Tara, eine Hassliebe, von der dieser Roman meisterhaft erzählt. Zu Recht stand die Amerikanerin Avni Doshi, 1982 geboren als Tochter indischer Eltern, mit "Bitterer Zucker" vergangenes Jahr auf der Shortlist für den Booker Prize.
Roman voller Spiegelungen
Ihrem Buch gelingt ein erstaunlicher Kunstgriff: Als Leserin fühlt man sich von ihrer komplizierten, mitunter grausamen, immer faszinierenden Erzählerin angezogen und zugleich abgestoßen. Genauso geht es wiederum Antara mit ihrer Mutter. Solche Spiegelungen tauchen als Motiv immer wieder im Roman auf, der in der westindischen Großstadt Pune spielt: Die Wohnung, in der Antara mit ihrem Ehemann lebt, ist voller Spiegel – jeder Gast auf der Couch ist vierfach anwesend. Ihr Name reflektiert den ihrer Mutter Tara.
Und dann sind da noch die Zeichnungen, die Antara seit Jahren beschäftigen: Jeden Tag aufs Neue greift die Mittdreißigjährige Künstlerin zum Bleistift und bringt das Gesicht eines Mannes aufs Papier. Stets kopiert sie die Zeichnung vom Vortag, so dass sich mit den Monaten Abweichungen einschleichen. Ein konzeptuelles Kunstwerk, das die Presse bei der Ausstellung in einer Galerie in Bombay feiert, doch Antaras Mutter hasst es. Mit einem Nudelholz geht sie nach der Vernissage auf ihre Tochter los.
Kindheit im Ashram
Warum, findet man im letzten Drittel dieses klug konstruierten Buches heraus, das die Mutter-Tochter-Geschichte erst nach und nach enthüllt. Avni Doshi, die von Autorinnen wie Rachel Cusk und Sheila Heti inspiriert ist, erzählt nicht chronologisch, sondern taucht kapitelweise in unterschiedliche Ebenen der Vergangenheit ab. Aus der Gegenwart, in der Antaras Mutter beginnt, an Demenz zu leiden, geht es zurück – etwa in das Jahr 1981, als ihre Eltern heiraten und Tara im Haus der Schwiegermutter zu perspektivloser Langeweile verdammt ist.
Oder ins Jahr 1986, als ihre Mutter mit dem Ehemann und den gesellschaftlichen Konventionen bricht, um zusammen mit der Tochter im Ashram zu leben, einem spirituellen Zentrum in Pune, das nach ganz anderen Regeln funktioniert als die Außenwelt der indischen Großstadt. Die kleine Antara wird dort über Jahre vernachlässigt, während ihre Mutter die Geliebte des Gurus wird.
Verarbeitung eigener Erfahrungen
Den starken Szenen, in denen sich westliche Aussteigerinnen und indische Gläubige – alle in Weiß gekleidet – in Ekstase meditieren, merkt man an, dass Avni Doshi so einen Ort aus eigener Erfahrung kennt: Die Familie ihrer Mutter kommt aus Pune und hatte enge Verbindungen zum umstrittenen Osho-Ashram, der 2018 durch die Netflix-Doku-Serie “Wild Wild Country” bekannt wurde.
Wichtiger für den Roman als der Schauplatz ist aber die eigenwillige Erzählstimme von Antara: ihre scharfen Beobachtungen, ihr bitterer Humor, den Übersetzerin Frauke Brodd in treffende, kantige deutsche Sätze übertragen hat.
Dialoge, die Wunden reißen
Die Dialoge zwischen Mutter und Tochter reißen Wunden, denen man beim Lesen ganz nah kommt, so wie den vielen Gerüchen, die Avni Doshi beschreibt.
Da sind in Öl brutzelnde Kreuzkümmelsamen, nach eingetrockneter Muttermilch stinkende T-Shirts – und die großen Fragen, die dieses verstörende und packende Buch aufwirft: Wer sind wir, wenn unsere Erinnerungen schwinden? Wie egoistisch darf eine Mutter sein? Und: Kann man sein Kind hassen und lieben zugleich?