Für die Frauen und die Armen
07:43 Minuten
Die Sozialdemokratin Marie Juchacz war eine von wenigen Frauen in der Weimarer Nationalversammlung, wo sie vehement für Frauenrechte kämpfte. Nach dem Ersten Weltkrieg gründete sie die Arbeiterwohlfahrt. Vor den Nazis musste sie fliehen.
"Meine Herren und Damen. Wenn ich als Frau zu ihnen spreche, so hoffe ich doch, dass recht viele Männer auf meine Worte achten werden."
Marie Juchacz, 1928, SPD-Reichstagsabgeordnete, Parlamentarierin der ersten Stunde in der Weimarer Republik.
"Marie Juchacz ist aus unterschiedlichen Gründen eine doch sehr bemerkenswerte Frau gewesen."
Potsdam. Sabine Hering holt einen Packen Dokumente aus dem Bücherregal. Sie hat als Professorin zur Geschichte der Wohlfahrt und der Frauenbewegung geforscht. Themen, die sie bis ins Rentenalter hinein beschäftigen. Einen Artikel hat die 70-Jährige aus der Zeitung ausgeschnitten, fein säuberlich zusammengefaltet.
Marie Juchacz, 1928, SPD-Reichstagsabgeordnete, Parlamentarierin der ersten Stunde in der Weimarer Republik.
"Marie Juchacz ist aus unterschiedlichen Gründen eine doch sehr bemerkenswerte Frau gewesen."
Potsdam. Sabine Hering holt einen Packen Dokumente aus dem Bücherregal. Sie hat als Professorin zur Geschichte der Wohlfahrt und der Frauenbewegung geforscht. Themen, die sie bis ins Rentenalter hinein beschäftigen. Einen Artikel hat die 70-Jährige aus der Zeitung ausgeschnitten, fein säuberlich zusammengefaltet.
Der berühmte erste Auftritt
"Das ist sozusagen ihr berühmter erster Auftritt. Der gern zitierte und auch zu Recht zitierte."
Die Dokumente, die Sabine Hering gesammelt hat, handeln alle von einer Frau: Marie Juchacz.
Im Februar 1919 – der parlamentarischen Stunde Null der Weimarer Republik – hält Marie Juchacz eine historische Rede.
"Meine Herren und Damen", beginnt sie und erntet Gelächter. Sie sagt:
"Es ist das erste Mal, dass in Deutschland die Frau als Freie und Gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf."
Kurz vorher durften Frauen zum ersten Mal in der Geschichte wählen. Und gewählt werden.
"Das finde ich auch wichtig, dass Marie Juchacz in ihrer ersten Rede dann sagt: Nun haben wir keinem außer uns selber dafür zu danken. Es ist keine milde Gabe von irgendeiner Seite, es ist kein Respekt vor unserer Arbeit dagewesen."
Marie Juchacz ist bei ihrer Rede 40 Jahre alt. Als eine von gerade einmal 37 Frauen bei über 420 Abgeordneten sitzt sie in der Nationalversammlung.
"Anfang 1906 gingen meine Schwester Elisabeth und ich nach Berlin. Unser Ziel war, dort wirtschaftlich Fuß zu fassen. Wir gingen ohne Illusionen, wir hatten beide die Sorge für meine zwei Kinder und wussten, dass es schwer sein würde. Wir wollten einen Weg finden, um uns der sozialistischen Bewegung anschließen zu können."
Das schreibt Marie Juchacz in einer Autobiografie. Sie hat nie eine weiterführende Schule besucht, keinen Hochschulabschluss erlangt. Sie ist eine geschiedene Frau im Deutschen Kaiserreich. Alleinerziehend für zwei Kinder verantwortlich. Lebt mit ihrer Schwester zusammen.
Hering: "Das war nicht einfach, weil bis Marie tatsächlich ihr erstes politisches Amt hatte, als Frauenreferentin der Sozialdemokratischen Partei, hat die tatsächlich ehrenamtliche Arbeit gemacht. Sie musste im Prinzip nachts arbeiten und tagsüber ihre politische Arbeit machen."
Die Dokumente, die Sabine Hering gesammelt hat, handeln alle von einer Frau: Marie Juchacz.
Im Februar 1919 – der parlamentarischen Stunde Null der Weimarer Republik – hält Marie Juchacz eine historische Rede.
"Meine Herren und Damen", beginnt sie und erntet Gelächter. Sie sagt:
"Es ist das erste Mal, dass in Deutschland die Frau als Freie und Gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf."
Kurz vorher durften Frauen zum ersten Mal in der Geschichte wählen. Und gewählt werden.
"Das finde ich auch wichtig, dass Marie Juchacz in ihrer ersten Rede dann sagt: Nun haben wir keinem außer uns selber dafür zu danken. Es ist keine milde Gabe von irgendeiner Seite, es ist kein Respekt vor unserer Arbeit dagewesen."
Marie Juchacz ist bei ihrer Rede 40 Jahre alt. Als eine von gerade einmal 37 Frauen bei über 420 Abgeordneten sitzt sie in der Nationalversammlung.
"Anfang 1906 gingen meine Schwester Elisabeth und ich nach Berlin. Unser Ziel war, dort wirtschaftlich Fuß zu fassen. Wir gingen ohne Illusionen, wir hatten beide die Sorge für meine zwei Kinder und wussten, dass es schwer sein würde. Wir wollten einen Weg finden, um uns der sozialistischen Bewegung anschließen zu können."
Das schreibt Marie Juchacz in einer Autobiografie. Sie hat nie eine weiterführende Schule besucht, keinen Hochschulabschluss erlangt. Sie ist eine geschiedene Frau im Deutschen Kaiserreich. Alleinerziehend für zwei Kinder verantwortlich. Lebt mit ihrer Schwester zusammen.
Hering: "Das war nicht einfach, weil bis Marie tatsächlich ihr erstes politisches Amt hatte, als Frauenreferentin der Sozialdemokratischen Partei, hat die tatsächlich ehrenamtliche Arbeit gemacht. Sie musste im Prinzip nachts arbeiten und tagsüber ihre politische Arbeit machen."
Frau, Politikerin, Ausnahmeerscheinung
Eine Frau aus der Arbeiterklasse in der Politik: eine Ausnahmeerscheinung in der damaligen Zeit. Nach dem Ersten Weltkrieg kommen die Sozialdemokraten 1919 zum ersten Mal an die Macht. Das Deutsche Reich liegt am Boden. Millionen sind im Krieg gestorben. Die Wirtschaft steckt in einer schweren Krise.
Marie Juchacz: "Es kann nicht oft genug gesagt werden. Die Entwicklung stellt an den modernen Staat große soziale Anforderungen. Dieser Staat aber sind wir selbst. Demokratie ist Volksherrschaft – ist sie nicht auch Selbsthilfe?"
In der Regierung muss die SPD plötzlich soziale Fragen lösen, deren Antwort für sie bis dahin immer Revolution hieß, Umsturz meinte.
Hering: "Die AWO und damit Marie hatte diese schwierige Aufgabe, diesen Spagat zu machen. Die müssen plötzlich innerhalb eines Systems als ein Wohlfahrtsverband agieren, den sie bisher immer bekämpft haben."
Juchacz wird von der SPD beauftragt, eine eigene Wohlfahrtspflege zu gründen: die Arbeiterwohlfahrt AWO.
Hering: "Und das hat sie tatsächlich geschafft. Die Frage aufzugreifen, wenn wir jetzt als Sozialdemokratie einen Wohlfahrtsverband gründen, der neben diesen konfessionellen anderen Verbänden steht: Wie machen wir denn das? Machen wir eine ganz andere soziale Praxis? Oder verkaufen wir das nur anders? Oder wie sieht eigentlich sozialistische Wohlfahrtspflege aus?"
Marie Juchacz: "Es kann nicht oft genug gesagt werden. Die Entwicklung stellt an den modernen Staat große soziale Anforderungen. Dieser Staat aber sind wir selbst. Demokratie ist Volksherrschaft – ist sie nicht auch Selbsthilfe?"
In der Regierung muss die SPD plötzlich soziale Fragen lösen, deren Antwort für sie bis dahin immer Revolution hieß, Umsturz meinte.
Hering: "Die AWO und damit Marie hatte diese schwierige Aufgabe, diesen Spagat zu machen. Die müssen plötzlich innerhalb eines Systems als ein Wohlfahrtsverband agieren, den sie bisher immer bekämpft haben."
Juchacz wird von der SPD beauftragt, eine eigene Wohlfahrtspflege zu gründen: die Arbeiterwohlfahrt AWO.
Hering: "Und das hat sie tatsächlich geschafft. Die Frage aufzugreifen, wenn wir jetzt als Sozialdemokratie einen Wohlfahrtsverband gründen, der neben diesen konfessionellen anderen Verbänden steht: Wie machen wir denn das? Machen wir eine ganz andere soziale Praxis? Oder verkaufen wir das nur anders? Oder wie sieht eigentlich sozialistische Wohlfahrtspflege aus?"
Höhepunkt der politischen Karriere
Die AWO wird bald Notstandsküchen und Werkstätten unterhalten. An einer eigenen Wohlfahrtsschule ausbilden. Innerhalb weniger Jahre über 130.000 ehrenamtliche Mitglieder zählen. Über 1400 Beratungsstellen haben. Es ist der Höhepunkt in der politischen Karriere von Marie Juchacz. Dann kommt Hitler an die Macht.
Landesarchiv Berlin. Hier lagern in Zimmern ohne Fenster, hinter schweren Türen über 50 Kilometer Akten. Die Archivarin Susanne Knoblich nennt ihren Arbeitsplatz liebevoll "Schatzkammer".
Landesarchiv Berlin. Hier lagern in Zimmern ohne Fenster, hinter schweren Türen über 50 Kilometer Akten. Die Archivarin Susanne Knoblich nennt ihren Arbeitsplatz liebevoll "Schatzkammer".
"Und in alter parteigenössischer … parteigenössischer Verbundenheit … Herzlichst Eure Marie. Es ist einiges an Korrespondenz mit ihr."
Als Hitler an die Macht kommt, wird die Arbeiterwohlfahrt verboten. Die 60-jährige Marie Juchacz flieht in die USA. Ohne ihre Schwester, die ihr wichtigste Person. Aus dem Exil schreibt Juchacz Briefe, die jeder heute im Landesarchiv Berlin lesen kann.
"Nicht als Lustwandelnder bin ich durch die Welt gegangen, sondern als heimatlose Frau, deren Lebenswerk zertrümmert zu sein schien und die sich in der Welt zurecht zu finden hatte, so gut und so schlecht es ging", sagt Marie Juchacz später.
Im Exil gründet die Sozialdemokratin die Arbeiterwohlfahrt USA. Die Pakete nach Deutschland schickt. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrt Juchacz als alte Frau zurück – nach Westdeutschland. Sie wird Ehrenvorsitzende der AWO, hält Reden. Die werden nie wieder so scharf wie ihre allererste vor dem deutschen Parlament.
Doch eins behält sie bei: Männer – höflich spöttisch – zuerst anzureden.
"Liebe Freunde, Genossen und Genossinnen. In diesen letzten Tagen habe ich Berlin wiedergesehen nach langer Zeit. Und ich kann ihnen nur sagen, dass es keine reine Freude gewesen ist, mein geliebtes Berlin wiederzusehen, weil diese Freude des Wiedersehens doch durchwirkt ist von all den Schmerzen, wie sie sich dokumentieren in den uns umgebenden Trümmern."
Als Hitler an die Macht kommt, wird die Arbeiterwohlfahrt verboten. Die 60-jährige Marie Juchacz flieht in die USA. Ohne ihre Schwester, die ihr wichtigste Person. Aus dem Exil schreibt Juchacz Briefe, die jeder heute im Landesarchiv Berlin lesen kann.
"Nicht als Lustwandelnder bin ich durch die Welt gegangen, sondern als heimatlose Frau, deren Lebenswerk zertrümmert zu sein schien und die sich in der Welt zurecht zu finden hatte, so gut und so schlecht es ging", sagt Marie Juchacz später.
Im Exil gründet die Sozialdemokratin die Arbeiterwohlfahrt USA. Die Pakete nach Deutschland schickt. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrt Juchacz als alte Frau zurück – nach Westdeutschland. Sie wird Ehrenvorsitzende der AWO, hält Reden. Die werden nie wieder so scharf wie ihre allererste vor dem deutschen Parlament.
Doch eins behält sie bei: Männer – höflich spöttisch – zuerst anzureden.
"Liebe Freunde, Genossen und Genossinnen. In diesen letzten Tagen habe ich Berlin wiedergesehen nach langer Zeit. Und ich kann ihnen nur sagen, dass es keine reine Freude gewesen ist, mein geliebtes Berlin wiederzusehen, weil diese Freude des Wiedersehens doch durchwirkt ist von all den Schmerzen, wie sie sich dokumentieren in den uns umgebenden Trümmern."
Marie Juchacz stirbt 1956 in Düsseldorf.