Babyboomer als Konsumenten

Nennt uns bloß nicht Senioren!

Eine Gruppe von Touristen bei einer Bootstour in Leipzig
Eine Gruppe von Touristen bei einer Bootstour in Leipzig © dpa / picture alliance / Jan Woitas
Von Johannes Zuber |
34 Millionen Konsumenten in Deutschland sind über 50, Tendenz steigend. Es sind geburtenstarke Jahrgänge, die da alt werden – eine ziemlich solvente, zuverlässig zahlende, aber keinesfalls homogene Käufergruppe. Werbeagenturen haben das erkannt.
Überall Menschen in ihren 20ern, modisch-bunt gekleidet, Coffee to go in der linken, Smartphone in der rechten Hand. So wie der morgendliche Campus der Uni Hamburg sieht die ideale Welt der Werbung aus: jung und urban. Die drei Senioren, die am Rand des Uni-Geländes um elf Uhr das Abaton-Kino betreten, passen irgendwie nicht so richtig rein in dieses Bild. Aber sie sind da. Und sie werden in Zukunft immer mehr.
Das ist die Geschichte über eine Gruppe, die keine ist. Die dutzende Namen trägt – und auf keinen davon hört. Die Wirtschaft und Gesellschaft so sehr prägen wird, wie keine andere. Und die von Industrie und Werbung trotzdem lange Zeit vernachlässigt wurde.
"Guten Morgen. Hallo Herr Knigge, Morgen Frau Breuer, ich grüße Sie. Guten Morgen..."
Die drei Senioren, zwei Damen und ein Herr sitzen inzwischen im Café des Abaton-Kinos an einem runden Tisch. Die drei sind heute Produkt-Tester, eingeladen von Mathias Knigge, Jahrgang 1970, zwei Meter groß, schlaksig. Aus seiner Tasche kramt er mehrere iPods, Kopfhörer, originalverpacktes Hörgeräte-Zubehör und breitet die Geräte auf dem Tisch aus:
"Es ist fast wie im Laden heute: Ganz viele ..."
Fides Breuer: "Zum Ausprobieren, das ist in Ordnung..."
Mathias Knigge: "Wir haben nochmal ganz viel mit zum Ausprobieren. Und das Schöne ist, da wir ja alleine für uns einen Kino-Raum haben, können wir auch durchaus uns dann austauschen, dazwischen ausprobieren, was funktioniert, was funktioniert nicht..."
Fides Breuer: "Das ist toll..."
Mathias Knigge hat vor über zehn Jahren das Büro Grauwert in Hamburg gegründet. Er berät Unternehmen, wie sie ihre Produkte demografiefest machen können, wie er es nennt. Also: Wie Menschen mit Beeinträchtigungen Alltagsprodukte nutzen können. Er hat schon Sanitär-Firmen beraten, Gartengeräte-Hersteller, Reiseveranstalter. Und jetzt den Mikrofon- und Kopfhörer-Hersteller Sennheiser. Der hat eine App entwickelt, die Hör- und Sehbeeinträchtigten ermöglichen soll, ganz normal ins Kino zu gehen. Ob das klappt, testet Mathias Knigge heute mit seinen drei Testern. Die drei setzen sich nebeneinander in den leeren Kinosaal und verbinden ihre Hörgeräte über Kabel mit Mathias Knigges iPods.
Fides Breuer: "Ich habe nicht verstanden, welcher Film das ist."
Mathias Knigge: "Elser."
Fides Breuer: "Ach kenn' ich nicht. Ist das ein deutscher Film?"
Mathias Knigge: "Ist ein deutscher Film."
Fides Breuer: "Ohne Untertitel?"
Mathias Knigge: "Ohne Untertitel."
Fides Breuer: "Ja das ist doch gut."
Der Film über den gescheiterten Hitler-Attentäter Georg Elser startet. Über ihre iPods können die Testpersonen das Sprachsignal des Films verstärken, ohne dass auch die Nebengeräusche lauter werden. Für Menschen mit Sehbehinderung gibt es alternativ die so genannte Audio-Deskription. Hier erklärt eine Stimme, was gerade auf der Leinwand passiert.
Off-Text: Elser zieht eine Kneifzange aus seinem Mantel...
"Hallo?!"
Off-Text: ...und dreht sich um
"Wo wellet se na?"
Off-Text: Zwei Grenzsoldaten mit Gewehren.
"Ich suche einen alten Bekannten."
Das Kino sendet diese Audio-Deskription genau wie die Hörunterstützung per W-Lan in seine Säle. Über die Sennheiser-App "Cinema Connect" können die Besucher sie empfangen. Eine der Testerinnen probiert die App heute schon zum zweiten Mal aus. Das erste Mal war sie auf eigenen Faust ins Kino gegangen.
Breuer: "Ich hatte also das ja gelesen, dass es diese Neueinrichtung gibt und bin dann also für mich selber, weil ich gerne ins Kino gehe und schlecht höre dann gleich reingegangen und wollte das ausprobieren, weil ich schon ein Smartphone hatte."
Fides Breuer, 72 Jahre alt, elegant gekleidet, ihr Hörgerät geschickt unter den dunkel gefärbten Locken versteckt:
"So, und dann hatte ich mir die App runtergeladen und bin dann da rein und habe mir diese kleinen Kopfhörer irgendwo hingesetzt. Und zwar muss man die – weil man ja schon etwas im Ohr hat – dahinter setzen und dann muss man den richtigen Punkt finden, wo man auch noch Tonübertragung dann hat. Dann sitzt man also so da, dann funktioniert irgendwas nicht, dann verrutscht das."
Genau um solche Probleme in der alltäglichen Anwendung zu vermeiden, probiert Mathias Knigge die App nicht nur selbst aus – er bittet die späteren Anwender zum Test. Bei Fides Breuer und den anderen Testern klappt das heute schon ziemlich gut:
"Absolut! Also ich hatte ja wie gesagt die App hier schon drauf und ich könnte jetzt zuhause losgehen und könnte hier ab morgen wunderbar alles verstehen."
Produkte wie die App "Cinema Connect" gehören zu einer neuen Kategorie von Waren. Ihre Zielgruppe sind natürlich ältere Menschen mit Seh- und Hörbeeinträchtigungen. Aber sie funktioniert genauso für Junge. Der Vorteil: Dadurch, dass sie auf normalen Smartphones läuft, muss sich niemand outen, indem er ein spezielles Gerät aus der Tasche zieht.
Denn damit hat der Berater Mathias Knigge schlechte Erfahrungen gemacht:
"Wir hatten bei Untersuchungen fürs Rote Kreuz zum Beispiel erlebt, dass Seniorenhandys einfach daran scheitern, dass das der Inbegriff dann eigentlich des Altseins und des Nicht-mehr-Könnens ist. Die Probanden und Interviewpartner, mit denen wir gesprochen haben, haben dann berichtet: Sie wollen doch nicht zeigen, wie alt sie sind, nur weil sie das Telefon auf den Tisch legen. Und aus dieser Haltung heraus müssen wir da ganz anders mit umgehen. Es müssen Dinge sein, wo eigentlich der Enkel neidisch wird."
Ein gutes Beispiel für generationenübergreifende Produkte sind Smartphones und Tablet-Computer. Denn eine einfache, intuitive Bedienung erleichtert allen Generationen die Handhabung – egal ob Autos, Waschmaschinen, Heckenscheren, Küchengeräte oder Internetseiten.
"Wir erleben auf einmal, dass Geräte, die einfach und elegant funktionieren, dann durchaus auch genutzt werden, um zu zeigen: Ich bin noch dabei, ich gehöre noch dazu. Und auf so einer Ebene glaube ich wird in Zukunft stattfinden, dass Alter sich neu definiert."
Und darauf müssen sich alle Wirtschaftszweige einstellen, sagt Mathias Knigge:
"Und jeder Anbieter, jeder Hersteller von Produkten, Dienstleister, Touristiker muss sich die Frage stellen: Wird auch noch morgen mein Kunde weiter mein Kunde bleiben können oder wird aufgrund des Alters vielleicht etwas nicht ganz so leicht sein oder etwas nicht zugänglich sein und spätestens dann gilt es natürlich, Barrieren zu entfernen."
Mathias Knigges Job ist es, den Unternehmen dabei zu helfen:
"Genau, ich berate Unternehmen eigentlich auf dem Weg dahin, Lösungen zu schaffen, die auch im Alter gut funktionieren. Und mir ist es besonders wichtig, die Unternehmen mitzunehmen, dass sie weiterhin gute, attraktive Produkte entwickeln, die am Markt bestehen können – nicht nur, weil sie für eine bestimmte Zielgruppe funktionieren, sondern von allen Menschen als komfortabel und vorteilhaft empfunden werden."
Die Unternehmen handeln dabei nicht aus Nächstenliebe – sie wittern ein großes Geschäft. Vor allem mit der Generation der Babyboomer, also den geburtenstarken Jahrgängen von Mitte der 50er bis Mitte der 60er Jahre. Der zahlenmäßig größte Jahrgang Deutschlands ist letztes Jahr 50 geworden. Neben ihrer großen Anzahl bieten diese Jahrgänge vor allem eines: Sie sind solvent. Der Schufa-Score, der Auskunft über die Kreditwürdigkeit gibt, wird mit zunehmendem Alter immer besser und erreicht seinen Höhepunkt bei rund 50 Jahren. Der durchschnittliche Käufer eines Neuwagens ist inzwischen 53 Jahre alt.
Was sagt der Werbefachmann?
"Mittlerweile sind die über 50-Jährigen mehr als 30 Prozent der Bevölkerung, wenn ich richtig informiert bin, und in 2050 werden mehr als die Hälfte der Bevölkerung über 50 sein und auf die 60 zugehen. Und insofern muss sich die Werbung anpassen, insofern müssen sich die Werbetreibenden anpassen. Und insofern machen wir auch Kommunikation für die immer größer werdende und übrigens auch immer reicher werdende Zielgruppe."
Dickjahn Poppema, Anfang 50, ist Chef der Düsseldorfer Werbeagentur Grey:
"Also die Einkommenssituation bei den über 50-Jährigen ist so interessant und so lukrativ für die Werbetreibenden, dass sie diese Zielgruppe definitiv nicht vernachlässigen können."
Kirschmeier: "Der Punkt ist, dass diese Generation den Krieg nicht mehr miterlebt hat, dass sie in die Wirtschaftswunderzeit hineingeboren wurde..."
Thomas Kirschmeier, 49, vom Marktforschungs-Institut Rheingold in Köln.
"... und diesen Sparzwang oder dieses Bedürfnis zu sparen der Generation davor, also der Generation ihrer eigenen Eltern, nicht mehr hat. Diese Generation der heute 50-Jährigen lebt durchaus im Hier und Jetzt und sagt sich auch: Ja, ich habe jetzt vielleicht die finanziellen Möglichkeiten, also warum soll ich sie nicht nutzen."
Davon profitieren vor allem bestimmte Wirtschaftszweige.
Kirschmeier: "Von den Branchen her sind es natürlich vor allen Dingen die Konsumgüter-Branchen, also auch eher wertige, etwas hochwertigere Produkte: Denken Sie an Autos, denken Sie an Schmuck, denken Sie an Möbel et cetera. Gerade die Generation ist auch die, die jetzt nochmal eher sagt: OK, jetzt hole ich mir nochmal ein neues Wohnzimmer, jetzt hole ich mir nochmal eine neue Küche, weil dann habe ich noch 20, 25, vielleicht 30 Jahre da drin, das lohnt sich. Und dann ein ganz großes wirtschaftliches Feld: Reisen, Touristik, alles, was damit zu tun hat."
In der Werbung tauchen Menschen über 50 allerdings nur selten auf. Produkte für diese Generation, das hieß lange Zeit: Gehhilfen, Schmerzmittel, Inkontinenzschutz. In der Werbung, zum Beispiel im öffentlich-rechtlichen Vorabend-Programm, tauchten ältere Menschen eigentlich nur als gebrechliche, hilfebedürftige Senioren auf, angewiesen auf Schmerzsalben, Treppenlifte, Abführmittel. Normale Alltagsprodukte, Autos, Lebensmittel, wurden von jungen, fitten Menschen beworben.
Poppema: "Da kann ich ja auch aus meinem eigenen Nähkästchen plaudern: Ich war früher Marketing-Mann für Jakobs Krönung und die Zielgruppe der Jakobs Krönung damals war 29 bis 49 und quasi ab 50 war man uralt. Ich spreche jetzt aber davon, das ist ungefähr 25 Jahre her, da war ich selbst 27, da erschien mir das auch uralt."
Heute kommandiert Dickjahn Poppema als Chef der Werbeagentur Grey ein Heer aus größtenteils jungen Kreativen.
"Ja, die Werbebranche ist eine sehr junge Branche, keine Frage."
Das ist ein Grund für die jugendliche Ausrichtung in der Werbung. Ein zweiter ist, dass Jungend als erstrebenswert gilt – sowohl für Unternehmen, die junge Kunden wollen, als auch für Kunden, die sich immer noch jung fühlen. Und ein dritter Grund: Viele Jahre lang galt das Paradigma der so genannten werberelevanten Zielgruppe. Gemeint war die Altersspanne von 14 bis 49.
Ihren Ursprung hat diese Festlegung in den USA. In den 60er Jahren wollte der Fernsehsender ABC im Kampf um Werbespots gegen die größeren Konkurrenten punkten – und behauptete einfach, die eigenen, jüngeren Zuschauer seien die optimale Zielgruppe für Werbung. Mit der Einführung des Privatfernsehens in Deutschland übernahm der ehemalige RTL-Geschäftsführer Helmut Thoma die Idee und legte die sogenannte werberelevante Zielgruppe von 14 bis 49 fest. Das war reine Willkür, wie er später in einem Interview zugab.
Ähnliche Willkür, wie sich jetzt auf die Generation 50 plus zu fokussieren.
"Ja, die Zielgruppe 50 plus ist eigentlich ein Phantom – oder ein Trugbild..."
Silke Borgstedt, Jahrgang 1975, vom Sozialforschungsinstitut Sinus.
"... also sie ist genauso wenig eine Zielgruppe fürs Marketing wie die sogenannte medienrelevante Zielgruppe, das ist ja auch genauso eine Chimäre, das heißt, das ist also eine riesige Altersspanne – 50 plus sagt ja auch noch nichts darüber, wo das eigentlich oben abgeschnitten wird; ist das dann 50 bis 80 oder 50 bis 60? Das heißt also, „50 plus" hilft erstmal jemandem im Marketing nicht, etwas für diese Gruppe herzustellen."
Silke Borgstedt hat eine Abneigung gegen Begriffe, die zwar in den Medien gerne verwendet werden, in der Praxis aber keinen Nutzen haben.
"Also bei den über 50-Jährigen sind ja Begriffe beliebt wie Best-Ager – das bedeutet also, ich möchte diese Gruppe besonders attraktiv machen für den Werbemarkt. Oder solche Dinge wie Silver Generation; das heißt also, ich möchte sie irgendwie anhand ihres möglichen äußeren Erscheinungsbildes irgendwie eingruppieren. Aber was hilft mir das dann letztlich eigentlich, wenn ich für diese Menschen ein Angebot erstellen möchte oder irgendwie verstehen möchte, wie ich auf Probleme oder Wünsche dieser Menschen reagieren kann."
Zielgruppen lassen sich immer schwieriger anhand des reinen Alters bestimmen. 20-Jährige gründen Firmen, 40-Jährige gehen noch einmal studieren, 60-Jährige bauen ein Haus – Lebensläufe haben sich stark individualisiert:
"Das war früher durchaus anders. Da gab es ganz klare Altersphasen, die mit bestimmten Aktivitäten oder, ja, Gründungsphasen zum Beispiel verbunden waren, und das hat eben zur Folge, dass ich eben nicht voraussagen kann, wer diese Person eigentlich genau ist, wenn ich das Alter kenne."
Das Sinus-Institut unterscheidet Zielgruppen deshalb nicht anhand des Alters, sondern anhand von Einstellungen, Lebensauffassungen und alltäglichen Handlungsmustern. Heraus kommen dabei verschiedene Milieus.
"Da sehen wir also sehr deutlich, dass sich diese Generationen der über 50-Jährigen tatsächlich auch komplett über die Milieus in Deutschland verteilen. Sie haben natürlich weniger Hedonisten, sage ich mal so, über 70 Jahre..."
Also eine spaß- und erlebnisorientierte Schicht die sich Konventionen verweigert.
"Aber es ist also nicht so, dass jetzt alle mit 70 plötzlich irgendwelche Kleingärtenvereinen beitreten oder sich nur noch volkstümliche Musik anhören."
Die klassischen Senioren-Milieus
Aber natürlich gibt es sie noch, die typischen Senioren. Sie finden sich in der bürgerlichen Mitte mit ihrem Wunsch nach gesicherten und harmonischen Verhältnissen und im traditionellen Milieu der Sicherheit und Ordnung liebenden Kriegs- und Nachkriegsgeneration.
"Das sind schon die klassischen Senioren-Milieus, aber das sind auch jeweils nur circa 15 Prozent, die das ausmacht, das heißt da habe ich also noch nicht mal ein Drittel abgedeckt. Einen weiteren Schwerpunkt haben wir natürlich auch im konservativ-etablierten Milieu."
Also dem klassischen Establishment mit seinem Standesbewusstsein.
"Aber das ist tatsächlich im Vergleich zur Gesamtbevölkerung nur ein geringer Unterschied. Also wir haben zum Beispiel im liberal-intellektuellen und sozial-ökologischen Milieu kaum Abweichungen..."
Also in der aufgeklärten Bildungselite und der konsumkritischen Mittelschicht.
"...da haben wir genauso viele 70-Jährige wie eben auch Jüngere."
Und natürlich sind nicht alle Milieus gleichermaßen interessant für die Werbung. Wenn von den jungen Alten als Zielgruppe die Rede ist, sind meistens die Menschen über 50 gemeint, die auch das nötige Geld haben.
"Und das finden Sie natürlich eher im konservativ etablierten Milieu und auch im post-materiellen Segment, das heißt also Personen, die dem liberal-intellektuellen Milieu angehören oder auch im sozial-ökologischen Milieu. Das sind sicherlich auch Gruppen, die über entsprechendes Kapital verfügen und eben auch gerade im Alter Zeit dazu haben, sich für schöne Dinge zu interessieren oder auch zu überlegen, wie sie ihr Geld sinnvoll einsetzen."
Genau diese Gruppen sind es, die für die Werbung immer interessanter werden. Denn anders als frühere Generationen sind sie durchaus bereit, Geld auszugeben. Und das auch gerne für neue Dinge.
Poppema: "Die ältere Generation ist markentreu, ja. Aber das heißt nicht, dass sie nicht offen ist, etwas Neues zu probieren. Das Neue muss dann allerdings einen guten Grund haben, probiert zu werden. Das kann mal der Preis sein, ist aber bei der älteren Generation meistens nicht der größte Hebel. Der größte Hebel ist entweder Neugierde, tatsächlich, auch bei der älteren Generation – oder aber eine vermutete Qualität."
Das heißt aber noch lange nicht, dass die Werber wie Grey-Chef Dickjahn Poppema leichtes Spiel haben:
"Ich denke, dass die Zielgruppe über 50 anspruchsvoller ist, weil sie auch erfahrener ist. Und weil sie natürlich schon viel Bullshit gehört hat aus der Werbung und weil sie natürlich schon viele Produktenttäuschungen erlebt hat – das heißt, sie ist schon anspruchsvoller. Ich glaube, man kann dieser Generation kein X für ein U vormachen."
E-Bikes, Outdoor-Jacken, Smartphones, Gesundheitsprodukte, Hotels – die Industrie hat sich schon auf die zahlungskräftigen Kunden eingestellt. Und auch die Werbung reagiert, sagt Dickjahn Poppema.
"Es gab Ansätze für eine Agentur, die nur für ältere Menschen Kommunikation kreiert hat, es gibt Model-Agenturen, die mittlerweile auch Omas und Opas anbieten, die mehr und mehr Schauspieler haben, die in die ältere Generation hineinfallen."
Die Frage der Ansprache ist zentral. Wie soll sich die Werbung den Zielgruppen über 50 nähern? Zu jung geht natürlich nicht.
"Und das ist wichtig. Weil die ältere Generation will angesprochen werden, aber sie will nicht unbedingt angesprochen werden von sehr jungen Leuten."
Zu passiv geht auch nicht:
"Die Älteren wollen nicht als die alte, gebrechliche, vereinsamte Generation angesprochen werden."
Und hyperaktiv geht schon mal gar nicht:
"Und das ist wichtig in der Darstellung: Sie soll nicht übertrieben sein. Wir brauchen also keine Kite-Surfer oder keine Harley fahrenden Opas von über 70, sondern wir brauchen aktive, junggebliebene, am Leben aktiv teilnehmende Senioren in der Werbung."
Also: Keine jungen Erwachsenen, keine gebrechlichen Omas, keine wilden, abenteuerlustigen Opas. Also einfach normale 50-Jährige Schauspieler und Models für 50-Jährige Kunden? So einfach ist das auch wieder nicht:
"Wenn die ältere Generation angesprochen werden will, dann will sie gerne fünf, vielleicht auch zehn Jahre jünger angesprochen werden als sie sich tatsächlich fühlen. Das gefühlte Alter, das gefühlte Lebensalter ist in der Regel aber schon fünf, vielleicht aus sieben Jahre jünger als das tatsächlich biologische Lebensalter. Und insofern muss man sich darauf einstellen: Wenn man eine Zielgruppe hat von 59 plus zum Beispiel, dann kann man nicht kommen mit 35-Jährigen in der Werbung, sondern dann müssen das eher 45-Jährige oder auch 50-Jährige sein."
OK, alles klar soweit. Bleibt die Frage, wie die begehrte Zielgruppe heißen soll. Schließlich gibt es unzählige Begriffe für sie.
Generation 50 plus
Best-Ager
Generation Gold
Silver Ager
die jungen Alten
Third Ager
die neuen Alten
Golden Ager
Ältere Menschen
Woopies
über 50-Jährige
Mature Consumer
Oder einfach Senioren?
Poppema: "Na, Senioren ist ganz schwierig. Ich denke, die neuen Alten oder auch die jungen Alten, die junggebliebenen Alten ist ein Begriff, der durchaus passen könnte."
Kirschmeier: "Also der größte Fehler, den Sie machen können, ist Mitglieder in Anführungsstrichen der Generation Silver Surfer, Best-Ager, wie auch immer man sie nennt, also alles was 50, 55 plus ist; der größte Fehler dabei ist, sie auch als Senioren oder ältere Menschen anzusprechen."
Thomas Kirschmeier vom Kölner Rheingold-Institut:
"Und das Schlimmste, was sie machen können als Werbetreibende ist, diese Generation anzusprechen nach dem Motto: Naja, Sie haben jetzt noch das letzte Drittel Ihres Lebens vor sich und überanstrengen Sie sich mal nicht, und eine große Reise, das ist ja eher was für die Jüngeren. Das sind alles Dinge, die Sie auf keinen Fall tun sollten."
Vor zwei Jahren hat das Rheingold-Institut im Auftrag der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft untersucht, ob es sinnvoll ist, Lebensmittel speziell für bestimmte Altersgruppen anzubieten – insbesondere für die Generation 50, 55 plus.
Also zum Beispiel die Pizza mit dem Aufdruck „speziell für 60 plus". Oder zum Beispiel andere Lebensmittel mit speziellen Mineralien, mit speziellen Inhaltsstoffen, die meinetwegen gegen Verkalkung, gegen Osteoporose helfen."
Und das Ergebnis war ziemlich eindeutig:
"Sie wollen, dass auf dem Produkt schon drauf steht: Extra Magnesium, extra was auch immer. Aber eben nicht mit dem Hinweis: Speziell gut für alte Leute. Die älteren Menschen wissen in der Regel schon, was gut für sie ist. Das reicht, wenn dann drauf steht: Plus Vitamin so und so, plus Magnesium, Calcium, was auch immer. Aber bitte nicht noch den Button drauf haben: Speziell für Senioren oder speziell für Best-Ager geeignet."
Für den Hamburger Berater Mathias Knigge heißt das: Produkte müssen sich zwar auf bestimmte körperliche Einschränkungen ihrer Nutzer einstellen, dürfen das aber nicht in den Fokus rücken. Sie müssen in Zukunft allen Generationen zugänglich sein. Und das betrifft so gut wie alle Wirtschaftszweige:
"Das ist das Interessante eigentlich an meiner Arbeit, dass es sämtliche Branchen sind, dass es Produkte sind, an die man manchmal sofort denkt: das altengerechte Wohnen; manchmal etwas später, das sind dann vielleicht motorgetriebene Gartengeräte – aber auch die Nutzer eines Gartengerätes würden wertschätzen, wenn Dinge einfacher funktionieren. Insofern: Wir sind in allen Branchen unterwegs, sei es der Tourismus, sei es Telefone, elektronische Geräte, Internetseiten, die verbessert werden. Alle Dinge müssen sich hinterfragen: Ist dort die Nutzung auch im Alter noch möglich."
Die richtige Senioren WG online finden
Die Lobby eines Bürogebäudes in Berlin Mitte. Stylische Sitzgelegenheiten, die junge Frau am Empfang duzt die Besucher, in einem voll verglasten Raum spielen vier junge Männer Tischfußball. Eines ist klar: Hier machen junge Leute was mit Internet. Das ganz in weiß gehaltene Design wird nur von einigen blauen und orange-farbenen Elementen unterbrochen – den Farben des Wohnungsportals Immobilienscout 24. In einer Sofa-Nische im ersten Stock haben zwei junge Menschen Platz genommen: Carsten Wagner, 34, und Natascha Wegelin, 29.
Wagner: "Wir haben eigentlich vor vier Jahren angefangen, das WG-Portal WG-Suche.de zu gründen, damit gehen wir halt auf eine extrem junge Zielgruppe: Studenten, Berufseinsteiger und Azubis. Ja und während dieser vier Jahre ist immer wieder von verschiedenen Seiten die Frage an uns herangetreten worden: Warum macht ihr das eigentlich nur für Studenten, das ist doch auch super interessant für eine ältere Zielgruppe."
Ganz neu war die Idee allerdings nicht, gibt Carsten Wagner zu.
"Es gab ein paar Senioren-Portale, nur die haben uns überhaupt nicht angesprochen. Die sahen halt, ja, sehr sehr altbacken aus. Und wir sind jetzt gefühlt eine Generation, wir wissen irgendwie, was angesagt ist, wie ein modernes Portal aussehen kann und wir sind der Meinung, dass auch Senioren ein Recht darauf haben, mit einem modernen Portal umzugehen. Und da haben wir auch schon viel gutes Feedback bekommen."
Seit Anfang Juli ist die Seite Senioren-WG-finden.de jetzt online. Aber getan hat sich noch nicht allzu viel.
Wegelin: "Also du hast wahrscheinlich gesehen, dass es noch nicht so viele Inserate gibt. Aber wir sehen schon, dass sich viele Nutzer auch registrieren, sie gucken einfach mal ein bisschen rum, wir haben schon durchaus ein paar Views und auch recht gute Klickraten auf dem Portal. Und erhoffen jetzt uns natürlich, dass das in den nächsten Wochen und Monaten ein bisschen wächst."
Der Name „Senioren-WG-finden" ist für Casten Wagner dabei kein Hindernis:
"Ich glaube, das wird sich noch zeigen, aber ich finde das gar nicht so negativ. Ich glaube, das habe ich ja vorhin schon mal versucht zu sagen, dass man immer glaubt, Senior ist gleich irgendwie altbacken. Und ich habe auch so ein bisschen das Gefühl, dass sich das gerade so ein bisschen wendet. Wir haben den Namen natürlich genommen, weil wir auf einen Blick klar machen wollen, worum es bei uns geht. Das ist uns glaube ich mit dem Namen gelungen."
Das neue Portal unterscheidet sich aber nicht nur im Namen von bisherigen, eher jünger ausgerichteten Seiten.
Wegelin: "Das ergibt sich natürlich schon aus der Zielgruppe an sich, es ist reiner Fokus auf die ältere Generation, es ist von der kompletten Aufmache her wirklich eben auf, sagen wir mal, 55 plus ausgelegt. Wenn man das jetzt mit WG-Suche vergleicht oder auch WG-gesucht, sieht es erstens komplett anders aus, zweitens ist die Sprache auch ganz anders, damit sich eben diese Zielgruppe halt darauf besonders wohlfühlt."
Die Nachfrage nach Wohngemeinschaften sei bei über 50-Jährigen nämlich durchaus vorhanden. Gerade in Städten wie Berlin, Köln oder München sind die Mietpreise so stark gestiegen, dass eine durchschnittliche Rente kaum noch für eine eigene Wohnung reicht. Wer nicht zu den wohlhabenden Alten gehört, für den ist eine WG vielleicht die perfekte Lösung. Geteilte Kosten und gegenseitige Hilfe im Alltag.
Wagner: "Wenn man jetzt mal da analytisch rangeht, kann man natürlich Tools gebrauchen, um zu gucken: Wie viele Leute suchen denn im Internet danach? Und das ist in den letzten Jahren wirklich stetig gestiegen, es wird also immer mehr."
Und dazu kommt, dass immer mehr ältere Menschen das Internet nutzen. Die Zuwachsraten bei Facebook zum Beispiel sind in keiner Altersgruppe so hoch wie bei den über 55-Jährigen. Trotzdem bleiben spezielle Angebote für diese Altersgruppe Nischenprodukte.
Wagner: "Weil ich meine: Das, was gerade passiert, ist dass es immer mehr Angebote für Jugendliche gibt. Das wird natürlich stark genutzt. Nur wenn man sich jetzt die Altersstruktur anguckt: Es wird in Zukunft höchstwahrscheinlich weniger Jugendliche geben, dafür mehr Ältere. Warum soll es dann auch nicht passende Angebote für Ältere geben?"
Damit trifft Carsten Wagner einen wunden Punkt. Denn obwohl Werbeleute und Unternehmensvertreter seit Jahren mantra-artig beschwören, wie wichtig der demografische Wandel ist – getan hat sich noch nicht so viel. Grey-Chef Dickjahn Poppema fallen nur zwei Produkte ein, die seine Werbeagentur speziell für ältere Kunden bewirbt: Heizkissen und Schuhe. Und auch bei vielen Unternehmen ist das Thema eher unbeliebt, sagt Silke Borgstedt vom Sinus-Institut:
"In der Marktforschung ist es ein sehr wichtiges Thema, sich mit dieser Gruppe zu beschäftigen. Das haben auch sehr viele auf der Agenda. Nur wird gar nicht so viel über und mit dieser Gruppe geforscht, muss man sagen. Also es kommen häufig Unternehmen, die sagen: Oh, damit müssten wir uns jetzt eigentlich beschäftigen! Und wenn wir dann konkret etwas planen, möchte man dann doch wieder das nächste Produkt für eine jüngere Zielgruppe anvisieren. Also wir beobachten schon, dass es da noch gewisse Berührungsängste gibt."
Einig sind sich aber alle, dass das Thema in Zukunft immer wichtiger werden wird.
Poppema: "Es ist ja nicht etwas, was ruckartig sich verändert, sondern es ist ein Thema, das sich graduell verändert. Genauso wie die Gesellschaft ja nicht auf einmal ruckartig deutlich älter geworden ist, sondern das passiert ja von Jahr zu Jahr. Und insofern ist das eine kontinuierliche Veränderung, die da stattfindet."
Und diesen Trend hat die Wirtschaft erkannt.
Kirschmeier: "Ich wüsste keine Branche, die diesen Trend hin zur kaufkräftigen Gruppe der 50, 55-Jährigen bis jetzt verschlafen hat oder so was, nein."
Und einige Produkte wurden auch schon angepasst.
Kirschmeier: "Gerade bei PKWs zum Beispiel der etwas höhere Einstieg. Das wird natürlich gerne als angenehme Erleichterung gesehen: man muss nicht mehr so tief in das Auto steigen, vor allen Dingen man muss nicht wieder aus der Tiefe wieder rauskommen. Aber auch so ganz einfache Dinge wie eine Pizza mit einem knusprigen Rand mag für den ein oder anderen 65-Jährigen, der vielleicht Gebissprobleme hat, etwas schwieriger sein als eine Pizza mit etwas weichem Rand."
Auch im Dienstleistungssektor kommt der Wandel langsam an.
Poppema: "Versicherungen für ältere Semester ist mit Sicherheit eine Industrie, die da schon weiter ist. Die Tourismusbranche ist da schon weit, weil sie tatsächlich auch Reisen anbietet, die nur für eine Zielgruppe der gehobeneren Altersklasse dann gilt – beispielsweise kinderfreie Hotels. Das mag man jetzt verteufeln oder auch nicht, aber es ist letztendlich ein Bedürfnis, das Reisende haben."
Auch wenn die Alten immer mehr werden und sich immer mehr Produkte an die alternde Gesellschaft anpassen – Rentner-beige und Seniorenteller werden auch in Zukunft kaum eine Rolle in Wirtschaft und Werbung spielen. Denn wer will schon Senior genannt werden? Eben!
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