Bach hat seine großen Passionen und das Weihnachtsoratorium nicht als Gottesdienst verstanden, auch wenn Choräle darin gesungen werden. "Letztendlich geht es dann darum: Was ist eigentlich ein moralischer Kompass innerhalb einer Gesellschaft“, sagt Intendant Michael Schulz, der die Aufführung inszeniert hat.
Bachs Weihnachtsoratorium
Szene aus der Inszenierung "Weihnachtsoratorium" in der Oper am Rhein Düsseldorf. © Sandra Then
Ab in die Oper mit der Musik!
05:17 Minuten
Oratorien auf der Opernbühne? Bereits Händel bewies: Oratorien sind Opern im anderen Gewand. Aber Bachs Weihnachtsoratorium als Oper? Mehrere Bühnen bringen nun szenische Fassungen heraus, so auch die Deutsche Oper am Rhein. Ein Besuch.
Der Engel auf der Bühne des Düsseldorfer Opernhauses ist eine androgyne, schwarz gekleidete Gestalt mit Andy-Warhol-Frisur. "Der Andere" heißt er auf dem Besetzungszettel, der Countertenor Terry Wey singt diese Rolle.
Um ihn scharen sich Menschen in Arbeitskleidung, ausgehfeine Frauen, junge und alte Leute. Sie lassen sich vom "Anderen" berühren, sinken zu Boden, werfen ihre Shoppingtüten weg. Nur wenige vermeiden den Kontakt und schauen aus sicherer Entfernung zu.
Musik mit großer, leidenschaftlicher Geste
Die Regisseurin Elisabeth Stöppler zeigt mit der Musik aus Johann Sebastian Bachs "Weihnachtsoratorium" eine orientierungslose Gesellschaft, in der sich viele manipulieren lassen und sich alle nach Erlösung und Geborgenheit sehnen:
"Es erzählt von sehr zeitgenössischen und zeitgemäßen Themen. Es geht immer darum, dass sich eine Stimme erhebt und aus dem Chor, aus der Allgemeinheit heraustritt und sagt, wie sie empfindet, wie sie sich fühlt, was ihr Sorgen bereitet. Diese Musiken – gerade die Arien, die Ensembles – haben immer eine große leidenschaftliche Geste. Ich fand innerhalb dieses Weihnachtsoratoriums so viele Szenen, Situationen und Begegnungen vor. Das lag einfach auf der Hand, daraus eine Geschichte zu machen.“
Die textliche Annäherung eher weniger christlich
In die musikalische Reihenfolge hat Stöppler kaum eingegriffen. Allerdings stoppt die Musik gelegentlich und Josef ergreift das Wort. Sein Sohn kann wohl kaum der Heiland sein, sagt er; das sorgsam inszenierte Madonnenbild hinter ihm zerfällt. Marias blutbefleckter Unterrock wird sichtbar, so ganz schmerzlos scheint die Geburt Christi also nicht gewesen zu sein.
Die Schriftstellerin Hannah Dübgen hat diese Texte geschrieben. Im engeren Sinne christlich ist Stöpplers Annäherung an das Weihnachtsoratorium nicht. "Dieses Übersinnliche, dieses, was über mir steht, über mir als Individuum, das, was mich und die Allgemeinheit prägt und zusammenhält, damit beschäftigen wir uns in dieser Weihnachtsoratorium-Fassung."
Mehr Glaube" und Erlösung
In Gelsenkirchen steht hingegen die Auseinandersetzung mit der Religion im Vordergrund. Das Musiktheater im Revier zeigt gerade auch eine Bühnenfassung des Weihnachtsoratoriums unter dem Titel „Jauchzet, frohlocket“.
Ungefähr 80 Bürgerinnen und Bürger wurden befragt, was für sie Glaube und Erlösung bedeutet. Die Videos laufen vor Beginn der Aufführung und in der Pause, von streng gläubigen Christen über Moslems bis zu Leuten, die Religion komplett ablehnen, sind viele Meinungen dabei.
Auch Schulz sieht in Bachs „Weihnachtsoratorium“ großes Potenzial für das Musiktheater: "Die Oratorien sind zunächst einmal Hörtheater gewesen. Das heißt, auch Bach hat seine großen Passionen und das Weihnachtsoratorium nicht als Gottesdienst verstanden, auch wenn Choräle darin gesungen werden. Es sind Hörstücke, in denen Evangelientexte auf höchst affektive und theatralische Art und Weise in Musik von ihm gesetzt worden sind, sodass sich auch jeder Musiktheatermensch immer denkt: 'Ärgerlich, dass der keine Opern geschrieben hat.'"
Das Oratorium zerschlagen und neu collagiert
Anders als Elisabeth Stöppler in Düsseldorf hat Schulz in Gelsenkirchen das Weihnachtsoratorium zerschlagen und einige Passagen mit anderen Stücken neu collagiert. Die Puppentheatersparte spielt böse Satiren von Dario Fo, in denen es unter anderem um den Kindermord von Bethlehem geht. Es gibt Lieder von Brecht und Eisler sowie die Motette "A Deer's Cry" von Arvo Pärt. Maria und Josef treten mit einem Fahrrad und einem Koffer auf. Es sind Geflüchtete.
"Wir nennen sie 'die Fremden', dieses Paar, das da auf der Bühne ist, das da kommt, das aber auch sehr schnell Ablehnung erfährt, als es nicht so funktioniert, wie sich die Gesellschaft das vorstellt", erklärt Schulz.
Das Oratorium als eher assoziative Collage
Sie treffen gleich zu Beginn auf Hexen, die aus einem derb perkussiven Stück von Carl Orff stammen. In Gelsenkirchen ist das Weihnachtsoratorium Teil einer assoziativen szenischen Collage, Elisabeth Stöppler erzählt in Düsseldorf eine neue Geschichte von einsamen Großstadtbewohnern.
In Kassel wiederum hat Jochen Biganzoli das Stück mit Verweisen auf die aktuelle Lage im Nahen Osten und Publikumsbeteiligung inszeniert. Die drei unterschiedlichen Inszenierungen zeigen: Bachs „Weihnachtsoratorium“ ist im Opernrepertoire angekommen.