"schreib alles was wahr ist auf" - Der Briefwechsel Ingeborg Bachmann – Hans Magnus Enzensberger
Herausgegeben von Hubert Lengauer; mit Abbildungen
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018
450 Seiten, 38 Seiten
Der Stratege und die Sucherin
Sie treffen sich 1955: Ingeborg Bachmann und Hans Magnus Enzensberger arbeiten zusammen und lieben sich kurzzeitig. Die Briefe ihrer gemeinsamen Zeit sind nun zugänglich.
Es sind zwei sehr unterschiedliche Charaktere, die da auf einer Tagung der Gruppe 47 im Jahr 1955 aufeinandertreffen. Ingeborg Bachmann gilt bereits als die lyrische Diva ihrer Zeit, mit tragisch grundierter großer Liebesdichtung. Enzensberger dagegen ist gerade dabei, sich als "angry young man" zu profilieren.
Die beiden verbindet literarisch wenig. Aber umso wichtiger ist es, dass beide abseits der üblichen Sprachregelungen agieren und die Verdrängung des Nationalsozialismus anprangern. Sie arbeiten an gemeinsamen Anthologie- und Zeitschriftenprojekten.
Selbstbestimmte Frau nicht vorgesehen
Enzensberger, als früh gewiefter Stratege des Literaturbetriebs, möchte zunächst den Ruhm Bachmanns für sich nutzen. Bachmann hingegen denkt nicht strategisch, man kann sie nur aus ihrer Zeit heraus verstehen und sollte keine Kurzschlüsse aus heutiger Sicht ziehen. Sie versucht, sich als Frau zu "emanzipieren", ihre widersprüchliche Gestalt, ihre verschiedenen Rollenwechsel, ihre Suchbewegungen sind nur vor diesem Hintergrund zu verstehen. Eine selbstbestimmte Frau war gerade auch im Literaturbetrieb nicht vorgesehen. Während eines gemeinsamen Aufenthalts in Italien im Sommer 1959 kommt es zu einer Liebesaffäre zwischen den beiden. Sie ist von vornherein nicht auf Dauer angelegt, Enzensberger macht dann daraus "unseren gemeinsamen Pakt".
Der Höhepunkt des Briefwechsels liegt darin, wie Enzensberger in den ersten Wochen nach dieser Affäre seiner Faszination für Bachmann zu begegnen versucht. Er schreibt zunächst in kurzen Abständen verspielte und ergriffene Liebesbriefe, aber gleichzeitig arbeitet er bereits daran, die Gegensätze zwischen sich und der Dichterin zu thematisieren und so den Rausch wieder in die Vernunft zu überführen. Sehr beredt ist es, wenn er sich gegen das Gebot aus dem "Cherubinischen Wandersmann" von Angelus Silesius wehrt: Er will keinesfalls "wesentlich" werden, es interessiert ihn nicht, nur "hinterlassungsfähige Gebilde" im Sinne Benns zu schreiben. Genau das wirft er aber Bachmann vor, und es sei eben dieser Anspruch, der ihr "das Leben" so "schwer" mache.
Eine intellektuell flirrende Frau
Hier gibt es einige poetologisch wichtige Sätze, die Enzensberger ungewohnt direkt zeigen. Und es vermittelt sich auch die Anziehung, die Bachmann in dieser Phase gehabt haben muss: eine intellektuell flirrende, Leben und Literatur verschmelzende Frau, die aber immer mehr davon überfordert ist, wie sie ihr Leben zu leben versucht.
Aufschlussreich ist daneben die Geschichte, wie es zum Abdruck der vier Gedichte Bachmanns in dem politisch äußerst prononcierten "Kursbuch" Nr. 15 im Jahr 1968 kommt, hier ist dieser Briefwechsel eine sehr bedeutsame Quelle. Der Herausgeber neigt dabei dazu, die Dynamik der Beziehung zwischen Bachmann und Enzensberger zu verwischen: Er betont eine literarische Nähe, die es so nicht gab, und er spielt die auffälligen politischen Gemeinsamkeiten herunter.