Bachmann-Preise 2020 vergeben

"Helga Schubert hat diesen Wettbewerb überstrahlt"

04:36 Minuten
Helga Schubert ist auf einem Bildschirm zu sehen; sie hat sich sehr über die digitale Ausgabe des Bachmannpreises gefreut, da sie ohnehin zu Hause ihren kranken Mann pflegt und so trotzdem teilnehmen konnte.
Verehrt Ingeborg Bachmann: Helga Schubert, Bachmann-Preisträgerin 2020. © ORF / Puch Johannes
Moderation: Oliver Thoma |
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"Lebensgeschichte in Literatur verwandeln": Helga Schubert ist Gewinnerin des Bachmann-Preises 2020. Dabei war es ihr zweiter Anlauf: Schon 1980 war sie eingeladen worden, durfte aber nicht aus der DDR ausreisen. Nun war sie "unglaublich dankbar".
Die Preisträgerinnen und Preisträger der 44. Tage der deutschsprachigen Literatur stehen fest. Gewonnen hat eine Favoritin vieler Kritiker, die älteste nach Klagenfurt jemals Eingeladene überhaupt: Helga Schubert. Dabei war diesmal alles anders: Die Lesungen der Autorinnen und Autoren waren vorher aufgezeichnet, die Jury stimmte per Tablet ab und die Preisverleihung fand ohne Publikum statt und wurde online live übertragen.

Ingeborg-Bachmann-Preis 2020 an Helga Schubert

Für Helga Schubert ist es der zweite Anlauf. Bereits 1980 war sie zum Wettbewerb eingeladen worden. Damals scheiterte ihre Teilnahme an der nicht bewilligten Ausreisegenehmigung aus der DDR. Von 1987 bis 1990 saß sie in der Jury.
Ihr Text "Vom Aufstehen" ist eine Geschichte über das Leben und Sterben ihrer Mutter und ihre Beziehung zu ihr, Erinnerungen an den Krieg und die DDR und was es aus Menschen machte. Die Jury zeigte sich berührt.
Jury-Mitglied Insa Wilke lobte in ihrer Laudatio: "Helga Schubert erzählt davon, wie man Frieden machen kann." Es sei Geborgenheit, von der sie berichtet. Und das, obwohl die Mutter die Tochter mit der schweren Bürde eines Satzes ins Leben entlassen habe. Bei Helga Schubert handele es ich um eine "Autorin, die mit musikalischer Erfahrung Motive ineinanderwebt. Sie zeigt, wie man Lebensgeschichte in Literatur verwandeln kann."
Helga Schubert zeigte sich gerührt: Es sei eine ganz große schutzengelmäßige Fügung, virtuell dabei sein zu dürfen. Sie habe ziemlich viel gelernt von der Jury."Ich habe einfach gedacht, dass es viel schöner ist als Autor mitzumachen als in der Jury. Jetzt bin ich unglaublich dankbar."
Sie habe den Text im Innersten Ingeborg Bachmann gewidmet. Ihr Satz "Steh auf, Dir ist kein Knochen gebrochen" sei Verbeugung vor Ingeborg Bachmann und erinnere an den Titel ihres Textes "Vom Aufstehen".

Eine ganz besondere Kandidatin

Kritikerin Wiebke Porombka teilt die Begeisterung über Helga Schubert. Sie sei eine "ganz besondere Kandidatin", findet sie. Dazu beigetragen habe, dass sie eine der ersten ostdeutschen Jurorinnen beim Bachmannpreis gewesen sei.
"Sie hat nicht nur mit ihrem Text, sondern auch mit ihrer Persönlichkeit diesen Wettbewerb überstrahlt", sagt sie. Die Erzählerin ihres autofiktionalen Werks bleibe morgens liegen und erinnere sich an ihre Mutter, "an ein Jahrhundert voller grausamer Brüche". Sie habe Krieg und Flucht erleben müssen und habe die Empathielosigkeit, die sie selbst erlebt hat, weitergegeben.
Das Besondere an dem Text sei, dass es keine Wutrede, keine Abrechnung sei, sondern eine Annäherung an die Mutter, ein Verzeihen. Es sei ein Text, aus dem man lernen könne, wie man Frieden macht. "Und das ist auf hochliterarische Weise gelungen."

Das Publikum live vor Ort hat gefehlt

Insgesamt sei der Jahrgang sehr vielstimmig, meint Wiebke Porombka: politisch engagiert wie von Egon Christian Leitner, poetische Texte wie von Levin Westermann, es habe das Spiel mit Computerästhetik gegeben wie von Lisa Krusche. Allerdings: "Ein bisschen hat mir insgesamt das Experimentelle gefehlt, der Furor, vor allem der Witz, da gab´s fast gar nichts."
Das Experiment digitaler Bachmannpreis habe aber besser funktioniert, als sie gedacht habe:
"Man hat doch gerne zugehört, gerne zugeschaut, dennoch ist das absolut kein Zukunftsmodell. Kultur braucht Publikum, Atmosphäre, das körperliche Miteinander." Das Publikum live vor Ort habe am meisten gefehlt, es ziehe immer noch eine weitere Ebene ein. Man merke, welche Spannung sich im Saal vermittelt oder was das Publikum lustig findet. Dafür brauche es in Zukunft wieder das Wettlesen am Klagenfurter Wörthersee vor Ort.

Das war die Shortlist

Jedes Jurymitglied konnte sieben Autorinnen und Autoren nominieren. Jeder konnte sieben Punkte verteilen, diese Autoren haben es dann auf die Shortlist geschafft:
Laura Freudenthaler: "Der heißeste Sommer"
Hanna Herbst: "Es wird einmal"
Lisa Krusche: "Für bestimmte Welten kämpfen und gegen andere"
Egon Christian Leitner: "Immer im Krieg"
Helga Schubert: "Vom Aufstehen"
"Matthias Senkel: "Warenz"
Levin Westermann: "Und dann"

Deutschlandfunk-Preis: Lisa Krusche

Lisa Krusche las auf Einladung von Klaus Kastberger den Text "Für bestimmte Welten kämpfen und gegen andere". Eine dystopische Welt und Bilder eines Computerspiels, die Lob aber auch Kritik erntete. Vor allem Philipp Tingler sprach gegen den Text.
Lisa Krusche gewinnt den DLF Kultur-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb.
Lisa Krusche gewinnt den DLF Kultur-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb.© ORF
Klaus Kastberger hingegen lobte den Text in seiner Laudatio. Er fragte: "Könnte das Virtuelle nicht auch ein Potenzial haben, zu den realen Problemen beizutragen?" Der Text sei eine Aufforderung, sich mit anderen Lebewesen verwandt zu machen. Er frage: "Lassen sich die Teile zu einem neuen Miteinander zusammenführen? Stecken wir in einer unheimlich lustigen Computersimulation?"

Kelag-Preis: Egon Christian Leitner

Egon Christian Leitner las den sozialkritischen Text "Immer im Krieg" in Form von einzelnen Geschichten über Menschenschicksale im Sozialstaat. Für Philipp Tingler zu rigide und verstaubt, doch die übrigen Jurymitglieder fanden verteidigende Worte.
Egon Christian Leitner
Benennt Probleme: Egon Christian Leitner© ORF
Klaus Kastberger war regelrecht begeistert. In seiner Laudation wandte er sich direkt an Egon Christian Leitner: Er sei "glücklich, dass diese Art von Literatur in Klagenfurt eine Chance hat." Sein bisheriges Werk umfasse drei Bände. Alles fügte sich zu einem Begriff: Sozialstaatsroman. Darin benenne Leitner auch drängende Probleme: "Sozialstaat selbst hat auch ein Problem, in diesen Gesellschaften ist bei weitem nicht alles gelöst. Wir müssen auf dies ungleichen Verteilungen schauen." Er halte die Preisvergabe daher "für ein kleines Wunder."

3sat-Preis: Laura Freudenthaler

Die Österreicherin Laura Freudenthaler wurde eingeladen von Brigitte Schwens-Harrant, sie las den Text "Der heißeste Sommer". Die Jury befand großes literarisches Talent, Klaus Kastberger fühlte sich zum ersten Mal an Ingeborg Bachmann erinnert.
Porträt von Laura Freudenthaler
"Der heißeste Sommer" begeisterte: Laura Freudenhaler.© ORF / Marianne Andrea Borowiec
Die Jury lobte den Text: Es sei eine unheile Welt, die Laura Freudenthaler uns erzählt. Am Ende sehen wir ein verletztes Land. Die Autorin fordere ein Mehr an Wahrnehmung, für Mensch und Natur: "Der Text ist ein Wucht, verstört und erschüttert, ist behutsam und brandaktuell."

BKS-Bank Publikumspreis: Lydia Haider

Die in Steyr geborene Lydia Haider las auf Einladung von Nora Gomringer den Text "Der große Gruß". Die Lesung führte zu einem Tabubruch in der Jury, als Phillip Tingler zu Beginn die Autorin frage, was sie mit dem Text bezwecke. Er wurde von Juryvorsitzendem Hubert Winkels belehrt.
Lydia Haider
Lässige Pose: Lydia Haider.© Apollonia Theresa Bitzan

Das war die Jury

Die Jury zeigte sich mit zwei Neuzugängen – Brigitte Schwens-Harrant und Philipp Tingler – oft recht streitlustig, resümiert der Bachmann-Preis auf seiner Internetseite. In kaum einem Jahr zuvor sei es so sehr um die Frage gegangen, nach welchen Kriterien die Jury die Texte bewerten solle. Das habe dem Schweizer Philipp Tingler einige Belehrungen vom Juryvorsitzenden Hubert Winkels eingebracht.
Hubert Winkels, seit 2015 Juryvorsitzender
Nora Gomringer, gewann 2015 den Bachmannpreis
Klaus Kastberger
Brigitte Schwens-Harrant
Philipp Tingler
Michael Wiederstein
Insa Wilke
(orf/ros)
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