Einschalten: Auch heute Abend in unserer Sendung "Fazit" geht es ab 23:05 Uhr um den Bachmann-Preis.
Deutsche Geschichte mit leichter Hand erzählt
Sharon Dodua Otoo ist eine Newcomerin, nur wenige Literaturkritiker hatten sie bisher auf dem Schirm. Nun hat sie den renommierten Bachmann-Preis erhalten - für einen Text, der für diesen Wettbewerb sehr untypisch ist.
"Ich glaube, ich werde noch ein paar Tage drüber schlafen müssen", so reagierte Sharon Dodua Otoo am Sonntag auf die Verleihung des Ingeborg-Bachmann-Preises für ihren Text "Herr Gröttrup setzt sich hin". Das Preisgeld in Höhe von 25.000 Euro sei eine gute Basis, um "weiter an dem Text zu arbeiten", sagte Otoo am Sonntagabend auf Deutschlandradio Kultur.
Geplant sei ein Roman, in dem es um einen "Perspektivwechsel" gehe, "um Leute, die um uns herum sind, die oft nicht Gehör finden oder die wir nicht wahrnehmen", sagte Otoo in Ausblick auf ihr neues Schreibprojekt. Deswegen würden "mehrere Geschichten in den Roman einfließen".
Sharon Dodua Otoo hat keine Fans mitgebracht – und bis vor ein paar Wochen hatte sie vermutlich auch kein Literaturkritiker auf dem Zettel. Bisher hat sie zwei Bücher in dem kleinen, politisch engagierten Verlag edition assemblage veröffentlicht: "die dinge, die ich denke, während ich höflich lächle..." (2013) und "Synchronicity" (2014). Außerdem gibt sie dort die Buchreihe "witnessed" heraus.
Aktivistin der "Black Empowerment"-Bewegung
Sharon Dodua Otoo ist in London geboren und lebt in Berlin, wo sie mit Flüchtlingen arbeitet, in dem kurzen Videofilm auf der Bachmann-Website wird sie als "black Empowerment"-Aktivistin porträtiert.
Und jetzt: Der Bachmann-Preis. 25.000 Euro. Und heute und in den nächsten Tagen viel Fernsehen, Radio, Zeitung. Preispolitisch ist das sicher eine richtige Entscheidung: Die Newcomerin (und Sprachwechslerin) Sharon Dodua Otoo steht hier in Klagenfurt eher für die Zukunft als für die Vergangenheit. Und auch ihr Text ist nicht auf die traditionellen literarischen Bezüge festgelegt, die hier bei Bachmans so gern von der Jury hergestellt werden. Bei Otoo gibt es keinen Kafka und keinen Robert Walser, keine Avantgarde-Anklänge von vorgestern.
Nur bruchstückhafte Loriot-Kenntnisse erforderlich
Wer "Herr Gröttrup setzt sich hin" auf intertextuelle Bezüge abchecken will, braucht erst einmal nicht mehr als ein paar bruchstückenhafte Loriot-Kenntnisse: Ein älteres Ehepaar sitzt am Frühstückstisch, das Ei ist nicht hart, es ist weich, damit geht es los. Von da führt der Weg der surreal angehauchten Kurzgeschichte – erzählt wird aus der Perspektive des Frühstückseis! – zurück in die deutsche Geschichte: Helmut Gröttrup, der Mann am Frühstückstisch, ist eine reale Gestalt, ein deutscher Raketeningenieur, der in der Zeit des Nationalsozialismus an der V2 mitgearbeitet hat – und nach dem Krieg für das sowjetische Raketenprogramm gearbeitet hat.
Ein Stück deutsche Geschichte werde hier mit leichter Hand erzählt, lobt Jurorin Sandra Kegel. Allerdings: Richtig viel erfährt man über Helmut Gröttrup in dem Text von Sharon Doduda Otoo nicht. Aber das ist vielleicht auch ganz gut so. Wenn aus der kleinen Geschichte vom Frühstücksei eine große Erzählung über die deutsche Nachkriegsgeschichte geworden wäre, wär er halt wieder verdammt nah dran gewesen an einem echten Klagenfurt-Text. Und das muss ja nicht.
Am Ende wird es dann noch einmal richtig laut. Stefanie Sargnagel bekommt den Publikumspreis – und im Pressecafé im Erdgeschoss des ORF-Studiogebäudes wird Party gemacht. Die schwarz gekleideten Mitglieder der "Burschenschaft Hysteria" – die Stefanie Sargnagel gegründet hat – schütteln Bierflaschen und schwenken Fahnen: Situationismus trifft auf digital hardcore.