"Alles kann eines Tages gegen dich verwendet werden"
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Der Bachmannpreis geht in diesem Jahr an die im Iran geborene und in Österreich lebende Autorin Nava Ebrahimi. Ihr vielschichtiger Text über Fluchterfahrung behandelt die mühsame Überwindung von Sprachlosigkeit. Die Kunst sei ein möglicher Weg, sagt sie.
Die Jury der 45. Tage der deutschsprachigen Literatur hat Nava Ebrahimi für ihren Text "Der Cousin" mit dem diesjährigen Bachmann-Preis ausgezeichnet. Er handelt von einer Cousine und einem Cousin, die sich in einem New Yorker Theater treffen. Er ist Tänzer und lebt in New York, sie ist eine Schriftstellerin aus Europa. Beide stammen aus einem Land, in dem ihr gemeinsamer Großvater die Pistazie kultiviert hat, wie es im Text heißt.
In New York sprechen sie über ihre Vergangenheit. Das tun sie aber nicht direkt. Der Cousin spielt im leeren Theater auf der Bühne einige Szenen nach, und sie liest aus ihrem Roman vor. So thematisieren beide künstlerisch ihre Vergangenheit.
Permanentes Verlangen nach Authentizität
"Dass in der Geschichte eine Geschichte stecken wird, das war mir klar", sagt Ebrahimi. "Aber ich wusste zum Beispiel, als ich den ersten Satz geschrieben habe, noch nicht, wie der Cousin das erzählen wird". Ebrahimi lässt ihn die Gangarten seiner Mithäftlinge nachtanzen, mit denen er im Alter von zwölf Jahren in einem thailändischen Männergefängnis interniert war. Dort landete er nach dem missglückten Versuch seiner Mutter, illegal in Thailand einzureisen, um weiter nach Kanada fliehen zu können.
Am Schluss des Textes stellt sich heraus, dass diese Begegnung im leeren Theater aufgezeichnet wurde. Es war eine Aufführung, die nach außen übertragen wurde, von der die Cousine nichts wusste.
Sie wurde gegen ihren Willen benutzt, wie die Bachmann-Jurorin Brigitte Schwens-Harrant nach der Lesung treffend sagte. In dieser ungewollt authentischen Inszenierung steckt auch zu einem gewissen Grad eine Kritik am Buchmarkt und dessen permanentem Verlangen nach Authentizität, wie Ebrahimi erklärt.
Mit Kunst und Kultur Sprachlosigkeit überwinden
Gleichzeitig schirmen sich die Protagonisten aber auch von einander ab. Im Text heißt es an einer Stelle: "Geize mit Informationen, alles kann eines Tages gegen dich verwendet werden." Eine Lebensweisheit, die sowohl für die Situation im Gefängnis als auch das Verhalten in der Upper Class New Yorks gilt – das Milieu, in das der Cousin sich Zutritt verschaffen will.
Es geht also um verschiedene Arten der Migrationserfahrung. Nava Ebrahimi erklärt: "Wenn man als Migrantin in eine neue Gesellschaft kommt, ist man erst einmal relativ sprachlos und nur in der Rolle des Beobachters und muss erst einmal eine Form finden, die eigene Geschichte zu erzählen. Und vielen gelingt das niemals. Sie bleiben ein Leben lang sprachlos und ein Stück weit unsichtbar. Aber wie das auch die Jury ganz schön herausgearbeitet hat: Kunst und Kultur sind ein möglicher Weg, diese Sprachlosigkeit zu überwinden."
Ob aus der Erzählung ein ganzer Roman wird, sei noch unklar, sagt die Autorin. Momentan fühle sich das Ende der Geschichte wie ein Endpunkt an.
"Aber wie das halt so ist beim Schreiben", fügt sie hinzu. "Diese Figuren sind mir jetzt auch ein bisschen näher gekommen. Ich würde es nicht ausschließen, dass es noch was Längeres wird, aber das ist erst einmal nicht geplant."
(ckr)