Bachs Matthäuspassion mit dem RIAS Kammerchor

"Behüte Gott, ist es doch als ob man in einer Opera oder Comödie wäre!", soll ein ziemlich verschreckter Zeitgenosse am Ende der Leipziger Erstaufführung der Matthäuspassion anno 1729 heraus posaunt haben. Was hatte er erlebt? Einen braven Kantor und artigen Christen als verkappten Musikdramatiker? Als Schänder des heiligen Evangeliums gar? Verwickelt in die Sünden des Theaters?
Auch wer so weit nicht gehen mag, wird kaum leugnen können, dass Bachs Vertonungen der Leidensgeschichte in ihrer Befangenheit und emotionalen Anteilnahme meilenweit über die Nüchternheit eines bloßen Berichts hinausgreifen. Was den frechen Störenfried von damals so erregte, die schmerzlich bewegende, ich-bezogene Gefühlswelt der Arien und die stürmische Drastik der Volkschöre, war bestimmt, den Hörer als Betroffenen in die biblischen Geschehnisse einzubeziehen, seine Distanz zu durchbrechen.
Um diese elementare Schockwirkung heute nachvollziehbar zu machen, quasi hautnah zu rekapitulieren, bedarf es Ensembles wie den RIAS Kammerchor, dem jede Note aus Bachs Feder ein manifest der Menschlichkeit bedeutet.
Bühne frei für ein bewegendes Passionsdrama! Lassen Sie sich erschüttern!
(Roman Hinke)

Nach dem ersten Teil der Passion, gegen 21:15 Uhr, wird sich Volker Michael in der Konzertpause mit der "nie endenden Debatte um den Antijudaismus in Bachs Passionsmusiken" beschäftigen:
"Lass IHN kreuzigen!" - das rufen und singen die jüdischen Volksmassen in Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion. Und ebenso deutlich und hitzköpfig geht es in Bachs Monumentalwerk zu, wenn der Komponist den Verrat des Judas musikalisch brandmarkt. Prophezeien Bach und sein Textdichter Picander gar spätere Verfolgungen, wenn sie das jüdische Volk nach der Verurteilung singen lassen: "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!"? Den Antisemitismus der Bach-Zeit könne man nicht mit dem Antisemitismus der Hitler-Zeit gleichsetzen, meinte Daniel Barenboim, als er vor zwei Jahren "Das Wohltemperierte Klavier" von Bach einspielte. Die Matthäuspassion hat Barenboim als Sechsjähriger gehört und war erschüttert, die Johannespassion könne er niemals dirigieren, wegen ihres Textes. Nicht nur Juden haben ihre Probleme mit den Passions-Musiken von Bach. Auch christliche Theologen haben ihre liebe Not, zwischen dem Humanisten Bach und dem überzeugten Anhänger des lutherischen Protestantismus zu unterscheiden. Luther war Antisemit. Das belegen einige seiner Texte. Spricht die Musik Bachs eine andere Sprache als die Luthers und die der beiden Evangelisten Matthäus und Johannes? Eigentlich war die Verurteilung und Hinrichtung des Juden Jesus durch die jüdischen Hohepriester ja eine innerjüdische Angelegenheit. Doch Hörerinnen und Hörer im 20. Jahrhundert verstanden das Passions-Musiktheater Bachs auch als Kommentar zur Zeit, je nach Standpunkt. Bach konzipierte seine Passionen als traditionelle und zugleich modernistische Werke. Und nahm dabei in Kauf, dass nachfolgende Hörer mittelalterlichen Blutkult oder aufgeklärten Humanismus bemerken konnten, je nach Standpunkt. Eine niemals zu entscheidende Diskussion.


Live aus der Philharmonie Essen

Johann Sebastian Bach
Matthäuspassion BWV 244

Letizia Scherrer, Sopran
Marianne Beate Kielland, Mezzosopran
Topi Lehtipuu, Tenor (Evangelist)
Maximilian Schmitt, Tenor (Arien)
Andreas Wolf, Bariton (Christus)
Thomas Bauer, Bass (Arien)
RIAS Kammerchor
Akademie für Alte Musik Berlin
Leitung: Hans-Christoph Rademann


nach dem 1. Teil ca. 21:15 Uhr Konzertpause mit Nachrichten und anschließend:
"Versündigt hat er sich nicht…." -
die nie endende Debatte um den Antijudaismus in Bachs Passionsmusiken
Von Volker Michael