Baden-Württemberg

Der Brexit als Chance

Börsenhändler sitzen in der Börse Stuttgart vor ihren Monitoren.
Die Börse Stuttgart gilt als Deutschlands zweitgrößter Handelsplatz © dpa / picture alliance
Von Uschi Götz |
Goldgräberstimmung in Baden-Württemberg: Ein Jahr nach dem Brexit-Referendum hofft das Land darauf, von Großbritanniens EU-Ausstieg profitieren zu können. Wechselfreudige Unternehmen sollen gezielt angesprochen werden.
Im Februar reiste Baden-Württembergs CDU Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut mit einer Delegation nach London. Man habe Informationen und Einschätzungen unterschiedlichster Branchen in Bezug auf den Brexit gesammelt, lautete das offizielle Fazit der Reise.
Doch der Kurzausflug an die Themse war weit mehr als eine Informationstour. Kurz nach der Rückkehr kündigte das Wirtschaftsministerium an, man werde gemeinsam mit Baden-Württemberg International ein Konzept erarbeiten und damit auf britische Unternehmen zugehen.
Gezielt sollen Firmen und Investoren angesprochen werden, die in Folge des Brexit einen neuen Standort suchen.
Baden-Württemberg International, eine Einrichtung des Landes, ist wiederum darauf spezialisiert, den Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort weltweit zu positionieren. Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut kündigte an, das Papier werde in Kürze vorgestellt:
"Wir sind jetzt in der Erarbeitung eines Konzepts, wo wir auch Ansprechpartner definieren, die dann auch nach außen auftreten können, um hier auch die Verbindung herzustellen, dass Firmen in Baden-Württemberg willkommen sind und wir natürlich großes Interesse daran haben, diese Firmen auch für Baden- Württemberg zu gewinnen."

Gutachten analysiert Folgen für den Südwesten

Das Konzept wird mit Spannung erwartet, denn Ministerin Hoffmeister Kraut gilt als Kennerin der britischen Wirtschaft. Die promovierte Diplom-Kauffrau arbeitete nach der Jahrtausendwende zunächst bei der Investmentbank Morgan Stanley in London und später als Analystin ebenfalls zum Teil in Großbritannien bei Ernst & Young, einer Beratungsgesellschaft.
Die Interessen des Bundeslandes werde man mit Nachdruck gegenüber dem Bund und der EU erklären, heißt es aus dem Südwesten. Aktiv will man sich aus Baden- Württemberg auch einbringen, wenn es um die konkrete Ausgestaltung von Abkommen gehe.
"Baden-Württemberg ist die wirtschaftsstärkste Region in Europa, wir sind stark exportorientiert, auch Großbritannien ist für uns ein wichtiger Handelspartner und deshalb ist es für uns von zentraler Bedeutung, wie sich die zukünftigen Handelsbeziehungen mit Großbritannien gestalten und wie auch die Konditionen für den Brexit mit der EU verhandelt werden."
Als erstes Bundesland hat Baden-Württemberg ein Gutachten vorgelegt, das sich mit den Folgen des Brexit für den Südwesten beschäftigt. Welche Auswirkungen hat der Brexit etwa auf den Handel, auf die Vermögens- und Finanzmärkte, den Agrarbereich im Land? Das Gutachten liefert auch Antworten darauf, welche Folgen für die Wissenschaft und die schulische Bildung zu erwarten sind.
Die in Baden-Württemberg gewonnenen Erkenntnisse könnten auch anderen Ländern dazu dienen, mögliche gemeinsame Anliegen gegenüber der Bundesregierung im Rahmen der Austrittsverhandlungen zu klären, ist man sich bei der Landesregierung sicher.
Im September wird erneut eine baden-württembergische Delegation nach Großbritannien reisen, man will die Entwicklungen vor Ort mitbekommen.

Goldgräberstimmung spürbar

Die Region Stuttgart und das Land Baden-Württemberg könnten vom bevorstehenden Brexit regelrecht profitieren. Davon ist Andreas Richter, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK) Region Stuttgart überzeugt. Im Blick habe man die Schlüsselbranchen:
"Das ist Fahrzeugbau, Maschinenbau und Elektrotechnik. Das sind unsere Cluster, die sind für britische Unternehmen auch interessant."
Allerdings hält Richter wenig davon, wenn im Vorfeld bereits einzelnen Branchen traditionellen Standorten zugerechnet werden. Im Rahmen möglicher Umzugspläne des Finanz- und Bankwesens etwa sei auch der Südwesten attraktiv:
"Wir haben, was vielleicht nicht so bekannt ist, eine sehr vitale Börse. Wir haben die zweitgrößte Börse in Deutschland, mit vielen Vorzügen für Anleger, weil sie schnell ist und spezielle Segmente beinhaltet. Und ich würde nicht ausschließen, dass es auch für Finanzdienstleister in Großbritannien interessant sein könnte, wenn man in Frankfurt schon wäre, auch nochmal in Stuttgart sich niederzulassen."
Goldgräberstimmung ist langsam spürbar. IHK-Hauptgeschäftsführer Richter empfiehlt der Landesregierung, Investoren aus dem Vereinigten Königreich jetzt gezielt anzusprechen. Dabei haben einige britische Unternehmen bereits einen Standort in Baden-Württemberg, Tendenz steigend:
"Wenn man es sich anschaut, ist die Zahl der britischen Unternehmen, die hier im Großraum Stuttgart unterwegs sind, seit 2014 deutlich nach oben gegangen, nämlich auf jetzt 200, ein Zuwachs um 60 Unternehmen. Das heißt, schon vor der jetzigen Entscheidung, als es absehbar war, haben sich viele Unternehmer aus Großbritannien für die Region hier entschieden."

"Keiner weiß, wo die Reise hingeht"

Laut IHK lassen die Geschäfte mit Großbritannien spürbar nach. So ist im ersten Quartal 2017 der Export von Baden-Württemberg auf die britischen Inseln im Vergleich zum Vorjahresquartal um 10,8 Prozent auf knapp drei Milliarden Euro zurückgegangen. Für die Zeit nach dem Brexit, aber auch für den Übergang müssten jetzt die jahrzehntelang gewachsenen Kontakte tragen:
"Das Netzwerk ist da, die Verbindungen sind da, es gibt viele Unternehmen, die in Großbritannien schon die ganze Zeit lokalisiert sind, viele Partnerschaften sind da. Wenn man sich überlegt, wo geht man hin nach Deutschland, dann nutzt man natürlich die Beziehungen, die man schon hat."
Die Richard Wolf GmbH ist einer der weltweit führenden Hersteller von endoskopischen Produkten. Seinen Stammsitz hat das Unternehmen im baden-württembergischen Knittlingen. In Großbritannien unterhält die Firma einen ihrer wichtigsten Auslandsstandorte.
Volker Maute, Bereichsleiter im Ressort Vertrieb und Marketing, beschreibt die Situation vor Ort so:
"Man kann sagen, die Ruhe vor dem großen Sturm, weil keiner weiß, wo die Reise hingeht."

Mehr Bescheidenheit?

Noch hält man im Unternehmen am britischen Standort fest:
"Denn Großbritannien ist auch ein sehr wichtiger Markt für uns. Und nachdem auch gerade die NHS sehr viele Bestrebungen unternimmt, um auch die Endoskopie zu stärken, ist es klar, dass wir auch da präsent sein möchten."
Abhängig vom weiteren Verlauf der Brexit-Gespräche wird man bei der Richard Wolf GmbH Pläne entwickeln, um auf verschiedene Szenarien reagieren zu können.
Peer Dick, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands Südwestmetall, plädiert indes für etwas mehr Bescheidenheit in Bezug auf die Werbeaktivitäten des Landes. Dick begleitete die Wirtschaftsministerin auf ihrer Informationsreise nach London und stellte dabei fest:
"Regionen oder auch Branchen, die dort sehr aggressiv am Markt aufgetreten sind und geworben haben, sind eher kritisch gewürdigt worden. Da würde ich etwas für Zurückhaltung werben wollen. Was vielleicht eine Chance sein kann ist, dass internationale Spitzenkräfte, aber auch nationale, aus Großbritannien, aus England, sich einem geschlossenen Markt, geschlossen innerhalb der EU und dann für die Briten auch geschlossen, sich mal überlegen, ob sie in ein anderes Land, vielleicht Deutschland und vielleicht sogar Baden-Württemberg kommen. Weil dort eine viel weltweitere Betätigung möglich ist, mit viel mehr Zukunftschancen, mit viel mehr internationalen Bezügen, auf einem viel einfacheren Level, auch für die Beschäftigten."
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