Wir können alles - außer Hochdeutsch, schreiben und lesen
In Baden-Württemberg zeigen sich im Bildungsbereich immer deutlicher schwere Versäumnisse: Es fehlen Lehrer, vor allem an den Grund- und Berufsschulen. Unternehmen im Land klagen schon lange, dass die hochgelobte duale Ausbildung in Gefahr ist.
"Das nehmen wir sehr sehr ernst. Das ist eine ganz ernste Frage, die sich uns da stellt."
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann war selbst viele Jahre als Lehrer im Schuldienst tätig. Die Ergebnisse der jüngsten Bildungsstudie setzen dem grünen Politiker hörbar zu. Der Druck kommt dabei auch von der Wirtschaft im Südwesten. Im Land fehlen Fachkräfte.
Zulieferer, auch viele andere Unternehmen, sind im wirtschaftsstarken Baden-Württemberg deshalb dringend auf Auszubildende angewiesen. Doch der Nachwuchs schwächelt.
Was lange als gefühlt wahrgenommen wurde, ist jetzt durch einen Bildungstest nachgewiesen worden: Baden-Württemberg hat seinen einstigen vorderen Spitzenplatz im Bildungsbereich verloren. Jeder vierte Schüler im Südwesten ist schlechter als der bundesweite Durchschnitt.
Bei der Bildung war man sich sofort einig
Das sitzt. In der grün-schwarzen Regierungskoalition wird nahezu über alles gestritten. Bei der Einschätzung der Lage in Sachen Bildung ist man sich jedoch sofort einig, selbst bei der Wortwahl. CDU-Landesinnenminister Thomas Strobl:
"Die Ergebnisse, die die Untersuchungen aus der jüngsten Vergangenheit sind, sind alarmierend. Und ganz ganz ernst zu nehmen. Und wir sind sehr entschlossen das gemeinsam zu ändern."
Kretschmann: "Ja, da herrscht Konsens, dass die schwierigste und wichtigste Aufgabe, das ist ein komplexestes Problem, erst einmal darin besteht, was sind die Gründe? Und das ist mit Sicherheit nicht nur ein Grund, sondern mehrere, die muss man rausfinden. Die muss man rausfinden, denn nur wenn man sie rausfindet, kann man auch adäquat darauf reagieren."
Strobl: "Und die Qualität verbessern, so dass Baden-Württemberg wieder in einer anderen Liga spielt. Nämlich in der Liga, in der es hingehört: Das ist die Spitze, nirgendwo soll es eine bessere Bildung und Ausbildung geben, als in Baden-Württemberg."
"Wir sind die, wo gwinne wollet ..."
Wir sind die, wo gewinnen wollen: Die Maxime stammt von Bundestrainer Jogi Löw, ein Baden-Württemberger. Das Mittelmaß gibt es im Südwesten nicht, auf den Abstieg im Bildungsbereich war man nicht vorbereitet. Daraus macht man in der Politik auch kein Geheimnis. CDU-Kultusministerin Susanne Eisenmann:
"Baden-Württemberg über viele Jahre in der Spitzengruppe mit Bayern und Sachsen in diesem Vergleich, ist inzwischen im unteren Mittelfeld, neben Berlin und Bremen, nichts gegen die Stadtstaaten, aber es ist nicht das Umfeld im bildungspolitischen Bereich, das wir uns als Baden-Württemberg wünschen. Weder für unsere Kinder und Jugendlichen, als Bildungsstandort, noch im Hinblick auf (den) Wirtschaftsstandort und Perspektiven, die wir auch brauchen, um uns tatsächlich auch als Land so weiterentwickeln zu können, wie wir dieses wollen."
Im aktuellen Bildungstrend, früher Ländervergleichsstudie genannt, ist erkennbar: Schleswig-Holstein steigt weiter auf, auch Hamburg hat die richtigen Weichen in Sachen Bildungspolitik gestellt.
Klassenbester ist und bleibt Bayern
Der Klassenbeste im Ländervergleich bleibt Bayern. Damit könnte Baden-Württemberg noch leben, misst man sich nahezu in allen Bereichen immer mit den bayerischen Nachbarn. Dabei ging es immer nur um die Frage: Wer landet auf Platz eins, wer auf zwei.
Der so genannte IQB-Bildungstrend ist vergleichbar mit der Pisa-Studie, allerdings schaut IQB nur auf die deutschen Bundesländer. Erstmals wurden 2010 Ergebnisse aus dem Ländervergleich vorgestellt. Damals belegte Baden-Württemberg noch in allen Bereichen Spitzenplätze.
In der aktuellen Studie wurden die Kompetenzen der Schüler aller 16 Bundesländer in den Fächern Deutsch und Englisch stichprobenartig getestet. Auch wie es um die Rechtschreibung bestellt ist, wurde in allen Ländern untersucht. In den Fremdsprachen wurde Lesen und Zuhören getestet.
Kultusministerin Susanne Eisenmann faste jüngst den Absturz auf einer Bildungsmesse zusammen:
"Baden-Württemberg hat bezogen auf Kernkompetenzen: lesen, schreiben, rechnen ein zentrales Problem. Wir liegen deutlich unter dem Bundesdurchschnitt, in diesen Kernkompetenzen sowohl in den Klassen acht, wie in den Klassen neun, der weiterführenden Schulen."
Turnusmäßig wechselt der Vorsitz in der Kultusministerkonferenz jährlich. Ausgerechnet in diesem Jahr ist Baden-Württemberg an der Reihe. Eisenmann legt den Schwerpunkt ihrer Präsidentschaft auf ein Thema, das vor allem mit Blick auf die Wirtschaft im Land ein deutliches Signal sein soll:
"Wir haben uns dazu entschieden, dieses Jahr als Schwerpunkt 'Berufliche Ausbildung Abschlüsse – Anschlüsse – Übergänge' zu wählen, um damit zu sehen, wie wir tatsächlich die Herausforderungen, die sich in der beruflichen Bildung, deshalb will ich sie auch gerade vorne anstellen, entwickeln. Und welche Handlungsbedarfe wir haben."
Eisenmann: Keine Rücksicht auf Parteifreunde
Die 52-Jährige promovierte Akademikerin mit CDU-Parteibuch gilt als ausgewiesene Expertin im Bildungsbereich, schonungslos geht die selbstbewusste Frau auch mit ihren eigenen Parteifreunden um. Rückblickend macht sie die Bildungspolitik, die bis 2011 jahrzehntelang von der CDU geprägt wurde, mitverantwortlich für die aktuelle Bildungsmisere:
"Wir haben übrigens in den letzten zehn, zwölf Jahren in Baden-Württemberg vieles ausprobiert, aber nicht wie andere Bundesländer in Form von Modellversuchen, wir haben es in der Regel immer gleich flächendeckend eingeführt. Bis man dann erkannt hat, ob der Weg der richtige ist, muss ich natürlich was flächendeckend eingeführt ist, auch flächendeckend wieder rückgängig machen. Das sorgt für Unruhe."
Schon lange schätzen Bildungsexperten die Entwicklung an den baden-württembergischen Schulen als kritisch ein:
"Das Entscheidende ist, dass andere Bundesländer in den letzten zehn Jahren Strukturreformen vollzogen haben, Qualitätssicherungssysteme eingebaut haben, Einzelprogramme zum Beispiel zu Mathematik, zur Minimierung der Risikogruppe vollzogen haben und da relativ konsequent waren. Baden-Württemberg hat in derlei Hinsicht in den letzten zehn Jahren wenig gemacht. Insofern ist die Tendenz, dass die anderen besser geworden sind aufgrund von guten Programmen, so würde ich das interpretieren."
Thorsten Bohl, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Tübingen, zählt zu den Wissenschaftlern im Land, deren Rat nun gefragt ist. Seit Monaten werden Experten gehört, wird schonungslos über Ursachen und Folgen diskutiert.
Im Februar stellt Petra Stanat, Professorin für Erziehungswissenschaft und Direktorin des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen an der Humboldt-Universität Berlin, die Ergebnisse der Studie noch einmal in Stuttgart vor: Laut der Studie fielen die getesteten baden-württembergischen Neuntklässler beispielsweise bei der Lesekompetenz im Vergleich aller Bundesländer von Platz drei auf Platz 12 zurück. Auf die vorderen Plätze rückt zunehmend der Norden:
"Hamburg hat sich insgesamt wirklich gut entwickelt, denen ist es gelungen, auf ein mittleres Niveau zu kommen, in fast allen Bereichen außer in der Orthografie, da müssen sie noch ein bisschen was tun und haben, obwohl sie einen genauso hohen Anteil haben von Schülern mit Zuwanderungshintergrund wie Berlin haben - und das ist schon eine beachtliche Leistung."
Der Südwesten ist nur noch Durchschnitt
Der Südwesten liege im Durchschnitt, betont die Wissenschaftlerin mehrfach, ist nicht abgestürzt, wie vor allem Landespolitiker immer wieder niedergeschlagen behaupten. Das Land ist ins Mittelfeld gerutscht. Doch das wolle keiner hören, wie Petra Stanat bereits bei der Vorstellung der Ergebnisse noch im vergangenen Jahr feststellen musste:
"Ich habe immer wieder betont in meinem Vortrag: Ja, die Ergebnisse haben sich zwar ungünstig entwickelt, aber es ist ja nicht unterdurchschnittlich, sondern es entspricht im Grunde dem Bundesdurchschnitt. Aber schon bei diesem ersten Besuch habe ich gelernt: Durchschnitt geht in Baden-Württemberg einfach gar nicht. Egal mit wem man spricht."
Die Wissenschaftlerin ist vorsichtig mit Rückschlüssen, in ihrem Fazit empfiehlt sie, einzelne Veränderungen schneller auf ihre Wirkung hin zu untersuchen:
"Die Vorstellung, dass man sagen könnte, daran liegt es, dass die Ergebnisse sich jetzt so entwickelt haben, wie sie sich entwickelt haben in Baden-Württemberg, das ist unrealistisch. Das kann man nicht. Ich glaube, wir müssen mehr dorthin kommen, dass wir mehr zwischenevaluieren, uns fragen, wenn wir Veränderungen auf den Weg bringen, inwieweit hat das tatsächliche Effekte, um dann auch bessere Anhaltspunkte für Interpretation dieser Daten zu haben, des Bildungsmonitorings, aber das haben wir im Moment noch nicht."
Neben der Analyse des eigenen Bildungssystems richtet sich der Blick nun vor allem auf Länder, die offensichtlich eine gute Bildungspolitik machen:
Eisenmann: "Wenn Sie sich, und das machen wir jetzt natürlich auch, andere Bundesländer anschauen, es gibt ja in den Vergleichsstudien Bundesländer, die sich seit Jahrzehnten ganz stabil oben halten, wie Bayern und dann auch seit 26 Jahren Sachsen. Und dann gibt es Bundesländer wie Hamburg und Schleswig-Holstein, die sich in den letzten Jahren immens weiterentwickelt haben in der Qualitätsfrage. Die haben, was Qualität und Bildungscontrolling angeht, hört sich im Bildungsbereich immer ganz schlimm an, es geht schlicht und einfach darum, dass man Parameter hat, die wissenschaftliche Grundlage sind, wo wir nachher den Schulen helfen können, um zu sagen, was ist eigentlich das Problem."
Vereinfachst ausgedrückt bestimmt beim Bildungscontrolling jede Schule allein, wie ein selbstgestecktes Ziel erreicht werden soll. Entweder prüft dabei die Schule selbst, ob das angepeilte Ziel erreicht wird, oder eine Schulbehörde übernimmt das Controlling.
Dabei geht es auch um die Zahl der eingesetzten Lehrer. Wie in der Wirtschaft wäre eine Schule im Idealfall auch alleine für das Finanzmanagement zuständig.
"Das angekündigte strategische Bildungscontrolling, ist ein sehr sperriger Begriff, klingt sehr technisch, meint aber etwas sehr wichtiges, muss kommen, um überhaupt erst einmal eine Datengrundlage zu bekommen und zu wissen, wo wird gute Arbeit gemacht, wo wird vielleicht nicht so gute Arbeit gemacht. Wo wird der eingesetzte Steuergroschen effektiv und effizient verwendet, und wo haben wir noch Luft nach oben."
... fordert Stefan Küpper von den Arbeitgebern Baden-Württemberg. Küpper ist Geschäftsführer im Bereich Bildung und Arbeitsmarkt und zuständig für das Netzwerk SCHULEWIRTSCHAFT. Die Arbeitgeber fordern schon länger eine selbstständige Schule. Jeder Schulleiter ist für die strategische Entwicklung seiner Schule selbst verantwortlich ebenso für die Personalauswahl und –entwicklung.
Raus aus der Beliebigkeit
"Wir müssen raus aus der Beliebigkeit, die wir offensichtlich in zu vielen Fällen noch vorfinden."
Im wirtschaftsstarken Baden-Württemberg haben die Arbeitgeber traditionell eine gewichtige Stimme. Das gilt erst Recht seit die CDU wieder mit auf der Regierungsbank sitzt. Schon seit einigen Jahren klagen Betriebe über Auszubildende, die nicht richtig schreiben und rechnen können:
"Natürlich kennen wir die Rückmeldungen aus unseren Betrieben, die sich über das Niveau von Schulabsolventen äußern und deutlich machen, dass eben oftmals nicht die notwendige Ausbildungsreife vorliegt."
Das Land dürfe jetzt keine Zeit mehr mit Strukturdebatten verschwenden, appellieren deshalb die Arbeitgeber im Land.
Hintergrund ist dabei die Diskussion um die 2012 von der damals regierenden grün-roten Landesregierung eingeführten sogenannten Gemeinschaftsschule - einer Kombination aus Haupt- und Realschule oder Werkrealschule ab Klasse 5. An Werkrealschulen können Schüler entweder den Hauptschulabschluss oder die Mittlere Reife in der 10. Klasse machen.
Noch im Landtagswahlkampf lehnte die CDU die Gemeinschaftsschule strikt ab. Heute ist eine Christdemokratin als Ministerin für die Weiterentwicklung dieser Schulform zuständig. Die Verunsicherung in den mittlerweile über 300 Gemeinschaftsschulen im Land ist groß. Wird die Schulart bestehen bleiben? Welche Veränderungen warten noch? Das fragen sich viele Lehrkräfte.
In den Koalitionsverhandlungen einigte sich Grün-Schwarz auf den Fortbestand der Gemeinschaftsschulen. Erfüllen sie bestimmte Voraussetzungen, können sogar einige Schulen eine zum Abitur führende Stufe einführen.
Doch die CDU setzte sich auch mit eine Forderung durch, wonach künftig Realschulen wieder gestärkt werden sollen. Die Folge: Mehrere ähnliche Schulsysteme laufen nun nebeneinander her.
"Wir haben die klassischen Schularten Gymnasium, Realschule, Werkrealschule, die Gemeinschaftsschule kam hinzu, dann gibt es auch noch eine Aufbauform ab Klasse acht an den beruflichen Gymnasien."
Wo die Reise hingeht, ist unklar
Wo die Reise im Bildungssystem jetzt hingehe, sei nicht klar zu erkennen, sagt der Tübinger Erziehungswissenschaften Thorsten Bohl:
"Das heißt mit etwa 370 Gymnasien, mit 420 Realschulen und mehr als 300 Gemeinschaftsschulen, das ist ja eine ungute Dreigliedrigkeit, weil wir die Konkurrenz drin haben, die wir bei der alten Dreigliedrigkeit nicht drin hatten. Baden-Württemberg befindet sich mitten in einem Transformationsprozess, der noch nicht abgeschlossen ist, und wir müssen schauen, dass wir diesen zu Ende führen, um dann in eine gute Stabilität reinzukommen."
Der geplante Systemwechsel, hin zu einer Zweigliedrigkeit in Baden- Württemberg, hätte das Gymnasium und Gemeinschaftsschule nebeneinander bedeutet, ist mit der Abwahl der SPD im Land gebremst worden. Mit der von der CDU gewollten Stärkung der Realschule sind nun zwei Schularten im Angebot, die Hauptschüler aufnehmen. Bohl spricht von konkurrierenden Systemen:
"Die Konkurrenzlage entsteht nun dadurch, dass beide Schularten nicht nur festgelegt werden wollen auf Hauptschülerinnen und Hauptschüler, sondern vor allem aus sind auf leistungsstärkere Schülerinnen und Schüler, die mit mindestens eine mittlere Bildungsaspiration haben und darüber entsteht nun die Konkurrenz."
Nicht wenige Lehrer sprechen deshalb mittlerweile von einem Bildungschaos in Baden-Württemberg. Alle eint der Wunsch: Es möge schnellstmögliche Ruhe und Klarheit kommen.
Alexandra Sigmund, 39 Jahre alt, ist Lehrerin an der Gemeinschaftsschule in Limbach im Neckar-Odenwaldkreis. Seit 15 Jahren unterrichtet sie Deutsch, Geschichte und Religion.
Sie führt durch ein Schulgebäude aus den späten 1970er Jahren.
"Es war früher eine Haupt- und Werkrealschule. Wir haben hier grob zweihundert Schüler aus verschiedenen Ortschaften, fünf Gemeinden, die wir abdecken."
Vor zwei Jahren setzte sich die ihre Schule mit einem eigenen Konzept gegen eine Hauptschule in der Nachbargemeinde durch. "Das war nicht schön", erinnert sich Alexandra Sigmund.
Die Lehrerin bestätigt die Einschätzung des Tübinger Wissenschaftlers Bohl, wonach Schulen jetzt in Konkurrenz stehen. Schüler und Eltern sind häufig mit der Wahl überfordert.
Martina Meixner, Schulleiterin an der Limbacher Gemeinschaftsschule, wünscht sich vor allem von der Politik, der Streit unter den Schularten dürfe nicht weiter geschürt werden:
"Es gibt inzwischen sehr große Vorbehalte zwischen Gemeinschaftsschulleuten und Realschulleuten, Gymnasialen, das ist alles nicht so einfach. Was es so in meinen Augen nicht gab, zumindest nicht zwischen den Haupt- und Realschulen. Ich denke, man kann für die vielen verschiedenen Kinder und Familien durchaus unterschiedliche Schularten nebeneinanderlaufen lassen, ohne dass die in einen Konkurrenzkampf verfallen müssen."
Die Schulen konkurrieren miteinander
Auch wenn Landespolitik und Wirtschaft keine Strukturdebatten mehr führen wollen, Erziehungswissenschaftler Bohl ist überzeugt, die Politik müsse sich erklären, wohin die Reise gehen soll, um Ruhe in das System zu bekommen.
Etwa 500 Schulen gebe es in Baden-Württemberg, die maximal zweizügig sind, also höchstens aus zwei Klassen pro Altersstufe bestehen. Das sei recht wackelig und erfordere von den jeweiligen Schulen viel Werbung um Schüler:
"Also zu Schuljahresbeginn bei einer Zweizügigkeit sitzt der Schulleiter da und muss schon ganz schön bangen, dass er jetzt seine Zweizügigkeit wieder zustande kriegt und kämpft natürlich um jeden Schüler. Und in so einer Situation ist natürlich diese Unklarheit und diese Schnittmengenkonkurrenz zwischen Realschulen und Gemeinschaftsschulen ungut."
Viele Ressourcen gingen zurzeit in Baden-Württemberg auf diesem Weg verloren.
"Viele Emotionen werden investiert und die Schulen tendieren natürlich dazu, sehr viel Werbung zu machen. Die Energie verlagert sich nach außen, in die Darstellung, statt nach innen, in die Qualitätsentwicklung."
Das kann Lehrerin Alexandra Sigmund nur bestätigen. Sie forderte jüngst bei einer Podiumsdiskussion die Kultusministerin dazu auf, endlich einen erkennbaren Weg für die Schulen aufzuzeigen. Nebeneinander könnten die verschiedenen Schularten auf Dauer in Baden-Württemberg nicht bestehen.
"Der Unterricht, das Wichtigste eigentlich, bleibt auf der Strecke. Wir sind aller der Meinung, dass wir angestrengt sind von diesem Außenherum, weil eigentlich würden wir gerne unseren Fokus auf den Unterricht legen. Aber durch dieses ständige das müssen wir machen, dieses müssen wir machen …"
Schulleiterin Martina Meixner wünscht sich auch mehr Lehrerstellen. Bis heute habe sie keinen Stellvertreter und müsse noch wöchentlich 15 Schulstunden unterrichten.
"Die Politik könnte uns alle Schulen gemeinsam alle besser ausstatten. Wenn ich mich mit Realschul-, Gymnasial-, Grundschulkollegen unterhalte, Förderschulkollegen unterhalte - vollkommen egal -, die haben alle große Probleme, Krankheitswellen zu überstehen. Viele Schulen sind unterbesetzt, manche können den Pflichtbereich kaum abdecken. Stundenzuweisung für die Dinge, die wichtig sind, meiner Meinung nach."
Den Ausfall von Pflichtunterricht an vielen Schulen Baden-Württembergs bestätigt auch Doro Moritz, Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, GEW, auch sie fordert mehr Lehrerstellen:
"Das liegt nicht nur an den vielen Schwangeren und krankheitsbedingten Fällen. Das liegt vor allem daran, dass die Schulen zusätzliche Aufgaben haben, ich nenne jetzt den Ganztag, ich nenne die Inklusion, die Informatik und dafür gibt es nicht im entsprechenden Umfang zusätzliche Lehrerstellen."
Doch genau über die von Doro Moritz genannten Bereiche hatte sich CDU Kultusministerin Susanne Eisenmann im vergangenen Herbst einen heftigen Streit mit dem grünen Koalitionspartner geliefert.
Streit in der Koalition um mehr Lehrer
Die Ministerin forderte mehr Lehrerstellen und drohte dem grünen Koalitionspartner, das gemeinsame Lernen von behinderten und nicht behinderten Schülern - die Inklusion - auf Eis zu legen. Ebenso drohte sie damit den Ausbau der Ganztagsschulen und der Informatikunterricht ab der siebten Klasse zu stoppen, weil es nicht genügend Stelle gebe.
Ein wochenlanger Streit zwischen den grün-schwarzen Regierungspartnern war die Folge, der durch ein Machtwort des grünen Ministerpräsidenten Kretschmann zumindest ein öffentliches Ende nahm.
Die Lösung ist zum Teil durch eine Verschiebung von Stellen gelungen. Die Hälfte der Lehrerstellen kommt zunächst aus dem Grundschulbereich. GEW-Vorsitzende Moritz spricht von Flickschusterei, außerdem zeige es, dass die Grundschule keinen Stellenwert bei der Landesregierung habe:
"Die Grundschule ist die Schulart, die bei uns wirklich vernachlässigt wird. Wir haben für die Grundschulen keine Stunden, wo Förderkonzepte aufgebaut werden können. Der Entwicklungsbedarf ist klar ersichtlich, und die Grundschulen können nichts machen."
Mehr Fortbildung gerade im Bereich der Grundschulen sei notwendig, betont die GEW-Landesvorsitzende. In Baden-Württemberg fehlten die richtigen Köpfe, die erkennen, was notwendig sei, um gute Schule zu machen, so das Fazit der Gewerkschafterin:
"Da reicht es eben nicht immer zu gucken, das es an der Oberfläche stimmt. Was man jetzt hoffentlich feststellt. Sondern, da braucht es die Erkenntnis, dass eine grundlegende Änderung, ein Aufbau von unten notwendig ist und wir die Grundlagen in der Grundschule legen müssen, damit wir nicht reparieren in den älteren Schuljahren."
Kultusministerin Eisenmann räumt Probleme mit der Grundschule ein. Ende des vergangenen Jahres geriet sie auch in Streit mit den Grundschullehrern, in diesem Fall ging es um das Thema Rechtschreibung.
"Schreiben nach Hören" wird abgeschafft
Die Ministerin bestand darauf, dass künftig auf richtige Rechtschreibung geachtet werden müsse. Das bislang von einigen Grundschulen praktizierte "Schreiben nach Hören" werde im Rahmen des Konzepts "Bildungsplan 2016 - Schulartübergreifender Rechtschreibrahmen" spätestens ab dem kommenden Jahr abgeschafft.
Schritt für Schritt arbeitet sich die Ministerin vor. Doro Moritz von der GEW ist nach bald einem Jahr Regierungszeit ernüchtert, vor allem die Kultusministerin habe die großen Erwartungen bislang nicht erfüllt:
"Ich bin schon enttäuscht, weil ich von Frau Eisenmann noch keine Konzepte raushören konnte, wo es hingehen soll."
Glaubt man der Ministerin, wird mit Hochdruck an verschiedenen Stellen gearbeitet. Das größte Problem dürfte im Moment der Lehrermangel sein.
Einer drohenden Pensionierungswelle in den kommenden Jahren will Eisenmann deshalb vorbeugen. Landesweit will sie Lehrer darum bitten, länger zu arbeiten.
Dem Lehrermangel gerade an ländlichen Grundschulen will die Ministerin bereits in Kürze mit einer veränderten Einstellungspraxis begegnen.
"Wir arbeiten jetzt an einem Konzept, das wir in den nächsten Monaten vorlegen wollen, da geht es um Themen, wie für gewisse Bereiche – bleiben wir bei den Grundschulen – Sport und Musik – Seiteneinsteiger zuzulassen."
Außerdem kündigte Kultusministerin Eisenmann an, die Fortbildung für Lehrer zu ändern. In einer Online-Befragung will man dazu die Lehrer im Land nach ihrer Einschätzung bitten. In einem Zeitungsinterview sagte Eisenmann, die Befragungen seien Teil einer "gründlichen Analyse und Vorbereitung" des Weiterentwicklungsprozesses für die Lehrerfortbildung.
Bei einer Expertenanhörung im baden-württembergischen Landtag erklärte die Anne Sliwka, Professorin für Erziehungswissenschaft an der Heidelberger Universität, was Länder, die bei der internationalen PISA-Studie am besten abgeschnitten haben, im Vergleich zu Deutschland bereits im Bereich der Lehrerausbildung anders machen:
"Singapur, der aktuelle absolute PISA-Spitzenreiter, hat einen sehr selektiven Zugang zum Lehrerberuf. In Singapur ist es sogar so, dass das Lehramtstudium das einzige nicht nur kostenfreie, sondern sogar bezahlte Studium ist. Die angehenden Lehrkräfte von Singapur werden bezahlt schon während des Lehramtsstudiums. Damit versucht man die Besten in den Lehrerberuf hineinzuziehen."
Mit Blick auf die ganze Bildungslandschaft in Deutschland sagte die Heidelberger Erziehungswissenschaftlerin:
Pflicht zur Lehrerfortbildung gefordert
"Wir werden eine Pflicht zur Lehrefortbildung benötigen. Die PISA- Siegerhaben im Schnitt einhundert Stunden verpflichtende Lehrerfortbildung pro Jahr, und das ist nur die außerschulische Lehrerfortbildung. Da haben wir noch nicht, die sehr stark vertretene innerschulische Lehrerfortbildung bei den PISA-Siegern."
Das Hausaufgabenheft der baden-württembergischen Bildungspolitiker ist bis auf die letzten Seiten nach einem wochenlangen Anhörungsmarathon geschrieben. Und die Kultusministerin ist schon dabei, einzelne Aufgaben abzuarbeiten.
So empfahl die Erziehungswissenschaftlerin Anne Sliwka das schleswig-holsteinische Programm zur Leseförderung. Die Kultusministerin lässt derzeit prüfen, ob das Programm "Lesen macht stark" aus dem Norden möglicherweise auch im Südwesten den leseschwachen Schülern helfen könnte.
Bei der nächsten Zeugnisausgabe, sprich der nächsten Studienveröffentlichung, wird Joachim Straub, Vorsitzender des Landesschülerbeirats, nicht mehr dabei sein. Ein Jahr lang vertrat der 18-Jährige die Interessen der rund 1,6 Millionen Schüler im Südwesten. In diesen Tagen macht er sein Abitur. Auch er wurde in den vergangenen Monaten gehört, dabei zog der unerschrockene Sprecher ein nachdenkliches Fazit:
"Mit Erschrecken ist an dieser Stelle festzustellen, dass in manchen Unterrichtsstunden das Unterrichtsziel, dem Schüler als solches, nicht genau klar wird, dass der Schüler die Unterrichtsstruktur als fehlerhaft wahrnimmt. Das muss sie nicht sein. Aber die vielen didaktischen Fähigkeiten, die Lehrerinnen und Lehrer in diesem Land besitzen – ist ein riesiger Job, ist eine Aufgabe, die Sie hier haben - kommen bei den Schülerinnen und Schüler, also beim Abnehmer, beim Empfänger dieser Fähigkeiten einfach nicht an."