Kommentar zu Baerbocks "Diktator"-Aussage

Wir brauchen eine Politik, die Haltung hat und Halt gibt

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock.
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock verteidigte auf CNN ihre Aussage, wonach Xi Jinping ein Diktator sei. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Markus Schreiber
Ein Kommentar von Kristin Shi-Kupfer |
Annalena Baerbock hat ihre Aussage, der chinesische Staatspräsident Xi Jinping sei ein Diktator, verteidigt. Die Außenministerin zeige Haltung, meint Sinologin Kristin Shi-Kupfer: Nur so sei das Eintreten für Werte wie die Menschenwürde glaubwürdig.
Diktator. Ein Wort, das Anstoß erregt. Gerade in diesem Land beziehungsweise von einer Person aus diesem Land. Noch dazu von der Chefdiplomatin der Bundesrepublik. Noch dazu gegenüber dem mächtigsten Mann eines der wichtigsten Handelspartner und gewichtigsten Länder der Welt: Xi Jinping.
Annalena Baerbocks Aussage erregt zu Recht Anstoß, weil sie letztlich sehr radikale Fragen aufwirft. Fragen, die über Diktator- / Diktatur-Definitionen, diplomatische Etikette und nationale Interessen hinausgehen – hinausgehen müssen. Es geht um Fragen der Haltung gegenüber Gegnern der Menschenwürde – und damit der Haltung gegenüber uns selbst.

Sind wir von unseren Werten überzeugt?

Ist dieses Land – damit meine ich vor allem Menschen mit Einfluss, aber auch die deutsche Gesellschaft als Kollektiv – ist also dieses Land von unantastbarer Würde, universellen Rechten und damit verbundenen ideellen Garantien wie einer unabhängigen Rechtsprechung noch überzeugt?
Welchen Wert will unsere Gesellschaft einer solchen Ordnung individuell und kollektiv beimessen?  Welchen Preis sind „wir“ dafür bereit, zu zahlen? Und: Wie kommunizieren wir das gegenüber Menschen in China und bei uns.
Nun mag jemand direkt einhaken: Bitte nicht diese moralisierende, herabschauende Haltung. Wir mit unser Vergangenheit sollten uns da schön zurückhalten.
Als ich einem guten chinesischen Freund von dieser Sicht erzählte, entgegnete er: „Wir brauchen langsam einen Churchill. Wenn nicht ihr, die ihr wissen solltet, was es heißt, gleichgeschaltet zu werden und befreit zu sein, wer denn dann?“ Er versucht aktuell, illegal sein Land zu verlassen. Legal ausreisen darf er nicht mehr. Sein Land zu verlassen, hat er bis zuletzt abgelehnt. Aber er sieht keine Zukunft mehr für sich und seine Kinder.

Werden Menschenrechte der Habgier geopfert?

Ok, das ist einer unter vielen, die meisten Chinesen sind offensichtlich doch zufrieden mit ihrem System, mag ein anderer nun einwenden. Ob und wie man das wissen kann, ist die eine Frage. Ob Stillhalten und Mitlaufen als Zufriedenheit gewertet werden kann, ist eine andere. Eine dritte Frage ist: Messen wir hier einer Idee, einem Prinzip Wert bei – auch wenn es in totalitären Systemen immer nur von wenigen sichtbar vertreten wird? Oder messen wir vor allem in Quantitäten? 
Womit wir bei der Frage des Preises sind. Ein wichtiger Einwand an dieser Stelle ist: „Dass eine gut situierte Universitätsprofessorin keinen Preis fürchtet, ist ja klar. Schön für sie. Aber für Facharbeiterinnen in der Automobilbranche und für Mittelständler im Maschinenbau hängt wohlmöglich ihre ganze Existenz an guten Beziehungen mit China.“
Man könnte entgegnen, dass autonome Gewerkschaften und Industrieverbände für die Existenz der Genannten ebenfalls nicht unwichtig sind. Man könnte auch entgegen, dass Abhängigkeiten von China teilweise auch der Habgier und der Bequemlichkeit derjenigen Menschen zuzuschreiben sind, die solche wirtschaftlichen Einwände formulieren. Aber der Einwand wird dadurch nicht unwichtiger.

Wer mehr hat, muss mehr bezahlen

Menschen in unserer Gesellschaft, die mehr haben, müssen mehr bezahlen und mehr Verantwortung tragen. Nur wenn diese Menschen – ich eingeschlossen – dazu bereit sind und das auch vorleben, bekommen universelle Ideen wie Gerechtigkeit und Freiheit einen Wert und haben nicht nur einen Preis. Denkbare Maßnahmen wären Lohnverzicht für Sozialfonds, Mikrobeteiligungen an Unternehmen, Patenschaften für Familien – hier ist konkret Mut und Kreativität gefragt.  
Nur so können Werte und ihre politische Verankerung auch in anderen Ländern einladend und glaubwürdig kommuniziert werden. Wir brauchen eine Politik, die Haltung hat und Halt gibt in diesen windigen Zeiten. Insofern hat Annalena Baerbock hier einen guten Anstoß gegeben. 

Kristin Shi-Kupfer ist Professorin für Gegenwartsbezogene Sinologie mit Schwerpunkt Digitale Medien an der Universität Trier. Sie ist Senior Associate Fellow am Mercator-Institut für Chinastudien (MERICS) in Berlin und Mitglied im Kuratorium des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zum Wissenschaftsjahr 2024 (Thema Freiheit). Von 2007 bis 2011 war sie als China-Korrespondentin unter anderem für Profil, epd und Zeit Online in Peking tätig. Zuletzt erschien von ihr das Buch Digital China. Überwachungsdiktatur und technologische Avantgarde (Edition Stiftung Mercator, C.H.Beck).

Die Sinologin Kristin Shi-Kupfer.
© Kristin Shi-Kupfer
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