Warum das Bahnnetz in der Region während des Osmanischen Reichs vor gut 100 Jahren teils besser ausgebaut war als heute, erklärt Malte Fuhrmann im Podcast der Weltzeit. Er ist Historiker am Leibniz-Zentrum Moderner Orient in Berlin und leidenschaftlicher Bahnfahrer. Regelmäßig fährt er von Berlin nach Istanbul per Bahn.
Dank Instagram wieder populär
24:32 Minuten
Diese Bahnstrecke ist gerade Kult in der Türkei: Rund 24 Stunden dauert der 1300 Kilometer lange Trip von Ankara Richtung Osten nach Kars. Tickets gibt es oft nur auf dem Schwarzmarkt, weil tausende Bilder auf Instagram die Nachfrage anheizen.
Ein Zug so weit das Auge reicht: 407 Meter "Ostexpress" verteilt auf 15 weiß-rot-blaue Wagons stehen im Bahnhof Ankara auf Gleis 1 bereit zum Einsteigen.
Auf den 1310 Kilometern bis nach Kars kurz vor der armenischen Grenze sind fünf planmäßige Stopps vorgesehen. Doch es werden einige unplanmäßige hinzukommen. Nach und nach beziehen die Fahrgäste ihre Schlafwagenabteile oder den Großraumwagon.
Rund 24 Stunden dauert die Fahrt laut Fahrplan. Da lohnt es sich schon, wenn man es sich im Abteil gemütlich macht, meint Zeynep, die im Zug ihren 41. Geburtstag feiern will. Sie und ihre Begleiterin Hanife haben eine Lichterkette mit Klebestreifen am Fensterrahmen ihres Abteils befestigt. Davor eine "I love you"-Tischdecke und auf den Betten Kissen in Herzform. Auf die Idee, diesen Zug zu nehmen, kam sie durchs Internet.
"Seit zwei Jahren ist diese Zugfahrt auf Instagram sehr populär. Die geposteten Fotos haben uns motiviert, so eine Reise selbst auch zu machen."
Soziale Medien brachten neue, junge Fahrgäste
Auch das Fenster eines Zweibettabteils in Wagen Nummer 7 wird umrahmt von einer bunten Lichterkette. Auf dem kleinen Tisch davor hat ein junges Paar liebevoll ein Buffet hergerichtet. Zwei Gläser Rotwein stehen zum Anstoßen bereit. Den Wein haben die beiden mitgebracht. Alkohol wird im Zug nicht verkauft. Dagegen, ihn im eigenen Abteil zu trinken, hat Schaffner Haydar Yavasoglu nichts einzuwenden. Er fährt seit 25 Jahren auf der Strecke und sagt, es habe sich viel geändert:
"Früher musste man sogar noch nachweisen, dass man verheiratet ist, wenn Mann und Frau sich einen Schlafwagen teilen wollten. Heute ist das nicht mehr so. Jetzt kann jeder machen, was er will."
Viele sahen den "Ostexpress" schon auf dem Abstellgleis, denn wer die Strecke von Ankara nach Kars aus geschäftlichen oder privaten Gründen zurücklegen muss, kommt mit dem Flugzeug viel schneller voran. Aber dann kamen die sozialen Medien ins Spiel und mit ihnen ganz andere Fahrgäste.
So wie der 30-jährige Azad. Er trägt Vollbart, Hipstermütze, aufwändigen Ohrschmuck und dunkelrot lackierte Fingernägel. Azad lebt in Antalya an der türkischen Südküste und ist extra nach Ankara gereist, um in den "Ostexpress" zu steigen. Es gehe ihm nicht darum, nach Kars zu kommen, sondern um das Erlebnis der Zugfahrt:
"Das hat etwas Nostalgisches, finde ich. Einen ganzen Tag lang im Zug mit Freunden, das macht Spaß. Man verbringt Zeit zusammen auf engem Raum. Diese Zugfahrt war mein Traum und ich hatte ihn vor vier Jahren schon verwirklicht. Heute soll der Traum meiner Freundin in Erfüllung gehen, deswegen fahre ich die Strecke mit ihr noch einmal."
An Tickets ist kaum ein Rankommen
Auch Azad und seine Freundin Seyhan aus Düzce in der Nähe Istanbuls haben eine Lichterkette um das Zugfenster geklebt. Strom gibt es aus der Steckdose am kleinen Waschbecken des Abteils. Vor wenigen Tagen hatte Seyhan noch nicht damit gerechnet, die kommende Nacht im Ostexpress zu verbringen. Denn seit der Dogu-Ekspres, wie der Zug auf Türkisch heißt, bei Instagram boomt, ist es nahezu unmöglich an Tickets zu kommen. Als sich die Gelegenheit bot, hat Seyhan sofort zugeschlagen:
"Erst vor zehn Tagen habe ich Tickets ergattern können. Zufällig. Eine Woche lang hab' ich Tag und Nacht im Internet nach Tickets Ausschau gehalten. Aber es war nichts zu machen. Die Reiseunternehmen reservieren alle Tickets. Nur wenn sie am Ende keine Kunden finden, kommen sie in letzter Minute wieder auf den Markt. Dann muss man sofort zugreifen. Genau das hab' ich getan."
118 Lira kostet die Fahrt im zweier Schlafwagen, das sind rund 20 Euro für mehr als 1300 Kilometer. Die Schwarzmarktpreise liegen um ein Vielfaches höher. Doch was soll man tun, wenn man zu einem bestimmten Datum fahren möchte, fragt Hanife im Abteil nebenan:
"Wir haben die Tickets auf dem Schwarzmarkt gekauft, aber nur, weil meine Freundin ihren Geburtstag im Zug feiern wollte. Eigentlich bin ich strikt dagegen, so etwas zu tun. Die verdienen sich eine goldenen Nase damit und solange wir mitmachen, wird das so bleiben. Das darf eigentlich nicht sein. Aber ich wollte meiner Freundin nicht die Freude verderben."
Schaffner Haydar Yavasoglu braucht natürlich kein Ticket wenn er mit dem Ost-Express fahren will. Aber seine Familie konnte er noch nicht mitnehmen:
"Gerne würde ich sie mitnehmen. Meine Tochter ist ganz scharf drauf. Sie sucht seit drei Monaten Tickets. Alles ausgebucht."
Neue Freundschaften, tanzen, singen
Fast eine Stunde rollt der Zug mit quietschenden Bremsen durch die Vororte Ankaras, bis die Dunkelheit gnädig ihren Mantel über baufällige Wohnhäuser und Industriebrachen deckt.
Das Nachtleben im Zug kennt enge Grenzen. Normalerweise darf man keine anderen Wagons betreten als den eigenen – außer man will zum Speisewagen, sagt Schaffner Haydar Yavasoglu, der auch schon mal ein Auge zudrückt:
"Bevor dieser Zug zur Touristenattraktion wurde konnte man die Fahrgäste an einer Hand abzählen. Der Trend ist gut, jetzt verdienen die Eisenbahn und die Stadt Kars am Tourismus. Es entstehen neue Freundschaften, es wird getanzt und gesungen. Die Fahrgäste haben ihren Spass und wir auch. Alle sind glücklich."
Für Metin Sezer kommt heute Nacht weder Party noch Schlaf in Frage. Er ist Makinist, zu Deutsch Lokführer.
"In Gedanken versinken... nee, das ist nicht drin. Wir müssen auf die Gleise achten, müssen aufpassen. Sicherheit geht vor. Die Sicherheit der Fahrgäste hat absolute Priorität."
Der 47-Jährige liebt seinen Job und kennt die Strecke wie seine Westentasche. Gerade hat die 3300-PS-Starke Diesellok Verschnaufpause, denn es geht bergab. Metin Sezer muss dann nur bremsen. Das Tempo hält er meist zwischen 60 und 80 Kilometern pro Stunde.
"Auf manchen Strecken beschleunigen wir aber auch auf 90 bis 110 Km/h. Das kommt ganz auf die Strecke und die Topographie an. Wir bewegen uns auf Güllubag zu, nicht wahr. Hier, schauen Sie auf den Plan: Da steht 65. Wie schnell fahren wir gerade? 65! Und wie gesagt, es kommt auf die Gegend an. Hier ist die Gefahr von Geröll auf den Schienen grösser."
Wie schnell er fahren darf, steht auf einen Streckenplan, auf dem jeder Abschnitt verzeichnet ist. Schon allein, weil er ständig darauf schauen muss, werde er nicht müde, sagt der Lokführer. Nachts und am Wochenende zu arbeiten, das sei nicht das Problem. Auch seine Familie habe sich daran gewöhnt.
"Manchmal können wir an Feiertagen nicht zu Hause sein. Andere feiern mit Familie und du sitzt in der Lok und musst arbeiten. Das ist nicht immer einfach. Zwar wechseln wir uns ab, aber das Problem besteht trotzdem. Was soll man machen. Der Zug muss rollen."
Egal, ob Alltag oder Feiertag - Fehler können sich Sezer und seine Kollegen nicht leisten:
"Es hat schon Unfälle gegeben, das lässt sich kaum vermeiden. Ich habe mal ein Auto gerammt. Vor drei vier Monaten hat sich ein Hirte plötzlich auf die Schienen geworfen... Selbstmord. Kommt vor. Da kann man auch kaum was machen, das geht sehr schnell. Das belastet uns psychisch schon. Es tut weh. Man wünscht sich, es würde nicht passieren. Aber es kommt vor."
Nächster Halt: Cag-Kebab in Erzurum
Gerade kommt ein Funkspruch aus Erzincan, der nächsten Station. Dort wird Metin Sezer abgelöst und ein neuer Lokführer übernimmt den "Ostexpress". Der Bahnhof, sowie weitere Teil der Strecke wurden in der Spätphase des Osmanischen Reichs von deutschen Ingenieuren gebaut, was man dem Erzincaner Bahnhof im Wilhelminischen Stil auch heute noch ansieht. Während Makinist Sezer aussteigt und sich über seinen frühen Feierabend freut, sind hinten in Wagen Nummer acht die Freundinnen Zeynep und Hanife putzmunter, auch wenn Zeynep nicht besonders viel geschlafen hat:
"Weil es gerüttelt und geschüttelt hat, aber ich bin trotzdem zufrieden. Ich bin um eine Erfahrung reicher."
Am Morgen zeigt sich Anatolien leicht verschneit. Der Zug fährt durch beeindruckende Gebirgslandschaften, Canyons, zahlreiche Tunnel und schlängelt sich lange Zeit direkt am Ufer des Euphrat entlang. Auch Azad und Seyhan sind wach und schauen mit kleinen Augen aus dem Fenster. Seyhan sagt, sie habe kaum geschlafen:
"Es war laut und hat gewackelt. Der Zug ist in der Nacht schneller gefahren, das habe ich bemerkt. Sehr schnell sogar, doppelt so schnell wie jetzt gerade. Es hat so gewackelt, dass ich zwischendrin Angst hatte, dass der Zug entgleist."
Den Schlaf kann Seyhan noch nachholen. Die Fahrt bis zum Ziel in Kars wird noch den ganzen Tag dauern. Neben den planmäßigen Stopps an großen Bahnhöfen kommen auch mehrere Halts auf freier Strecke oder an kleinen Stationen hinzu. Mal um Fahrgäste außer der Reihe ein- oder aussteigen zu lassen, mal um auf einen entgegenkommenden Zug zu warten. Verpflegung gibt es zwischendurch im Speisewagen. Das Angebot kann die meisten Mitfahrer aber nicht überzeugen. Gut, dass der Zug bald in Erzurum ist. Die Stadt kündigt sich an, indem die Schaffner von Abteil zu Abteil laufen und Bestellungen aufnehmen. Für Cag-Kebab, am horizontalen Drehspieß gegrilltes Lammfleisch, eingewickelt in Fladenbrot. Die Spezialität von Erzurum:
So gestärkt lassen sich auch die dreieinhalb Stunden Verspätung bis Kars noch überstehen. Dort ist es am Abend bitterkalt. Draußen auf dem Bahnsteig knirscht das Eis unter den Schuhsohlen.
Per Schlitten über den größten Süßwassersee der Türkei
Auf dem Weg zum Hotel mutet Kars beim Blick aus dem Taxifenster wenig Türkisch an. Kein Wunder, denn sie alte Garnisonstadt gehörte in Folge der russisch-türkischen Krieg ab 1828 bis zum Ende des ersten Weltkriegs zu Russland. Noch heute zeugen davon zahlreiche Gebäude im russischen Stil, meist zweistöckig mit Fassanden aus dunklen Steinquardern. Auch die Zitadelle, die Kars seit 1152 überragt, ist aus diesem dunklen Basalt gebaut. Sie verleiht der 76.000 Einwohner Stadt etwas Bedrückendes.
Eine Autostunde von Kars entfernt liegt im Dreiländereck Türkei, Armenien, Georgien der Cildir-See. Auf rund 2000 Metern Höhe gelegen friert der größte Süßwassersee der Türkei jeden Winter zu. Neu ist der Boom, den der Cildir-See erlebt. Das habe mit zwei Dingen zu tun: dem "Ostexpress" und den sozialen Medien, sagt Tekin Akcay:
"Die Leute kommen erst nach Kars und dann hier her. Pro Tag bis zu 400 Touristen. Seit 16 Jahren bin ich in diesem Gewerbe, aber die ersten elf, zwölf Jahre habe ich damit so gut wie nichts verdient. Erst seit drei bis vier Jahren verdiene ich einigermaßen gut - Dank dem Internet... dank Instagram, Facebook und natürlich auch dem Fernsehen. Richtig berühmt geworden bin ich."
Das Gesicht des 56-Jährigen ist vom eisigen Wind gegerbt und von der Sonne, die der Schnee reflektiert, tief gebräunt. Tekin ist Gründer der Schlittenkooperative Cildir-See. Sechs Holzschlitten und zwölf Pferde stehen bereit, um Touristen über den zugefrorenen See zu kutschieren. Während die Schlitten recht einfach gehalten sind, wurden die Pferde mit allerlei bunten Bändern, Perlen und Glöckchen dekoriert. Für 20 Lira, also umgerechnet etwa 3,50 Euro geht es im lockeren Trab aufs Eis.
Wendepunkt ist eine türkische Flagge, die im Eis steckt und mit ihrem kräftigen Rot der weißen Winterlandschaft einen Farbklecks aufdrückt. Sieben Monate liege das Gebiet hier unter einer Schneedecke, erzählt Kutscher Tekin.
"Außerhalb der Saison verdienen wir nichts. Zehn Monate lang pflegen und versorgen wir die Pferde. Zwei Monate arbeiten wir im Tourismus, zehn Monate lang sind wir Bauern. Wir arbeiten vor allem in der Viehzucht. Das ist ein karges Land, was also soll hier schon wachsen? Gar nichts - ein wenig Gerste und Weizen."
Rund 12.000 Lira bringen die beiden Monate, in denen Touristen zum Schlittenfahren hierherkommen, also etwa 2000 Euro. Ein willkommener und wichtiger Nebenverdienst in der bitterarmen Region im türkischen Nordosten.
Tekin singt ein Lied. Es ist ein melancholisches Lied und handelt von den jungen Leuten, die die Region verlassen haben, weil es an Jobs und einer Zukunftsperspektive fehlt. So richtig viel ändert auch der Tourismus daran bisher nicht. Obwohl mit allen Mitteln versucht wird, die Besucher zu beeindrucken. So können die Touristen nach der Schlittenfahrt Eisfischern bei der Arbeit zusehen. Aus einem Loch im zugefrorenen See ziehen sie ein Netz mit Karpfen. Im Vertrauen erzählt Tekin, die Fische seien oft über Tage dieselben. Dass sie längst tot sind, falle niemandem auf. Wohl auch deshalb lassen sich die meisten Besucher nach der Schlittenfahrt die Karpfen im einzigen Restaurant am Ufer schmecken.
Fotos posten und wieder kommen
Azad und Seyhan, die beiden jungen Leute aus dem "Ostexpress" sind per Anhalter von Kars zum Cildir-See gekommen.
"Dieses Gefühl der unendlichen Weite... es fühlt sich nach Freiheit an. Das ist schon eine Erfahrung der ganz besonderen Art. Wir sind mit dem Pferdeschlitten gefahren und haben eine Runde gedreht. Das hat richtig Spass gemacht, vor allem als die Pferde galoppierten. Was mir nicht so gefallen hat, war der Müll rund ums Restaurant. Die Menschen respektieren die Natur nicht."
Die Zeit, bis der Karpfen aufgetischt wird, nutzt Leyla Cayoglu für ein kleines Tänzchen mit Blick auf den zugefrorenen See. Die Istanbulerin sagt, zunächst habe sie etwas Angst gehabt, die Eisfläche zu betreten. Dann sei es aber sehr schön gewesen.
"Den Çıldır-See kann ich allen Menschen nur empfehlen. Die Luft hier, die ganze Atmosphäre, einfach traumhaft. Wie ein heiliger Ort. Alles in allem - es hat sich gelohnt. Auch ich möchte wiederkommen."
Doch als erstes werden auch sie ihre Fotos in sozialen Netzwerken posten und somit zum kleinen Touristenboom im türkischen Osten beitragen.