Der letzte Nachtzug nach Paris
Schlafwagen, Zufallsbekanntschaften und malerische Sonnenaufgänge vor Paris. Mit der Reiseromantik im Nachtzug Berlin-Paris ist nun aber Schluss. Nach 50 Jahren wird der Betrieb eingestellt. Unser Autor Moritz Metz hat sich zuvor noch einmal unter die Reisenden gemischt.
Frau: "Na, Paris ist erstmal nicht Deutschland, hat immer etwas von Wegfahren und Urlaub, und hat einfach so ein Flair. Es hat was Kulturelles, es hat den Eiffelturm, es hat die Cafés, das französische Leben - und das ist schon ganz anders als in Deutschland, ja."
Es gibt sie noch, die Anziehungskraft der französischen Hauptstadt. Auch am unterirdischen Bahnsteig 6 des Berliner Hauptbahnhofs. Ein Ort des Fernwehs, gerade im Pendler-Alltag.
Frau: "Ich fahr stattdessen nach Prenzlau, das fängt zwar auch mit P an (lacht) aber ist nicht Paris."
Gegen 20 Uhr soll hier der Citynightline 450 einfahren, mit 5 Minuten Verspätung. Ein paar Dutzend Menschen warten in der Kälte, geordnet nach Wagenstandsanzeige.
Durchsage: "Platform 6. Now arriving: CNL450 to Paris Est. Departure 20:06. Caution, the Train is arriving."
Da ist es, unser Schienenhotel. Eine rote Lokomotive, fünf silberne Wagons mit roten Streifen, mit 120 Metern so lang wie vier Mittelstrecken-Flugzeuge. Doch das Gerüst der Wagen stammt noch aus den 60ern. Deren Dach ist verblichen. Weniger durch Waschanlagen, als von den vielen Kilometern durch Europa. Auf einigen Wagen steht mehrsprachig geschrieben, dass es sich hier um Schlafwagen handelt, also jene Luxusklasse mit den Einzelabteilen und Betten. Ich habe im Liegewagen gebucht, ein wenig mehr Komfort als in den Sitzabteilen.
Nur ein paar Dutzend Menschen steigen in den Zug. Junge Leute, ein älteres Ehepaar aus Brasilien, Touristen aus Australien, ein junger Franzose, der jetzt in Waren an der Müritz lebt. Ein Pärchen tauscht Abschiedsküsse, ein anderes Paar hat seinen halben Hausrat mitgebracht. Kaum Stau an den Türen, eher Routine.
Durchsage: "Meine Damen und Herren an Gleis 6. Bitte steigen sie ein. Vorsicht an den Türen und bei der Abfahrt des Zuges."
Während das vertraute Bahnschaffnerenglisch durch den Zug schallt,suche ich Wagen 98, Bett 66. Ein Viererabteil mit eigentlich sechs dieser umklappbaren, blau gepolsterten Liegen, von denen die mittleren aber nur als Ablage dienen. Die Fenster sind noch solche zum Herunterschieben - erfordern aber viel Kraft. Die angebrachten "Rauchverbots-"Aufkleber, die "nicht-aus-dem-Fenster-lehnen" und "auch-keine-Flaschen-hinauswerfen"-Hinweise haben sich abgelöst und kringeln sich zwischen den doppelten Isolierglasscheiben. Kunstwolldecken sowie frische Laken und Kissen liegen bereit - mein Bett ist nur per Leiter erreichbar. Der Schaffner ist ein beleibter, routinierter Berliner und nur zuständig für diesen Wagen.
Schaffner: "So, der rote Griff, Notbremse, nur im Notfall. Dann fangenwa mit der Seite an. Klimaanlage ist zu, die kann man öffnen, damit Frischluft eingeblasen wird, Heizungsregelung ist unterhalb des Fensters, da wo die beiden Thermometer an den Farben sind, hier oben ist Lichtschalter, Nachtlicht, janz aus. Bei der Stellung Nachtlicht gehen auch die Leseleuchten denn, ja."
Ein Kabinennachbar ist schon da - Herr Lübke. In Hannover sollen noch zwei weitere Personen zusteigen, dann sind wir zu viert. Ob man sich ein Frühstück reservieren sollte?
Lübke: "Ich frühstücke hier nie. Ich frühstücke immer erst in Paris."
Herr Lübke ist um die 60 Jahre alt. Er hat diesen Nachtzug schon mindestens sechs Mal genommen.
Lübke: "Immer wieder nach Paris, ja. Also die erste Zeit bin ich nach Paris geflogen, dann bin ich auch mal mit Holiday-Reisen, also mit dem Bus, nach Paris gefahren. Und dann habe ich eine Zeit im normalen Wagen, wo man sitzen kann, bin ich gefahren. Und jetzt nehme ich den Liegewagen, weil das also für mich die bequemste Möglichkeit ist."
Autor: "Und fahren sie jetzt da beruflich nach Paris oder einfach nur aus Nostalgie?"
Lübke: "Einfach nur aus Lust und Laune und ein bisschen was einkaufen. Ich bin Filmfan und für mich ist also Paris immer noch - oder Frankreich überhaupt noch - ein Land, wo man also viele interessante Filme sehen kann und dann kucke ich auch mal, was es da an DVDs gibt, gehe dann durch die Kaufhäuser. Und jetzt ist auch noch Weihnachtsdekoration, da kucke ich mir dann die weihnachtlichen Schaufenster an."
Lübke: "Einfach nur aus Lust und Laune und ein bisschen was einkaufen. Ich bin Filmfan und für mich ist also Paris immer noch - oder Frankreich überhaupt noch - ein Land, wo man also viele interessante Filme sehen kann und dann kucke ich auch mal, was es da an DVDs gibt, gehe dann durch die Kaufhäuser. Und jetzt ist auch noch Weihnachtsdekoration, da kucke ich mir dann die weihnachtlichen Schaufenster an."
Autor: "Wieso nehmen sie nicht das Flugzeug - das wäre ja eigentlich viel schneller?"
Lübke: "Nee, es ist nicht schneller. Dann würde ich ja frühmorgens fliegen und denn vom Flughafen ist es nochmal ne halbe oder Dreiviertelstunde in die City, also bin ich genauso um 10.00 Uhr im Hotel als wenn ich den Nachtzug nehme."
Die Billig-Konkurrenz aus Luft und Straße
13 Stunden und 18 Minuten braucht der Nachtzug fahrplanmäßig. Ein Flugzeug eine Stunde und 45 Minuten. Und wer mehr Zeit als Geld hat, nimmt eben den liberalisierten Fernreisebus. Der braucht auch nur eine gute Stunde länger als der Nachtzug. Dennoch gilt die Billig-Konkurrenz aus Luft und Straße als einer der Hauptgründe der Bahn, viele Nachtzüge einzustellen. 2013 habe man zwölf Millionen Euro verloren, weil die Auslastung der Nachtzüge gesunken sei, besonders im Winter. Ein Betriebsrat, der stattdessen vorrechnete, dass die Passagierzahlen gestiegen seien, wurde von der Bahn prompt abgemahnt.
Doch es sind auch die Hochgeschwindigkeitszüge, die den Nachtzügen Konkurrenz machen. Wer heute Mittag in Berlin den ICE besteigt, kann acht Stunden später in Paris aus dem TGV steigen und noch ein Restaurant besuchen. Die Umsteige-Viertelstunde in Mannheim taugt dabei als Frischluft-Kur zwischen den klimatisierten Kunstwelten der europäischen Neuzeit-Züge. Grenzkontrollen sind dank Schengen nicht mehr vorgesehen. Der Nachtzug wirkt da wie der Urahn dieses Highspeed-Europas. Hat er nicht als erster die endlos vielen Landesgrenzen überschritten, zahllosenden Interrail-Reisenden den Kontinent zugänglich gemacht und die Völkerverständigung gefördert?
Eddie: "Ich heiße Eddie. Ich lebe in Berlin seit August 2013. Und ich finde, dass es schade ist, dass den Zug zwischen Berlin und Paris nicht mehr existiert."
Der freiberufliche Künstler ist um die 30, besucht seine Eltern in Frankreich.
Eddie: "L'arret du train de nuit… Die Einstellung der Nachtzüge führt dazu, dass es auf der Strecke Berlin-Paris, die immerhin die Hauptstädte zweier der wichtigsten Länder Europas verbindet, keine Direktverbindung mehr gibt. Sowohl die SNCF als auch die Deutsche Bahn sind mittlerweile privatisiert, aber der Staat hält jeweils die größten Anteile. Wenn die Regierungen es nicht mehr hinkriegen, diese direkte Verbindung zwischen ihren Hauptstädten aufrechtzuerhalten, spielt der Staat selbst in Firmen, die ihm hauptsächlich gehören, also der Allgemeinheit, leider kaum eine Rolle mehr."
Eddie reist im Abteilwagen, das war am günstigsten.
Eddie: "Les Gens qui sont les plus attristées apart cette situation la, vont etre plus, c'est un certain profile de voyageur… Die Leute, die am meisten von der Zugeinstellung betroffen sind, sind junge Leute, zum Beispiel Studenten, Deutsche, die in Paris studieren, Franzosen, die in Paris leben. Für die wird es schwieriger, entweder den teuren ICE zu bezahlen - oder notgedrungen in einen Billigflieger zu steigen, wo es Einschränkungen beim Gepäck gibt, bei den Sicherheitskontrollen. Das wird die jungen Leute schwer erwischen."
Protest für den Erhalt des Nachtzuges
Laure: "Ichbin Laure und ich fahre nach Paris, ich komme aus Paris und ich wohne jetzt in Berlin, seit fünf Jahren."
Laure ist Künstlerin und eine der Initiatoren der Kampagne der Online-Petition gegen die Einstellung des Berlin-Pariser Nachtzugs - deren Flyer beim Einsteigen im Zug auslagen. Über 7000 Unterstützer/innen haben bisher unterschrieben und manche von ihnen eine Demo organisiert vor der Berliner Bahnzentrale und am Pariser Ostbahnhof. Es gibt eine ganze Pendler-Szene - und gerade die Kunstszene profitiert von dem Nachtzug, sagt Laure.
Laure: "Eigentlich kannst du in Berlin wohnen und leben mit wenig Geld - in der Kunst kriegst du auch kein Geld. Deshalb gibt es viele Leute, die auch in Paris Geld verdienen und in Berlin wohnen. Viele arbeiten mit Galerien, die in Paris sind - aber wohnen in Berlin. Und deshalb ist Nachtzug nicht nur für Touristen, sondern es ist auch für Arbeit."
Das Bordrestaurant und auch das Bistro hat die Bahn vor ein paar Jahren peu a peu aufgelöst.
Laure: "Leider, früher gab es so ein Restaurant, wirklich cool und gemütlich - aber jetzt nicht mehr. Also langsam die haben alle Sachen einfach weggelassen."
Manche Bahnmitarbeiter sagen, die abgeschafften Speisewagen seien Teil einer Taktik der Bahn, die Züge ausbluten zu lassen, denn ohne Speisewagen sinkt automatisch die Attraktivität des Nachtzug-Angebots. Dennoch, findet Laure, gibt es im Zug mehr Völkerverständigung als im Flieger.
Laure: "Im Flugzeug sprichst du nicht viel, du hast eine Stunde, die Leute arbeiten am Computer, hier, die reden, die Leute reden miteinander, immer. Du triffst Leute, die reisen in deine Stadt, du kannst viel erzählen, also helfen. Und das ist mir oft passiert."
In Laures Abteil sitzen drei junge Männer aus einem Land, in dem Nachtzüge ganz normale Verkehrsmittel sind.
Aluk: "So I am Aluk, I live in India but currently I am here on an exchange program for three months in Europe… Ich bin Aluk, ich lebe eigentlich in Indien, aber gerade bin ich drei Monate in Europa für ein Austausch-Programm. Das ist jetzt meine letzte Woche hier und ich bin sehr viel durch Europa gereist mit Zügen und vor allem Nachtzügen. Es gibt da zwei Unterschiede. Zunächst mal sind die europäischen Nachtzüge meistens pünktlich. Naja, und wir haben in Indien wirklich jede Menge Nachtzüge, in Europa gibt es nur noch wenige, weil die Leute damit anscheinend nicht reisen wollen - das sind die beiden Hauptunterschiede."
Besonders gefallen hat Aluk eine Nachtzugreise von Paris nach München:
Aluk: "It was the time of Oktoberfest… Das war während dem Oktoberfest. Die Stimmung im Zug war bestens, fast überall Party, die ganze Nacht. Normalerweise schlafen die Leute ja im Nachtzug - aber da nicht. Das war super."
Aluk: "It was the time of Oktoberfest… Das war während dem Oktoberfest. Die Stimmung im Zug war bestens, fast überall Party, die ganze Nacht. Normalerweise schlafen die Leute ja im Nachtzug - aber da nicht. Das war super."
Einfahrt in Hannover
Besteht der Nachtzug nur aus Studenten, Künstlern und Touristen? Ich laufe in Richtung der teureren Schlafwagen. Währenddessen rollt der Nachtzug langsam in den Bahnhof von Hannover, hier werden Wagons aus Hamburg dazu gespannt. In einer offenen Tür benutzt ein Bahnarbeiter sein Funkgerät für Rangierarbeiten. Eine Dame um die 50 steht daneben, mit einer Flasche Schampus.
Autor: "Woher kommen sie, wie heißen sie?"
Anna Becker-Schmidt:"Ich heiße Anna Becker-Schmidt. Ich bin Bildhauerin. Habe eine Bildhauerschule. Und ich habe am 1. Mai meinen Mann verlassen, nach 38 Jahren. Und ich wohne jetzt in Berlin und ich bin frei! Aber ich fahre nach Paris zu einer Beerdigung. Das ist traurig."
Ein weiterer Schlafwagenpassagier gesellt sich dazu - er fotografiert die Rangier- und Interview-Arbeiten. Frau Becker-Schmidt ist noch nicht fertig:
Anna Becker-Schmidt: "Julie Poma, 31. Jahre, ist an Leukämie gestorben. Es ist schrecklich, sie ist genauso alt wie meine älteste Tochter. Ich hab ihr ganzes Leben begleitet. Die Eltern sind stinkreich. Aber es hat ihnen nichts genützt. Die Tochter ist gestorben, das dritte Kind, das erste von drei Kindern. Julie hat Jura studiert. Und weil sie so schwach war, hatte sie dann einen Schokoladenladen in Paris. Aber dieser Schokoladenladen wurde auch wieder geschlossen. Weil sie am 11. Oktober gestorben ist. Ich denke an sie. Und ich werde an ihr Grab gehen und ihr eine Kerze bringen und einen Blumenstrauß. Als Andenken."
Autor: "Wie lange bleiben sie in Paris?"
Anna Becker-Schmidt: "Ich bleibe bis Donnerstagabend."
Autor: "Jetzt stehen sie ja nicht alleine mit mir, sondern wir stehen hier zu mehrt. Jetzt hat sich die Tür wieder geschlossen. Aber da stand gerade ein Bahnmitarbeiter, der hier so rumgefunkt hat."
Die Farbe seiner Kleidung war uns dreien aufgefallen.
Anna Becker-Schmidt: "Ja, Orange-phosphoreszierend mit Arbeitsspuren. Schmieröl."
Autor: "Und was war daran jetzt fotografierenswert?"
Meinhard Gärtner: "Für mich ist jetzt die ganze Fahrt ne einzige Fototour."
Meinhard Gärtner ist um die 50 und war zuletzt vor 20 Jahren in Paris, jetzt hat er nochmal eine Reise gebucht.
Meinhard Gärtner: "Die Idee ist folgende, ich wollte schon seit vielen Jahren mal diese Bahntour Berlin-Paris und retour machen. Und dann habe ich jetzt mit Erschrecken feststellen müssen, dass mit dem Fahrplanwechsel am 12. Dezember diese Strecke eingestellt wird von Berlin nach Paris. Und dann musste ich jetzt beruflich mir eine kleine Nische suchen, dass ich eben diese drei Tage - also abends Abfahrt, einen Tag in Paris und mit dem nächsten Zug wieder zurück nach Berlin - mir noch rausbasteln konnte und das hat jetzt Ende November noch geklappt, das ist eine Überraschung in alle Richtungen, ich habe es niemandem gesagt und eine meiner Aufgaben morgen in den paar Stunden in Paris wird sein, so ein gutes Dutzend Postkarten wegzuschicken, die ganzen Adressen habe ich schon vorgepinselt in meiner Kabine."
Autor: "Wollen sie mir mal ihre Kabine zeigen, wie das aussieht?"
Meinhard Gärtner: "Ja, gerne! Ich hab mich da gemütlich eingerichtet. Ich habe mir also eine Single-Kabine geleistet, damit ich meine Ruhe hab."
Wir laufen den Gang des Schlafwagens entlang. Anders als in den Liege- oder Abteilwagen sind die Abteiltüren hier undurchsichtig - und allesamt verschlossen.
Autor: "Da hat man dann eine Chipkarte?"
Meinhard Gärtner: "Ja genau, das ist wie im Hotel. Und wird jetzt so eingeführt, dann macht es richtig knack und dann kann ich in meine Tür rein und dann soll ich die Karte wieder an mich nehmen. Ja! Kommense rein, das ist jetzt hier mein häusliches Bett."
Liegewagenpritsche und Waschecke
Das kompakte aber hochgebaute Abteil verströmt den pragmatischen Charme eines Hotelketten-Zimmers. 140 Euro hat das "Economy Single-Abteil" nach Paris gekostet, mehr als doppelt so viel wie meine Liegewagenpritsche. Dafür bietet es mehr Ruhe, besten Service sowie eine kleine Waschecke. Auf der immer noch recht schmalen Liege lagert minimalistisches Reisegepäck.
Meinhard Gärtner: "Sie sehen, ich habe einen kleinen Rucksack bei mir und da ist dann noch ein Stativ drin und meine kleine Kamera ist eben vorbereitet."
Meinhard Gärtner ist bestens vorbereitet, aus seinen Aufnahmen will er einen Fotofilm basteln und die Bilder mit Jazzmusik unterlegen. Vorhin hat er einen Radio-Podcast gehört, es ging um Geschwindigkeit.
Meinhard Gärtner: "Und von daher denke ich dass diese Idee, dass wir in einer scheinbar beschleunigten Welt leben, aber eigentlich vor uns selbst weglaufen und in einem Punkt der Leere angekommen sind, dass diese Idee was für sich hat und man, ja, privat und persönlich und individuell dagegen angehen kann, so es möglich ist. Und das tue ich gerade."
Autor: "Es ist also nicht nur ne Reise nach Paris, sondern auch eine Reise zu Ihnen selbst!"
Meinhard Gärtner: "Ja. Es ist eine Reise zu mir selbst, mit mir selbst."
Der Zug gleitet langsam aus Hannover heraus. Immer wenn wir in dieser Nacht eher schleichen statt rasen sollen, wenn wir an stillen Bahnanlagen zwischenhalten, damit uns dann ein Intercity oder sogar Güterzug überholt, dann atmet sie tief, die Entschleunigung. Und der Nachtzug füllt so seine eingeplante Puffer-Stunde - schließlich wollen wir nicht möglichst früh, sondern möglichst passend ankommen. Um halb 9, zur besten Frühstückszeit im Zentrum von Paris.
So wie Meinhard Gärtner morgen die französische Hauptstadt, erkunde ich die neu angekoppelten Kurswagen aus Hamburg. Im ansonsten menschenleeren Liegewagen richtet gerade Gerhard Lehmann sein Bett. Der 74-Jährige ist emeritierter Professor für Kultur- und Literaturwissenschaften an der Süddänischen Universität in Odense.
Lehmann: "Je suis français, j'habite au Danemark et j'ai prise trés regulierement le train… Ich bin Franzose, wohne aber in Dänemark. Den Nachtzug habe ich schon sehr regelmäßig genommen, als er noch Nord-Express hieß. Der ging von Kopenhagen nach Paris und war für mich fast ein wenig mystisch. Ich wohne auf der Insel Fühnen - und von Odense loszufahren und zum Frühstück in Paris anzukommen, das ist sehr schön. Und ich muss sagen, dass der Service in den deutschen Zügen nicht nur sehr korrekt war, sondern auch äußerst angenehm!"
Romantik in Nachtexpress
Der Nord-Express ist ein Legende. Schon 1896 hatte es eine erste Nachtzugverbindung gegeben zwischen St. Petersburg, Odense, Berlin und Paris, im Luxuszug der "Compagnie Internationale des Wagons-Lits", der "Internationalen Schlafwagen-Gesellschaft". Auch nach 1926 florierten der Nord-Express, bestens ausgestattete Eisenbahnwagen mit Dampfloks.
Lehmann: "Je suis profondement desolé, pour moi c'etait une partie de ma jeunesse aussi parce que… Ich bin zutiefst enttäuscht. Der Nachtzug war bereits Teil meiner Jugend, weil ich früher mal in Deutschland lebte und seit über 40 Jahren in Dänemark. Wir haben sehr oft den Zug benutzt, auch mit der ganzen Familie oder für die Arbeit. Da geht wirklich eine Epoche zu Ende - und das ist sehr schade. Der Nachtzug ist eine Ikone, er hat für mich etwas Magisches! Man legt sich abends hin, wacht morgens auf und kann ein Croissant oder Baguette essen mit Butter. Das ist bald vorbei!"
Was wäre Nachtzugnostalgie ohne romantische Geschichten. Gerhard Lehmann hat eine parat.
Lehmann: "Je vous veux raconter une très belle histoire…Ich will Ihnen eine sehr schöne Geschichte erzählen. Ich war im Nachtzug unterwegs mit einer Gruppe junger Leute, die geteilt war. Manche konnten sich den Liegewagen leisten, andere nicht. Gut. Zwischen den beiden Wagen habe ich ein Mädchen getroffen, das ich noch nicht kannte. Sie war Deutsche. Ich habe mich ein wenig verliebt. Und wir haben uns den Abend über unterhalten. Aber dann wurde die Türe verschlossen zwischen dem Liegewagen und den mit den Sitz-Abteilen. Aber ich konnte nicht zurück. Ich bin die ganze Nacht bei ihr geblieben und wir haben uns unterhalten, wie im Traum. Aber die Geschichte ging dann nicht weiter. Sie endet hier."
Autor: "Hatten Sie dann nochmal Kontakt?"
Lehmann: "Jaimais. Non, non. C'etait pas l'idee… Nein, nie. Es ist wie bei allen schönen Geschichten. Die erfüllen sich nicht und sind am Ende traurig."
Lehmann: "Jaimais. Non, non. C'etait pas l'idee… Nein, nie. Es ist wie bei allen schönen Geschichten. Die erfüllen sich nicht und sind am Ende traurig."
Gerhard Lehmann fährt morgen früh weiter zu einem Colloquium in Südfrankreich und geht für diese Durchquerung Europas jetzt ins Bett, wie offensichtlich alle Reisenden. Mitternacht naht, wir rollen gerade durchs niedersächsische Alfeld an der Leine. Wach ist fast nur noch einer – Eberhard Danielski.
Eberhard Danielski: "Es gibt Reisende, die gehen sofort ins Bett. Es gibt Reisende, die sagen wir mal auf Kontaktsuche sind im Zug und wer ist natürlich Ansprechpartner? Das Personal im Zug!"
Der Gruppenleiter ist eine Art Nachtzugschaffner für Nachtzugschaffner. Er betreut die Schaffnerkollegen und Servicekräfte des Zuges. Danielski ist seit über 40 Jahren Nachtzugschaffner und ist nicht nur körperlich ein Gigant seines Geschäfts. Der Job hat sogar seinen Laufstil verändert.
Eberhard Danielski: "Es kennt ja jeder, der Zug schaukelt. Also läuft man auch dementsprechend in einer gewissen Abwehrhaltung, dass man sagt: Halt mal. So, wenn ich jetzt nach Hause komme und meine Frau mal plötzlich hinter mir läuft, sagt sie: Lauf doch bitte mal gerade! Also man läuft etwas wie eine Ente."
Eberhard Danielski war mit Richard von Weizsäcker per Du und erhielt lebenslangen Dank der Basketball-Nationalmannschaft. Bei einer Teamreise hatte er umgekehrte Getränkekisten in den Flur gestellt, mit Handtüchern darauf. Die 2-Meter-Riesen hätten ihre Beine sonst nicht ausstrecken können. Eigentlich hat mir die Bahn untersagt, das Zugpersonal zu interviewen, vermutlich weil sich auch in der Belegschaft niemand über die Streckenkürzungen zu freuen scheint. Eberhard Danielski erzählt dafür von seiner inneren Uhr.
Eberhard Danielski: "Ich bin in der glücklichen Lage, meinen Schlaf voll zu kontrollieren. Ich kann eine Stunde schlafen, ich kann aber auch sofort umschalten auf acht Stunden Schlafen, fahr seit 1967 ohne Wecker, weil meine innere Uhr so gut funktioniert: Wenn ich eine Stunde Zeit habe, schlafe ich 58 Minuten davon und bin selbst auch wieder munter, auch wenns mal über 15-20 Stunden geht, die Uhr funktioniert - und toi toi toi, die einzige, die immer mit mir schimpft, ist meine Hausärztin."
Eisenbahnmagie und Zugfahrtgeschichten
Denken alle Passagiere an ihren Lebenswandel statt an die Völkerverständigung? Jedenfalls ist im Zug überhaupt nichts mehr los. Ich kann nicht schlafen und sitze unbequem im Gang, bis mir ein Schaffner ungefragt ein leeres Abteil aufsperrt. Draußen fliegt die Skyline von Frankfurt/Main vorbei, als einer der wenigen sichtbaren Wegpunkte der Reise. Sonst ist es um den Nachtzug fast immer dunkel. Das bündelt die Aufmerksamkeit auf das Bordgeschehen. Und vielleicht ist es das temporäre Zusammensein der Menschen in diesem komprimierten, rollenden Innenraum, verbunden mit der Intimität des Schlafens und dem Zauber der Nacht, das den Nachtzug zu einem Gärkessel für besondere Geschichten macht. Ob in Film oder Literatur, überall gilt der Nachtzug als romantisch - und erst recht der nach Paris. Aber wo ist sie hin, die Eisenbahnmagie wenn alle pragmatisch schlafen; in Ermangelung eines Treffpunkts wie dem ausrangierten Speisewagen?
Also Rückzug ins Digitale. Am Laptop lese ich die Antworten meiner Facebook- Freunde, die ich nach ihren besten Nachtzuggeschichten gefragt hatte. Manche erzählen Annekdoten aus polnischen Raucherzügen, von Metallsplittern im Auge, von Wildschweinen auf der Strecke, von Bargeld-Dieben, nächtelangen Istanbulreisen, kroatischen Luxusabteilen, tschechischen Speisewagen oder vom Hellas Express München-Athen 1984. Stella erzählt von gemopster Qualitätsbettwäsche, Christoph von Wodka-Exzessen, meine Tante von Gepäcknetzen als Interrail-Herberge, meine Mutter von Überfallgefahr in Weißrussland. Und Benjamin hat -selbst als Nachtzugschaffner- seine heutige Frau kennengelernt und mittlerweile zwei Kinder. Wie romantisch...
Aber warum spielt sich all die Retroromantik zumeist in Süd- oder Osteuropa ab und spätestens in den 90ern? Wahrscheinlich haben sich die Zeiten geändert. Im modernen Schengen-Westeuropa sind die Grenzen so weit aufgehoben, dass wir uns ihrer Bedeutung gar nicht mehr bewusst werden. Bachelor-Studenten fliegen aus Zeitmangel eher in die Metropolen Europas anstatt die Semesterferien mit Interrail-Abenteuern auszufüllen. Und die Partytouristen des sogenannte Easyjetset wollen die Nächte lieber feiernd in Berliner Clubs verbringen, um dann am Montagvormittag unausgeschlafen in den Billigflieger zu kippen.
Gegen 3.00 Uhr stolpert ein drahtiger Mann durch den Zug. Ich lade ihn ein zu mir ins Abteil. Thomas ist Mitte 40 und kann in seinem vollbesetzten Sitzabteil nicht schlafen. Vielleicht zeigt er sich deshalb so ungerührt vom Ende des Nachtzugs.
Thomas: "Das ist mir eigentlich ziemlich wurscht. Es gibt dann andere Lösungen. Der Nachtzug ist halt billiger, ansonsten würde ich immer das Flugzeug nehmen und das Auto wenn man halt viel Gepäck hat. Also mir ist es wirklich egal."
Bei einem Bier entpuppt sich der gleichgültige Nachtzugpassagier als bereister Geologe, der fast die Hälfte des Jahres in Afrika verbringt. Wir sitzen mehrere Stunden zusammen und Thomas erzählt Geschichten von wilden Tieren, von Korruption und den Vermessungsexpeditionen "im Gelände" - derzeit dem kongolesischen Busch. Dort schläft sein Team meist im Freien auf Plastiktüten und ernährt sich wochenlang von Dosensardinen und Schmelzkäse. Gegen solche Bedingungen ist selbst ein Sitzabteil Komfort pur. Trotzdem sieht Thomas überhaupt keine Romantik im Nachtzug, zumindest nicht in seinem Abteilwagen.
Autor: "Also die Nachtzugromantik, die berührt dich nicht so sehr?"
Thomas: "Nein, ich schlafe lieber, als dass ich mit dem Zug fahre."
Autor: "Na dann ab ins Bett."
Thomas: "Naja, hier ist kein Bett. Hier sind vier andere noch im gleichen Abteil. Sehr romantisch!"
Man muss offensichtlich kein Romantiker sein, um im Nachtzug für ein paar Stunden Freunde zu finden. In Mannheim um halb 4 wird dann der Zugteil von Hamburg nach Zürich abgekoppelt - und der Zug nach Paris um ein paar Wagons aus München ergänzt. Hunderte von Menschen werden schlafenderweise umrangiert. Wir überqueren den Rhein und bekommen in Strasbourg eine neue Lokomotive.
Ein kräftiger französischer Gleisarbeiter klettert zwischen Lok und den ersten Wagen und witzelt dabei mit den umstehenden Kollegen. Ein erstes Gefühl der Ferne stellt sich ein.
Kurzer Schlaf und neuer Morgen in Paris
Dann klettere auch ich ins Bett. Verbrauchte Luft im Viererabteil, Vollbesetzung, in Hannover sind zwei neue Passagiere zugestiegen. Der Schlaf ist tief - aber kurz. Um 8.15 Uhr, dem Moment des Sonnenaufgangs, klingelt der Wecker. Zum ersten Mal auf der ganzen Fahrt beleuchtet Tageslicht die Nachtzugszenerie. Wir sausen gerade durch die erdig-braunen Weinhügel der Champagne. Im Gang versammeln sich die aufgewachten Passagiere und blinzeln in die Nebellandschaft. An den wenigen Steckdosen im Gang des Zuges hängen leergesurfte Handys, Steckdosen sind rar in diesem alten Wagonmodell. Herr Lübke, der Filmliebhaber und Stubenälteste unseres Abteils, steht schlaftrunken im Gang.
Autor: "Na, wie haben Sie geschlafen?"
Lübke: "Gut! Hat zwar ein bisschen gerüttelt, aber ich habe wie immer geschlafen. Ick hab schon längere und weitere Reisen jemacht, und die Reise habe ick ja schon oft jenug gemacht, also ist es nichts besonderes eigentlich."
Auch Laure, die Künstlerin aus Berlin, hatte eine gute Nacht und plaudert mit Geologe Thomas.
Laure: "Ich habe am Anfang nicht geschlafen, ich habe die Leute, die am Anfang haben, gezeichnet. Das war echt super. Und dann habe ich geschlafen."
Die zugestiegenen Unbekannten aus meinem Schlafabteil trinken Kaffee auf dem Bett.
Autor: "Wie ist der Kaffee?"
Geschäftsmann: "Naja, wie er halt so ist bei der Bahn. Ist halt Kaffee. Könnte bisschen kräftiger sein."
Die beiden Männer um die 40 entpuppen sich als Geschäftsreisende aus dem Fachgebiet des Schiffsrecyclings.
Geschäftsmann: "Also wir haben jetzt ein Treffen in Paris, wo wir quasi über Nacht hinfahren, uns zwei Stunden mit jemandem treffen und dann fahren wir gemütlich wieder zurück."
Autor: "Wenn sie Experten sind für Schiffsrecycling, wie würde man denn einen Eisenbahnwagon zerlegen, gibts da gewisse Verwandtschaften?"
Geschäftsmann: "Normalerweise ist es auch eine Stahlstruktur mit entsprechendem Innenleben, was dann rausgenommen werden muss und dann kommt die große Schere. Also ich denke, so ein Wagon mit so einem Equipment ist innerhalb von drei Stunden weg."
Unser 50 Jahre alte Wagon, er kommt nicht unter die große Schere sondern verkehrt wohl künftig in Städte wie Warschau, Venedig oder Zürich. Die bisher eingesetzten Doppelstockwagen sind viel stärker verschlissen und werden verschrottet oder in andere Länder weiterverkauft. Die restlichen Morgenstunden vergehen wie im Zug, also gemächlich. Von zwei Stunden Verspätung konnten wir nicht alles wieder einholen und erreichen Paris gegen halb 11, eine Stunde später als geplant.
Am Pariser Ostbahnhof findet die Entschleunigung ein schnelles, fast banales Ende. Nur manche stecken sich gleich am Bahnsteig die langersehnte Zigarette an und harren noch einen Moment aus oder verabschieden sich von neuen Freunden. Alle anderen Passagiere und Rollkoffer verschluckt die Stadt wie am Fließband. Was bleibt ist ein Geschmack aus einer gemütlichen Vergangenheit.