"Wir sind so ein bisschen das Frankfurter Soho"
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Das Bahnhofsviertel in Frankfurt wird immer schicker. Pfarrer Gunter Volz führt durch eine Gegend, in der Banker neben Junkies, hippe Restaurants neben Obdachlosen-Treffs koexistieren. Eine Schülergruppe lernt auf diese Weise einen Teil Heimat neu kennen.
Gunter Volz führt eine kleine Gruppe von Berufsschülern – drei junge Männer und eine Frau – zu einem Geldautomaten. Ich darf mich der Gruppe anschließen, die an diesem Morgen das Bahnhofsviertel von Frankfurt am Main kennen lernen soll. Der Geldautomat steht an einer Häuserwand an der Ostseite des Bahnhofsvorplatzes.
Gleich daneben hängt eine Gedenktafel, die man leicht übersehen könnte, wenn man nicht von Gunter Volz drauf gestoßen würde. Volz ist Pfarrer evangelischer Pfarrer und Vorsitzender des Fördervereins für das Bahnhofs- und Gutleutviertel in der Mainmetropole. Die Gedenktafel erinnert an Oskar Schindler, der hier nach dem Krieg verarmt gelebt hat.
Schindler und Stauffenberg
Die Schülergruppe hat noch nie von ihm gehört. Gunter Volz bittet ihren Lehrer Matthias Helms, den er persönlich gut kennt, etwas zu Schindler zu sagen: "Matthias, machst du eine Einführung?"
"Soll ich eine Einführung machen?", setzt Helms an. "Also: Oskar Schindler ist ein bekannt gewordener Mann aus dem Dritten Reich, der eigentlich ganz unbeabsichtigt zu einem Retter für viele jüdische Menschen wurde. Er hat nämlich über 1100 Juden gerettet vor der Vernichtung."
Die Schüler geben später auch zu, nichts über Stauffenberg zu wissen, obwohl ihre Berufsschule "Stauffenbergschule" heißt.
Dass sich ganz in der Nähe der ehemaligen Schindler-Wohnung in der heutigen Münchener Straße jahrelang eine Widerstandsgruppe der Frankfurter Polizei getroffen hat, um für den Tag Eins nach dem Stauffenberg-Attentat vom 20. Juli 1944 die Erstürmung der nahegelegenen Gestapo-Zentrale und des Frankfurter Radiosenders vorzubereiten – darüber erzählt auch Gunter Volz an diesem Morgen nichts. Obwohl er sich auch historisch besonders gut im Bahnhofsviertel auskennt:
"Dieser Hauptbahnhof wurde 1888 gebaut. Ihr müsst euch vorstellen, im 19. Jahrhundert war da unten die Altstadt, die wir heute noch ein bisschen sehen, die 'neue Altstadt', habt ihr vielleicht auch schon ein bisschen angeschaut", erklärt Volz. "Hier waren Wiesen, Felder, ein paar Villen zwischendrin von den wohlhabenden Frankfurter Bürgerfamilien. Hier war im Grund Acker, Wiese, Feld. Hier ganz in der Nähe das Galgenfeld – also, die Hinrichtungsstätte von Frankfurt."
Das Viertel hat keinen guten Ruf
Ein bisschen gruselig, so empfinden die Berufsschüler, die in verschiedenen Stadtteilen Frankfurts leben, die Gegend rund um den Hauptbahnhof auch heute noch. Das Bahnhofsviertel hat bei ihnen keinen guten Ruf – vor allem wegen der großen Drogenszene: "Nein, keinen guten Ruf. Was hier passiert: Am Abend ganz viele Sachen, Messerstecherei."
"Dass Frankfurt die größte Drogenstadt ist – kein gutes Viertel hier."
"Man sieht auch, dass viele Leute das Zeug in so kleinen Schlitzen verstecken. Spritzen und so in allen Ecken."
"Mein Vater bringt mich meistens hier her. Ich fahre nie mit der Straßenbahn hier her, weil ich schon ein bisschen Angst habe."
Ins Bahnhofsviertel kommt die Berufsschülerin, deren Name hier ungenannt bleibt, um regelmäßig eine Moschee zu besuchen.
Polizeistrategie: Hingucken statt weggucken
Gunter Volz versucht die Jugendlichen beim Spaziergang durch das Viertel zu beruhigen:
"Gibt es auch gefährliche Menschen hier? Okay, gibt es auch. Aber es gibt auch so viel Polizei, wie nirgendwo sonst in der Stadt muss man auch dazu sagen."
Einer der Jugendlichen nickt zustimmend: "Ich komme dahin, da gibt es viel Polizei, jeden Abend."
"Ja, die Polizei kontrolliert hier sehr rigide. Dass ist die Strategie. Eine große Präsenz. Um zu zeigen: Wir gucken nicht zu, wenn hier Kriminalität stattfindet, sondern wir tun was."
Gegensätze am Anlaufpunkt für Obdachlose
Ein paar Straßen weiter östlich: ein Anlaufpunkt für Obdachlose, betreut von der Diakonie. Hier prallen die sozialen Gegensätze besonders krass aufeinander. Während vor der Tür der Obdachlosen-Sozialstation nachts regelmäßig Menschen auf dem Bürgersteig schlafen, sind gleich nebenan unlängst Gründerzeit-Häuser aufwändig saniert worden.
Wer hier wohnen will, muss viel Geld haben. Und er hat soziales Elend gleich vor dem Balkon. "Das führt manchmal auch zu Auseinandersetzungen und zu Konflikten. Die hatten wir gehäuft", sagt Pfarrer Volz.
Bei Auseinandersetzungen, durch Lärm verursacht, seien in der Nacht auch mal Eier durch die Luft geflogen, so Volz. "Man sieht, hier im Bahnhofsviertel gibt es Reibungsflächen, die gibt es vielleicht in anderen Stadtteilen so nicht."
Ein neues Publikum
Die extremen sozialen Reibungen erlebt auch Eberhardt Bremser jeden Tag von seinem Arbeitsplatz aus. Eberhard Bremser ist Geschäftsführer der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer im Bezirk Hessen-Thüringen-Mittelrhein.
Das Gewerkschaftsbüro liegt nur fünf Minuten Fußweg vom Bahnhof entfernt in der Niddastraße 52. Gleich gegenüber ist ein wichtiger Anlaufpunkt für Drogensüchtige. Ein oft trostloses Bild. Aber auch Eberhard Bremser nimmt die zunehmende Gentrifizierung des Viertels wahr: "Das Publikum ändert sich ein bisschen. Wenn man sich die Sache mal genau betrachtet. Ich meine, es sind ja auch Gaststätten und Restaurantbetriebe hier im Viertel, die höherwertig sind."
In der Tat: Viele Restaurants an der Kaiserstraße oder der Münchener Straße im Viertel sind hip – hier wird hervorragend türkisch oder afghanisch gekocht. Die Banker aus den nahegelegenen Hochhaustürmen kommen in der Mittagspause oder auch nach Feierabend gerne, um die vielfältigen Speisen zu genießen. Auch Bars oder sogar ein Kiosk sind nachts Anlaufpunkte für das hippe Partyvolk der Mainmetropole – auch gerne mal nach einem Theaterbesuch.
330.000 Menschen am Tag im Bahnhof
Doch das Büro der Lokführergewerkschaft erinnert daran, dass der Knotenpunkt des Viertels immer noch der einst größte Bahnhof Europas mit seinen täglich 330.000 Nutzerinnen und Nutzern ist. Bei Lokführerstreiks wird das Gewerkschaftsbüro schnell zum Streiklokal umfunktioniert.
"Hier am Hauptbahnhof trifft alles zusammen, ob das Verkehre vom Norden sind oder Verkehre vom Süden. Oder von West oder Ost. Das trifft hier alles zusammen", sagt Bremser.
"Die Prostitution ist auch eine Realität hier im Bahnhofsviertel", fährt er fort. "Man weiß nicht genau, wie viele Frauen hier arbeiten als sogenannte Sexarbeiterinnen. Man schätzt so um die 1000 ungefähr in 22 Bordellen, größeren und kleineren. Schwerpunktmäßig kommen die Frauen aus Osteuropa, Asien und Südamerika."
Rückzugsraum für obdachlose Frauen
Der Sozialpädagoge Volker Landgraf erklärt ein paar hundert Meter weiter südlich der Gruppe der Stauffenberg-Berufsschule in der Obdachlosen-Einrichtung der Diakonie, warum es wichtig ist, gerade Frauen, die auf der Straße leben, Angebote zu machen, bei denen sie von Männern nicht behelligt werden können:
"Es ist oft so, dass Frauen in der Wohnungslosigkeit Opfer von männlicher Gewalt geworden sind. Deswegen macht es auch Sinn, die räumlich ein bisschen zu trennen. Da fühlen sich viele Frauen einfach auch wohler."
Volker Landgraf möchte uns in der Sozialstation noch einen großen Raum in einer ehemaligen Kirche zeigen, in dem sich bis zu 150 Obdachlose auch tagsüber aufhalten können.
Die sozialen Konflikte aushalten
Weil er einen "Zoo-Effekt" vermeiden will, wie er sagt, führt er die Gruppe recht zügig durch den Aufenthaltsraum in ein etwas abgeschiedene Ecke des Gebäudes: "Mal ganz kurz: Wir haben hier einmal so einen Ruhebereich. Es ist so, wenn man draußen auf der Straße schläft, dann schläft man natürlich auch nicht so gut. Dann haben viele auch noch tagsüber das Bedürfnis, sich mal hinlegen zu können. Deswegen haben wir versucht, das ein bisschen zu separieren.
Hier haben wir eine Computer-Ecke, die wird dann später auch aufgemacht. Da kann man dann an vier Plätzen ins Internet gehen. Bewerbung schreiben, E-Mails lesen und so weiter. Und hier in diesem Raum da ist so eine Leseecke. Es ist relativ leer, wenn es voll ist, wird es auch deutlich lauter und dann kann man sich hier so ein bisschen separieren. Das wird auch ganz gern genutzt.
Volker Landgraf betont: Trotz der zunehmenden Gentrifizierung will die Stadt Frankfurt am Main die Obdachlosen nicht aus dem Bahnhofsviertel verdrängen. Die sozialen Konflikte mit den neuen, wohlhabenden Nachbarn müssen ausgehalten werden, so die Linie der Stadt.
Dennoch führt die Gentrifizierung zu Verdrängung – nämlich derjenigen, die bisher noch eine relativ günstige Wohnung im Bahnhofsviertel hatten: "Dadurch, dass halt immer weniger Wohnraum für den Normalbürger vorhanden ist oder auch Spekulanten sehr unsanft ihre Mieter loswerden wollen, das haben wir zum Beispiel öfters, dadurch landen natürlich schon noch mehr Leute in der Wohnungslosigkeit oder Obdachlosigkeit. Wir reden ja von Obdachlosen tatsächlich nur von denen, die tatsächlich auf der Straße landen. Aber auch die Wohnungslosigkeit nimmt dadurch zu. Leute, die in Einrichtungen oder bei Bekannten unterkommen."
Moschee an der Münchener Straße
Nach dem Besuch in der Obdachlosen-Sozialstation der Diakonie macht die Gruppe Teepause in einer Hinterhofmoschee an der Münchener Straße. Vögel zwitschern, eine kleine Bäckerei im Moscheegebäude ist gut besucht.
Einer der Berufsschüler verrät, dass seine Familie hier oft frisches Brot kaufen geht: "Weil, wenn mein Vater Brot von einer anderen Bäckerei kauft, wird es immer hart. Das kann man nicht morgen essen. Aber dieses kann man bis drei Tagen essen."
Seine Mitschülerin erklärt den Aufbau der Gebetsräume, die sie hier manchmal am Freitag nutzt:
"Da gibt es halt einen zweiten Stock für Frauen und unten nur für Männer. Da betet man und liest den Koran. Man hat auch Pausen und kann dann was essen gehen."
Neuer Eindruck vom angstbesetzten Viertel
Am Ende des Rundgangs ist die Furcht, die einige der Jugendlichen vor dem Bahnhofsviertel hatten, zumindest für den Moment ein wenig verflogen. Vor allem die sanierten Altbau-Fassaden haben es ihnen angetan: "Es gibt schöne Gebäude hier."
Für den Stadtteilpfarrer Gunter Volz ist dieser letzte Eindruck, den die Jugendlichen mitnehmen, ambivalent: "Wir sind so ein bisschen das Frankfurter Soho. In Soho in New York haben wir ja ähnliche Entwicklungen gehabt", sagt der Pfarrer. "Viertel werden plötzlich hip, die Kreativen entdecken sie, dadurch steigen die Mieten. Und angestammte Bewohner müssen hier rausgehen. Das ist die Rückseite der Aufwertung eines Viertels."