Bahnstreik

"Deutschland ist eines der streikärmsten Länder in Europa"

Eine junge Frau wartet am späten Abend vom 06.11.2014 am Bahnhof in Hildesheim (Niedersachsen) auf einen Zug.
Viele Bahnreisende weichen auf andere Verkehrsmittel aus © pa/dpa/Stratenschulte
Wolfgang Däubler im Gespräch mit Nana Brink |
Der Bahnstreik sei zwar lästig, aber in anderen europäischen Ländern sei so etwas Normalität, meint der Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler. Das geplante Tarifeinheitsgesetz hält er für nicht vereinbar mit dem Grundgesetz.
Eine Tarifeinheit per Gesetz sei nicht möglich, sagte Däubler im Deutschlandradio Kultur. Die Verfassung gebe jedem das Recht, Gewerkschaften zu gründen. Diese müsse nicht eine Einheitsgewerkschaft sein, sondern könne auch einzelne Berufsgruppen wie Piloten oder Lokführer vertreten.
Der Notfahrplan macht Zugfahrten weiter möglich
"Deutschland ist eines der streikärmsten Länder in Europa", sagte Däubler. Es werde nur von Österreich und Schweiz übertroffen, wo es noch seltener zu Streiks komme.
"Wir sind im Moment mit Kita-Streik, Piloten, Lokführer in einer Situation, dass wir uns so langsam hinbegeben zur westeuropäischen Normalität."
In Frankreich gebe es schon seit Jahrzehnten die Erfahrung, dass die Züge mal nicht führen. "Auch bei uns wird es häufig schlimmer dargestellt, als es wirklich ist", sagte er. Der Notfahrplan ermögliche auch weiter Zugfahrten.
"Alle Leute denken, es fährt kein Zug und deshalb sind die Züge außerordentlich leer."
Der Streik sei weniger schlimm, als man im ersten Moment denke.

Das Gespräch mit Wolfgang Däubler im Wortlaut:
Nana Brink: Die Lokführer der GDL machen Ernst. Seit gestern ruht der Güterverkehr, jetzt haben die Zugführer auch die Arbeit im Personenverkehr niedergelegt. Es soll ja der längste Streik werden, sechs Tage lang bis Sonntag, und da müssen sich alle Bahnfahrer ja auf massive Verspätungen und Zugausfälle einrichten und auch die Wirtschaft wird mit Schäden in Millionenhöhe rechnen. Dabei geht es nicht nur um konkrete Lohnforderungen bei diesem Streik, die Gewerkschaft der Lokführer streikt auch für mehr Macht. Die GDL kämpft nämlich mit der größeren Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG um Einfluss bei der Bahn. Gestern fand im Bundestag eine Anhörung zum Tarifeinheitsgesetz statt, das will die Bundesregierung und es soll dafür sorgen, dass künftig nur ein Tarifvertrag der größten Gewerkschaft in einem Betrieb gilt. Gestern haben wir mit dem Leiter des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland Gerhard Wegner gesprochen, und er befürchtet, dass eine fehlende Tarifeinheit zu sozialen Verwerfungen führt!
O-Ton Gerhard Wegner: Wir haben einfach die Befürchtung, dass ohne Tarifeinheit die Eigen-Interessen von spezifischen Berufsgruppen die betriebliche Solidarität weiter aushöhlen, konkurrierende Gewerkschaften mit konkurrierenden Tarifverträgen in Betrieben und Branchen zu schweren wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen führen und damit insgesamt das doch bewährte Prinzip der Tarifpartnerschaft in Deutschland infrage gestellt wird.
Brink: Also eindeutig eine Stimme, die der Regierung ja in die Hände spielt, die die Tarifeinheit will. Wolfgang Däubler ist Arbeitsrechtler und gehört zu den Experten, die gestern auch im Bundestag zu dem geplanten Gesetz angehört wurden. Guten Morgen, Herr Däubler!
Wolfgang Däubler: Guten Morgen, Frau Brink!
Brink: Teilen Sie denn die Befürchtung von Gerhard Wegner von der evangelischen Kirche?
Däubler: Nein, ich teile die Befürchtung nicht, weder empirisch, dass es so passiert, noch dass eine Tarifeinheit per Gesetz möglich ist. Wir haben nun mal in unserer Verfassungsordnung den Artikel 9 Absatz 3, und der gibt jedermann und allen Berufen das Recht zur Gründung von Gewerkschaften. Und es muss nicht die Einheitsgewerkschaft sein, so wünschenswert das vielleicht sein muss, sein kann, sondern es können auch einzelne Gruppen wie die Lokführer oder das fahrende Personal bei der Bahn oder es können die Piloten oder andere Gruppen sein. Das ist jedenfalls vom Grundgesetz her gerechtfertigt.
Brink: Nun haben Sie gesagt ganz eingangs Ihrer Antwort, dass das auch empirisch nicht der Fall wäre. Wie kommen Sie dazu?
Däubler: Also, dazu komme ich aufgrund der Tatsache, dass Deutschland eines der Streik-ärmsten Länder in Europa ist. Und wir werden eigentlich nur noch übertroffen von Österreich und der Schweiz, dort kommt es noch seltener vor. Mit der Ausnahme Österreich, die haben vor einigen Jahren mal einen generell befolgten Generalstreik wegen der Rentenreform gemacht. Wenn man den rausrechnet, dann sind in der Tat Österreich und die Schweiz noch Arbeitskampf-zurückhaltender, als wir das sind. Und wir sind im Moment mit Kita-Streik, Piloten, Lokführer in einer Situation, dass wir uns so langsam hinbegeben zur westeuropäischen Normalität. Also, dass mal die Züge nicht fahren, das ist in Frankreich eine jahrzehntelange Erfahrung. Auch bei uns wird es also häufig schlimmer dargestellt, als es wirklich ist. Ich bin im Moment in Kassel, habe den Tag über zu tun und fahre heute Abend nach Tübingen. Ja, natürlich komme ich mit dem Notfahrplan ohne Schwierigkeiten dorthin. Das ist alles im Prinzip geklärt, ich habe mir von Freunden sagen lassen, es sei höchst angenehm, den Notfahrplan zu benutzen, weil nämlich alle Leute denken, es fährt kein Zug, und deshalb sind die Züge dann außerordentlich leer, in denen man also sich fortbewegt während des Streiks. Also, der Streik ist viel weniger schlimm, als man das im ersten Moment denkt.
Brink: Das ist für Sie wahrscheinlich bestimmt ganz angenehm und für viele andere auch, aber die Befürworter des Gesetzes, also des Gesetzes für die Tarifeinheit, die fürchten ja, dass es zu ständigen Streiks kommt. Das haben Sie ja eben auch gerade zugegeben, dass wir uns auf einen Weg dahin bewegen. Muss da der Gesetzgeber nicht im Sinne eines Allgemeinwohls tätig werden, so wie es die Regierung gerade versucht?
Däubler: Ja, also, wenn man davon ausgeht, dass gewissermaßen jeder Streik dem Allgemeinwohl schadet, dann könnte man das schon tun. Aber das ist eben nicht so, sondern der Streik ist für andere Leute zum Teil lästig, ja, das muss man ganz offen sagen, und er bringt natürlich auch der Arbeitgeberseite Verluste. Aber das will das Grundgesetz! Das Grundgesetz will, dass man bestimmte Grundrechte hat, und deren Ausübung kann auch mal für andere Leute lästig sein. Also, wenn Sie eine Demonstration machen, die Sie vorher anmelden, wird der Verkehr umgeleitet. Das kann für bestimmte Leute außerordentlich lästig sein.
Brink: Ach, Sie sagen – pardon, wenn ich Sie da unterbreche –, das Argument der Verhältnismäßigkeit, das zählt nicht im Gegensatz zum Grundgesetz?
Däubler: Also, zunächst einmal hat man Grundrechte. Und wenn nun jemand den Gebrauch von Grundrechten, sagen wir mal, überzieht, dann stellt sich in der Tat die Frage, inwieweit der Staat hier regulierend eingreifen kann. Das stellt sich aber bei allen Grundrechten, nicht nur beim Streikrecht. Und da ist natürlich immer die Frage, wo man die Schwelle zieht. Und da kommt dann mein Vergleich mit anderen westeuropäischen Staaten, das sind alles Demokratien, da ist die Wirtschaft auch nicht untergegangen. Und da sieht man keine Notwendigkeit, jetzt gegen das Streikrecht irgendwie vorzugehen.
Brink: Aber wenn ich Ihr Argument jetzt mal ein bisschen weiterdrehe, dann sagen Sie ja, na ja, dann sollen die von der GDL fröhlich weiterstreiken. Und wohin führt das dann?
Däubler: Das ist in der Tat die Frage, wohin das führt. Der GDL geht es ja darum, dass sie für alle Arten ihrer Mitglieder Tarifverträge abschließen kann. Und das ist ein legitimes Anliegen. Und ich verstehe nicht, warum die Bahn das nicht akzeptiert. Die Bahn sagt ja, ihr könnt schon für die Zugbegleiter auch Tarifverträge schließen, nicht nur für die Lokführer, sondern auch für die Zugbegleiter, die bei euch Mitglied sind. Aber das müssen immer genau die gleichen Tarifverträge sein, die wir mit der EVG abschließen, also der anderen Gewerkschaft! Und dafür gibt es eigentlich keine Notwendigkeit. Wenn eine Gewerkschaft sich besonders engagiert, gut, dann muss man eben da einen Kompromiss machen. Sie haben beispielsweise im Verhältnis Marburger Bund für die Ärzte und der Gewerkschaft ver.di, haben Sie zwei Tarifverträge für Ärzte. Der eine Tarifvertrag ist gewissermaßen zurückhaltender bei der Arbeitszeit, man kann aber letztlich weniger Geld verdienen. Und der andere Tarifvertrag ermöglicht es, relativ lang zu arbeiten, aber dann auch mehr Geld zu verdienen. Dass es zwei solcher Tarifverträge gibt und dass letzten Endes die Beteiligten wählen können, ist, glaube ich, eine ganz sinnvolle Angelegenheit. Und im Falle GDL, ja, ich wäre auch für eine Schlichtung, das ist völlig klar, da muss man irgendwann eine Lösung finden. Beide Seiten stehen sich da unversöhnlich gegenüber, häufig hilft da ein Dritter oder aber es gibt eben eine Seite nach und sagt, okay, ihr habt das Recht, für eure Mitglieder die Tarifverträge zu erstreiken, auf die man sich im Kompromisswege einigt. Und das gleiche Recht behalten wir natürlich, das bestreitet auch niemand, mit der EVG. Wenn die Bahn dann der GDL keinen Vorteil einräumen will, dann kann sie ja mit der EVG genau gleich lautende Tarifverträge schließen!
Brink: Da sind wir mal gespannt, wer von beiden dann nachgeben wird! Wolfgang Däubler, Arbeitsrechtler, herzlichen Dank für das Gespräch bei uns in "Studio 9"!
Däubler: Bitte schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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